Leidenschaft (Lk 22 54-62)

Den Gottesdienst an Laetare zum Nachhören finden Sie für vierzehn Tage hier.

Dietrich Bonhoeffer:

Wir müssen uns immer wieder
sehr lange und sehr ruhig
in das Leben,
Sprechen,
Handeln,
Leiden und Sterben Jesu versenken,
um zu erkennen,
was Gott verheißt
und was er erfüllt.
Gewiss ist,
dass im Leiden unsere Freude,
im Sterben unser Leben verborgen ist;
gewiss ist,
dass wir in dem allen
in einer Gemeinschaft stehen,
die uns trägt.

Und Christus spricht:
Wenn das Weizenkorn nicht in die Erde fällt und erstirbt,
bleibt es allein; wenn es aber erstirbt, bringt es viel Frucht.
Johannes 12,24
***

Leidenschaft.
Leidenschaft ist eine ziemlich zwiespältige Angelegenheit. Sie hat für uns sowohl sehr schöne als auch eher schwierigere Seiten.

Schlägt man im Wörterbuch die Bedeutung von Leidenschaft nach, bekommt man dort zu lesen:

Leidenschaft ist ein „sich in emotionalem, vom Verstand nur schwer zu steuerndem Verhalten äußernder Gemütszustand, aus dem heraus etwas erstrebt, begehrt, ein Ziel verfolgt wird…“
Sie ist eine „große Begeisterung, …(eine) Neigung… für etwas, was man sich immer wieder zu verschaffen, was man zu besitzen sucht, … (dem) man sich mit Hingabe widmet“.

Leidenschaft ist also eine große Emotion.
Sie ergreift das Gefühl UND das Denken und bestimmt in der Folge auch das eigene Wollen.

Wer mich kennt, weiß, dass ich leidenschaftlich gern Motorrad fahre. Wenn die Sonne scheint und das Thermometer mehr als zehn Grad anzeigt, fällt es mir mehr als schwer, den Versuchungen des gut motorisierten Zweirades zu widerstehen.

Dass Leidenschaft auch LEIDEN schafft, kann man schon am Wort selbst erahnen. In unserem täglichen Umgang mit dem Wort Leidenschaft ist davon allerdings nur wenig zu spüren. Wenn Menschen etwas leidenschaftlich tun, dann tun sie es gern, besonders gut, wachsen dabei über sich hinaus und gelten als lebensbejahend und positiv. Ist jemand leidenschaftslos, dann ist er oder sie eher bedauernswert als zu bewundern. Leidenschaftliche Liebe: Na klar! Liebe leidenschaftslos: Das geht doch GAR nicht!

Dabei liegen in der Leidenschaft Liebe und Hass, Schönes und Schweres sowie Erfolg und Misserfolg besonders dicht beieinander. Das gilt nicht nur für leidenschaftliche Raucher oder Trinker und wird zum Problem auch für andere, wenn sich Leidenschaft in Besessenheit oder Fanatismus und Intoleranz steigert.

Doch auch schon die verbreiteten Leidenschaften wie Liebe oder Hobbys haben das Potential des Leidens in sich. Ich denke an meine Neffen, die beim Fußballspielen jede Vorsicht vergessen und sich schon mehrfach irgendwelche Knochen dabei gebrochen haben.

Auch das Motorradfahren hat für mich schon Leiden bedeutet – ihr könnt euch sicher noch an meinen Krankenhausaufenthalt mit Operation eines Sprunggelenks vor ein paar Jahren erinnern. Sowas kann eben passieren, wenn Leidenschaft einen unvorsichtig werden lässt. Ich leide auch darunter, dass jede Fahrt zwar Spaß macht, aber eine Umweltbelastung ist.

Doch deshalb eine Leidenschaft beenden? Oder gar ganz leidenschaftslos werden wollen? Das kann doch nicht gut gehen.

Zumal ich mir meinen Glauben ohne Leidenschaft überhaupt nicht vorstellen kann. Wie sollte das gehen? Denn wenn ich es ernst MEINE damit, muss ich auch ernst MACHEN damit. Ich muss es ja nicht bis zum Fanatismus kommen lassen. Der macht blind und kompromisslos, und das hätte mit meinem Glauben nichts zu tun.

Doch auch mein Glauben birgt dann die Wahrscheinlichkeit in sich, Leiden zu bedeuten. Dabei rede ich gar nicht davon, dass ich wie ein Märtyrer enden werde. Das halte ich für eher unwahrscheinlich. Und doch leide ich tatsächlich, mal mehr und mal weniger, und das tatsächlich täglich.

Darum geht mir der Bibeltext für heute sehr nah, ich lese aus Lk 22 54-62 in der Übertragung der Guten Nachricht:

54 Sie nahmen Jesus fest, führten ihn ab und brachten ihn in das Haus des Obersten Priesters. Petrus folgte ihnen in weitem Abstand.
55 Im Hof war ein Feuer angezündet. Viele saßen darum herum, und Petrus setzte sich mitten unter sie.
56 Eine Dienerin bemerkte ihn im Schein des Feuers, sah ihn genauer an und sagte: »Der da war auch mit ihm zusammen!«
57 Aber Petrus stritt es ab: »Frau, ich kenne ihn überhaupt nicht!«
58 Bald darauf wurde ein Mann auf ihn aufmerksam und sagte: »Du gehörst doch auch zu denen!«
Aber Petrus widersprach: »Mensch, ich habe nichts mit ihnen zu tun!«
59 Etwa eine Stunde später bestand ein anderer darauf und sagte: »Kein Zweifel, der war auch mit ihm zusammen, er ist doch auch aus Galiläa.«
60 Aber Petrus stritt es ab: »Mensch, ich weiß überhaupt nicht, wovon du sprichst!«
Und sofort, während er noch redete, krähte ein Hahn.
61 Der Herr drehte sich um und sah Petrus an. Da fiel Petrus ein, was er zu ihm gesagt hatte: »Bevor heute der Hahn kräht, wirst du mich dreimal verleugnen und behaupten, dass du mich nicht kennst.«
62 Und er ging hinaus und begann, bitter zu weinen.

Simon mit dem Beinamen Petrus, „der Fels“:
Jünger Jesu aus Leidenschaft. Sein Bruder Andreas und er haben Haus, Hof, Familie und Beruf hinten angestellt, um Jesus zu folgen. Und Petrus meint es ernst damit. Er entwickelt sich zum Sprecher des Zwölferkreises. Er bekennt klar und deutlich: Du, Jesus, bist der Christus.

Aber sein Glaube sät in ihm auch immer wieder ernste Zweifel. Als Jesus sagt, dass er in den Tod gehen wird, nimmt er ihn zur Seite und versucht, ihm das auszureden. Doch Jesus, sein Meister, weist ihn brüsk zurück: Weiche von mir! Er bezeichnet Petrus dort sogar als Satan, als den Versucher selbst, den Durcheinanderbringer, den Bösen in Person. Das KANN Petrus nicht kalt gelassen haben, darunter MUSS er gelitten haben.

Er versucht, Jesus nicht wieder Stein des Anstoßes zu werden. Will ihm folgen, notfalls auch in den Tod.
Das denkt er, das meint er, das will er, das sagt er.

Er gehört zu den dreien, die erleben, dass Jesus auf dem Berg mit Mose und Elia redet. Er weiß, dass sein Rabbi Jesus aus dem Himmel gekommen ist. Ihm will er gehören, gefallen, folgen.

Doch seine Kraft reicht nicht aus, um aus dem Wollen auch ein stetes Tun zu machen. Im Garten Gethsemane schafft er es nicht, die Müdigkeit zu überwinden, er schläft ein. Bei der Gefangennahme Jesu soll er es gewesen sein, der die Nerven verlor und mit dem Schwert nach dem Knecht des Hohenpriesters schlug und dem ein Ohr abtrennte, so dass Jesus es wieder anfügen musste.

Und jetzt das. Er will Jesus nicht allein lassen, sehen, ob sich eine Möglichkeit ergibt, ihm nah zu sein, ihm beizustehen. Er weiß, dass er sich damit in Gefahr begibt, als Jünger erkannt zu werden. Er tut es trotzdem.

Und dann verliert er wieder die Nerven. Als sie ihn zu erkennen scheinen, bekommt er es offenbar mit der Todes-Angst zu tun. Sie gewinnt in ihm die Oberhand und lässt geschehen, was er vor nur wenigen Stunden für ausgeschlossen hielt.

Er leugnet, Jesus überhaupt zu kennen. Nicht nur einmal, sondern gleich drei Mal, also gründlich. Der Hahn macht der Szenerie ein Ende. Er kräht, Jesus wendet sich um und sieht Petrus in die Augen.

Und Simon der Petrus – er ist am Ende, vergießt bittere Tränen, weil er weiß: Er hat versagt. Er wird Jesus nicht mehr sprechen. Er wird ihm seine Angst nicht beschreiben, nichts erklären, nicht um Entschuldigung bitten können. Jesus stirbt am Kreuz, ohne das Petrus eine Chance dafür bekam. Was soll nun werden? Wie soll er so weiterleben?

Auf vielen Kirchturmspitzen erinnert ein Hahn, der sich mit dem Wind dreht und wendet, an die Geschichte des Simon Petrus, die zugleich die Geschichte der Kirche ist.

Angesteckt von der Leidenschaft Gottes, der für seine Menschen den Tod seines Sohnes am Kreuz geschehen lässt und ihn auferweckt, steht sie leidenschaftlich für ihren Glauben in dieser Welt ein – und kann sich trotzdem nicht von dieser Welt lösen, so sehr sie es auch versucht.

Mutige Frauen und Männer bringt sie hervor, die das Wort Gottes kennen und bezeugen, die es weitertragen und zu anderen Menschen bringen. Die Kirche wächst und wächst, sie wird von einer Sekte des Judentums zu einer weltumspannenden Institution, und das ist sie bis heute.

Doch ängstlich wacht sie über ihren Einfluss, ihr Vermögen, dass man besser Reichtum nennen sollte, macht Andersdenkende nicht nur mundtot, sondern bringt sie in die Folter und auf Scheiterhaufen.

Und wer den Stuhl Petri nicht Stuhl des Stellvertreters Christi auf Erden sehen will, wer die Unfehlbarkeit des Papstes in Lehrfragen angreift, wer sich ihm leidenschaftlich widersetzt, der wird gehen müssen. Die Kirche ist zwar schon atemberaubend bunt, wenn man genau hinsieht. Aber sie zersplittert dennoch, weil sie ihren Kindern unter ihrem Dach nicht genügend Luft zum Atmen lässt.

Verschämt sieht sie auf ehelose Priester mit leiblichen Kindern, gar mit fremden Kindern und verweigert Frauen die gleichen Rechte, die sie den Männern seit Jahrtausenden zugesteht, und mag über Homosexuelle zunächst nicht einmal reden.

Über all dem Menschlichen und Allzumenschlichen dreht er sich, der Hahn, und erinnert an Simon, genannt Petrus, „der Fels“. Erinnert daran, dass Petrus nur auf der Spitze des Eisberges steht, der unter ihm größer und größer wird. Erinnert daran, dass die heilige, allgemeine Kirche niemals allgemeine Kirche aus lauter Heiligen werden kann, so sehr sie sich auch abmüht.

Meine Schwestern, meine Brüder:

Glauben ist meine Leidenschaft. Und Glaube schafft Leiden. Ohne ihn kann ich nicht leben, aber kann ich es mit ihm? Tagtäglich begleiten mich höchstamtliche Untersuchungen zu sinkenden Mitgliedszahlen oder zu sexuellem und moralischen Versagen von Mitarbeitenden: Kirche versagt „an allen Fronten“. JEDE Kirche auf dieser Erde, und zur steten Erinnerung daran drehen sich über dem allem die Hähne.

Wie kann es weitergehen? Was wird aus dieser Gemeinde, wenn sie noch kleiner wird? Wird sie aus dem Leben verschwinden und nur noch in Kirchenbüchern zu finden sein?

Es wird Ostern. Petrus wird der erste der Jünger sein, der sich zum leeren Grab aufmacht und begreift, was geschehen ist.
Lukas erzählt in der Apostelgeschichte weiter von ihm:

Er predigt, er heilt, er wird vom Engel Gottes aus dem Gefängnis befreit. Er wird zu einer der Hauptpersonen der Gemeinde in Jerusalem. Seine Stimme hat Gewicht. Inhaltlichen Auseinandersetzungen mit anderen Aposteln geht er nicht aus dem Weg, lässt sich später sogar von Paulus zurechtweisen und stellt die Einigkeit unter den Führern der Gemeinden auf dem so genannten Apostelkonzil wieder her.

Dass er allerdings der erste Bischof von Rom wurde und mit dem Kopf nach unten gekreuzigt den Märtyrertod fand, ist geschichtlich ebenso wenig zu belegen wie seine Verfasserschaft der beiden Petrusbriefe unserer Bibel.

Doch mich erinnert das: Es wird Ostern. Gott spricht das letzte Wort, nicht die Mächte dieser Welt, nicht einmal der Tod. Gott wird seine Leidenschaft für uns Menschen nie enden lassen; nicht einmal das Kreuz konnte sie ja beenden.

Und es lässt mich erkennen, dass Jesaja mit seinen Worten Recht behält, die wir vorhin gehört haben (54, 7-10): „So habe ich geschworen, dass ich nicht mehr über dich zürnen und dich nicht mehr schelten will. Denn es sollen wohl Berge weichen und Hügel hinfallen, aber meine Gnade soll nicht von dir weichen, und der Bund meines Friedens soll nicht hinfallen, spricht der HERR, dein Erbarmer.“

Die Liebe Gottes, die Gnade unseres Herrn Jesus Christus und die Gemeinschaft des Heiligen Geistes

sind Gottes Leidenschaft für uns.
Und sie sind all unsere Leidenschaft wert –
unter dem Hahn auf dem Turm. AMEN

LIED Meine engen Grenzen RWL 600:
1. Meine engen Grenzen,
meine kurze Sicht bringe ich vor dich.
Wandle sie in Weite:
Herr, erbarme dich.
Wandle sie in Weite:
Herr, erbarme dich.
2. Meine ganze Ohnmacht,
was mich beugt und lähmt, bringe ich vor dich.
Wandle sie in Stärke:
Herr, erbarme dich.
Wandle sie in Stärke:
Herr, erbarme dich.
3. Mein verlornes Zutraun,
meine Ängstlichkeit bringe ich vor dich.
Wandle sie in Wärme:
Herr, erbarme dich.
Wandle sie in Wärme:
Herr, erbarme dich.
4. Meine tiefe Sehnsucht
nach Geborgenheit bringe ich vor dich.
Wandle sie in Heimat:
Herr, erbarme dich.
Wandle sie in Heimat:
Herr, erbarme dich.

 

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