Gnade: Jetzt! (Lk 4 16-21)

Tag auf Tag
Monat auf Monat
Jahr auf Jahr
Zeit wird gemessen
hat Anfang und Ende

Unsere Zeit
hat Anfang und Ende
Das Leben dieser Welt vergeht
Gott aber
war, ist und bleibt

Jesus Christus gestern und heute
und derselbe auch in Ewigkeit.
Hebräer 13,8
***

Janus. Der römische Gott mit den zwei Gesichtern. Er sah zugleich nach vorn und zurück, ohne sich umdrehen zu müssen. Darum ist er Gott des Anfangs und des Endes. Auf einigen Darstellungen hat er nicht zwei gleiche, sondern sogar ein altes und ein junges Gesicht.

Man stelle sich vor, dass man dem Janus leibhaftig begegnen würde: Welches Gesicht er einem wohl gerade zeigt? Das Junge oder das Alte? Das vordere oder das hintere? Oder gibt es gar kein vorne und hinten? Was soll man von ihm halten?

So ist es nicht verwunderlich, dass man das, was sich von zwei entgegengesetzten Seiten zeigt, bis heute als janusköpfig bezeichnet. Janusköpfig ist zum Beispiel eine Politik, die die Corona-Pandemie für beendet und gleichzeitig noch nicht beendet erklärt. Und sich auch genau so verhält, so dass man nicht genau weiß, welche Maskenregel wo nun eigentlich wie lange gelten soll.

Janus ist übrigens auch der Namenspatron für den Januar. Es kann kaum Zufall sein, dass der 1. Januar darum schon früh als Beginn des Kalender-Jahres galt. Das regelte Julius Caesar, der den Julianischen Kalender mit 356 Tagen und alle vier Jahre mit 366 Tagen einführte. Das war im Jahr 46 vor Christi Geburt.

Es dauerte allerdings bis ins Jahr 1691 nach Christi Geburt, bis der 1. Januar auch in der Christenheit zum ersten Tag des Kalenderjahres wurde; das regelte Papst Innozenz XII. . Das ist für uns heute nicht ganz unwichtig, zeigt es doch, dass dieser Neujahrstag eine sehr menschliche, willkürliche Festlegung ist, die im Übrigen nicht überall auf unserer Welt gilt.

Im vergangenen Jahr waren das der 1. Februar in China, der 24. Juni im Südpazifik, der 30. Juli im Islam, am 11. September bei den Kopten oder am 26. September im Judentum. In vielen Fällen ist der Beginn eines neuen Jahres sogar ein beweglicher Feiertag im Kalender.

So ist der 1. Januar unserer westlichen Welt tatsächlich janusköpfig. Man weiß nicht so genau, was man von ihm halten soll. Er sieht nach hinten und nach vorn. Niemand weiß so ganz genau, was er da eigentlich sieht.

Was beim Blick nach hinten dem Einen Erfolg war, war dem Anderen vielleicht Ärger. Selbst den Krieg in der Ukraine sehen die einen so und Andere ganz anders, und auch die Corona-Pandemie macht da keine Ausnahme.

Und der Blick nach vorn ist ohnehin nicht sonderlich scharf. Ja, das Neue Jahr wird eines mit 365 Tagen (also kein Schaltjahr) sein. Aber was kann man sonst noch von dem wissen, was tatsächlich kommt?

Also treffen wir uns heute etwas ratlos auf einer künstlich gefertigten Schwelle von einem Kalenderjahr zum nächsten. Eine Schwelle, über die man schon oft gegangen ist, ohne sich die Beine gebrochen zu haben.

Und irgendwie fragt man sich doch alle Neu-Jahre wieder:
Was wird uns ER – WARTEN? Oder: WARTEN wir eigentlich? Wenn ja, worauf?

Und weil man die Antworten nicht so genau weiß, kann es nicht schaden, sich zu einem Gottesdienst zusammenzufinden. Da kann man gemeinsam darüber nachdenken, wie man mit diesem neuen Zeitabschnitt hinter der Schwelle umgehen soll.

Hier gibt es dann die bekannten Lieder und Lesungen und die Auslegung eines Bibeltextes. Wie immer am Sonntag, so auch heute, wo der 1.1. mal wieder auf einen Sonntag fällt. Das ist absehbar, nichts Besonderes, aber es verhilft diesem Gang über diese merkwürdige Janus-Schwelle immerhin zu etwas mehr Sicherheit.

Nichts anderes werden damals die Gottesdienstbesucher in der Synagoge in Nazareth erwartet haben. Man traf sich wie üblich am Sabbat. Heute aber war ein alter Bekannter auf Heimatbesuch dabei: Der Zimmermann Jesus war nach Hause gekommen. Er stand in dem Ruf, inzwischen ein begnadeter Prediger geworden zu sein. Lukas schreibt (4, 16-21):

16 (Jesus) kam nach Nazareth, wo er aufgewachsen war, und ging nach seiner Gewohnheit am Sabbat in die Synagoge und stand auf, um zu lesen.
17 Da wurde ihm das Buch des Propheten Jesaja gereicht. Und als er das Buch auftat, fand er die Stelle, wo geschrieben steht (Jesaja 61,1-2):
18 “Der Geist des Herrn ist auf mir, weil er mich gesalbt hat und gesandt, zu verkündigen das Evangelium den Armen, zu predigen den Gefangenen, dass sie frei sein sollen, und den Blinden, dass sie sehen sollen, und die Zerschlagenen zu entlassen in die Freiheit
19 und zu verkündigen das Gnadenjahr des Herrn.”
20 Und als er das Buch zutat, gab er’s dem Diener und setzte sich.

Bis zu diesem Augenblick war alles so, wie es immer war. Jeder Mann hatte das Recht, in der Synagoge zu lesen, also auch Jesus. Und weil man aus keinem Buch mit Papierseiten, sondern aus einer Schriftrolle las, die einem der Diener zurecht legte, stand man dabei. Also stand auch Jesus beim Lesen.

Es war auch üblich, dass man die Auslegung anschließend im Sitzen machte. Es war also auch keine Überraschung, dass Jesus sich wieder setzte. Lukas weiter:

Und aller Augen in der Synagoge sahen auf ihn.
21 Und er fing an, zu ihnen zu reden: Heute ist dieses Wort der Schrift erfüllt vor euren Ohren.
22 Und sie gaben alle Zeugnis von ihm und wunderten sich über die Worte der Gnade, die aus seinem Munde kamen…

Das aber war nun doch eine Überraschung. Ein Satz. Mehr nicht. Und doch:
Auf einen Schlag war es vorbei mit dem sonst üblichen Dahindösen und dem frommen Halbschlaf. Auf einmal waren alle hellwach. Sie waren gefordert, sich zu diesem einen Satz zu verhalten: „Heute ist dieses Wort der Schrift erfüllt vor euren Ohren.“

Heute?!
Jetzt und hier, in diesem Moment sollte urplötzlich eintreten, was doch sonst erst in weiter Ferne erwartet war?
Jesaja hatte diese Worte doch schon vor Jahrhunderten gesprochen. Man hatte sie schon oft gehört, so wie wir sie vorhin auch als Lesung gehört haben.

Bekannte Worte. Dass der Prophet sich als Gesalbter fühlte. Dass er vom Geist Gottes begabt war. Dass er den Armen frohe Botschaft brachte, Gefangenen und Zerschlagenen Freiheit ankündigte und den Blinden, dass sie sehen können würden.

Aber bis jetzt war doch nichts von dem passiert, oder?
Genügend Blinde gab es jedenfalls noch.
Das sollte sich jetzt plötzlich ändern?

Vielleicht ist die Erwartung der Gottesdienstbesucher auf etwas anderes gerichtet, auf das Übliche eben. Darauf, dass über Gott wie immer geredet wird. Dass ewige Wahrheiten verkündet, gelehrt werden, die man eigentlich vorher schon kennt und die man auch im Halbschlaf noch hören und dazu nicken kann. Vielleicht hat keiner mit diesem „Heute“ gerechnet.

Doch war passiert, was sich jeder Prediger wünscht. Jede Predigerin sicher auch. Dass aus einer Auslegung eine Predigt wird. „Heute ist dieses Wort der Schrift erfüllt vor euren Ohren.“ Ein Paukenschlag.

Vielleicht begriffen einige mit einem Mal, dass sie Jesaja bisher vielleicht falsch verstanden hatten. Dass es bei der Gnade Gottes nicht um etwas in ferner Zukunft ging. Dass all das, wovon Jesaja sprach, bei Gott an der TAGESordnung ist.

Weil es nicht vor Augen geschah, sondern vor Ohren geschieht. Im Griechischen steht wörtlich „IN euren Ohren“. Und auch im Deutschen sagen wir das: „In meinen Ohren klingt das so, als würdest du dich ärgern“ zum Beispiel.

Was IN den Ohren geschieht, wird so zu einem Bild der Erkenntnis, des Glaubens. Durch die Ohren hindurch gibt es Zugang zum Inneren des Menschen, zum Herzen. Zu dem, wovon ein Mensch tief im innersten überzeugt ist. „Heute ist dieses Wort der Schrift erfüllt“ – in meinen Ohren.

Meine Schwestern, meine Brüder:

Das bedeutet für mich das Ende jedes Wartens auf den Messias. Dabei ist es unerheblich, ob das nun Jesus selbst sein sollte oder nicht. Wichtig ist vielmehr etwas ganz anderes:

Es geht um die GNADE Gottes. Sie findet nicht nur wie menschliche Erlassjahre alle 20 oder 50 Jahre statt. Sie ist auch kein Sabbat-Jahr. Die Gnade Gottes gilt schon immer, und sie gilt für immer. Sie hat die Macht, das Gute in jedem Menschen groß werden und so die Herrschaft Gottes über ein Menschen – Leben antreten zu lassen.

SO klingen in meinen Ohren die Worte des Jesaja:

Gottes Wort ist die Frohbotschaft, also das Evangelium für die Armen, weil sie die Gesetze dieser Welt, die Reiche reich und Arme arm machen, außer Kraft setzen. Nicht irgendwann, sondern JETZT.

Gottes Wort lässt Gefangene frei werden, selbst im Gefängnis, weil Mauern und Gitter ihre Bedeutung verlieren. Nicht irgendwann, sondern JETZT.

Gottes Wort lässt Blinde sehen. Auch hier ist es egal, ob das übertragen gemeint ist oder nicht. Ob es meine Blindheit für die Wahrheit meint oder die Augen eines Menschen, der nichts mehr von dieser Welt sehen kann. Gottes Wort öffnet den Blick in seinen Himmel. Nicht irgendwann, sondern JETZT.

Gottes Wort lässt zerschlagene Seelen frei werden. Denn es ist das Ende von Erwartungen oder Regeln oder Gesetzen oder Terminkalendern, die in dieser Welt geschrieben wurden oder werden. Nicht irgendwann, sondern JETZT.

HEUTE ist dieses Wort der Schrift erfüllt vor/ in euren Ohren –
das Gnadenjahr, über das Jesus hier spricht, ist keine Versicherungspolice gegen alle Schwierigkeiten, die das Neue Jahr mit sich bringen kann.
Kein Versprechen, das Schicksal würde alle so gut behandeln, dass letztlich alle glauben würden, mehr Gutes als Böses erfahren zu haben.

Es ist vielmehr eine Verheißung. Gottes Gnade ist nicht irgendwann, sie ist JETZT.
Gnade bietet keine Versicherung, sondern Sicherheit.
Sie sagt nicht: Alles wird gut. Sondern:
Hier ist ein Ort, an dem Du Zuflucht finden kannst, was immer auch geschehen wird.

Wie ist für die Zuhörer Jesu das Jahr zu einem Gnadenjahr geworden?
Wie wurden Gefangene frei? Blinde sehend? Zerschlagene frei und ledig?

Nicht alle Gefangenen, Blinden und Zerschlagenen fanden das Glück einer Lebenszuflucht.

Wohl aber die, die sich einließen auf Gott
und sein Wort IN dem Ohr des Menschen.

Der Zöllner, der JETZT zurückgab, was ihm nicht gehörte.
Der Samariter, der JETZT den unter die Räuber gefallenen versorgte.
Maria, die JETZT ihrer Schwester allein die Hausarbeit überließ und statt dessen Jesu Rede und damit Wort Gottes IN ihr Ohr ließ.
Martin Luther, für den der harte Weltenrichter – Gott JETZT die große Freiheit seines Lebens wurde.
Dietrich Bonhoeffer, für den selbst das Zuchthaus der Nationalsozialisten JETZT kein Ort der Gottesferne wurde.

Der Vorausblick auf ein neues Jahr kann Furcht erwecken, die Gedanken richten sich häufig auf die unübersehbare Fülle der Aufgaben, die in den nächsten 8760 Stunden bis zum nächsten Alle-Neu-Jahr-Wieder zu erledigen sind.

Doch die Liebe Gottes, die Gnade unseres Herrn Jesus Christus und die Gemeinschaft des Heiligen Geistes

werden sie froh, hell und frei machen.
Nicht irgendwann, sondern JETZT.
AMEN

Und wenn es bis hierher noch nichts Überraschendes gab, ist es für manch einen vielleicht das Lied, das wir jetzt auf dem Programm haben. Die meisten werden es wahrscheinlich noch nie gesungen haben.

LIED Freut euch, ihr lieben Christen all 60
1. Freut euch, ihr lieben Christen all,
lobsinget Gott mit hellem Schall,
ja singt und spielt aus Dankbarkeit
dem Herrn im Herzen allezeit,
2. dass er uns seinen liebsten Sohn
herabgesandt vons Himmels Thron,
zu helfen uns aus aller Not,
zu tilgen Teufel, Sünd und Tod.
3. Du mein herzliebstes Jesulein
wollst unser Herz und Sinn allein
dabei erhalten stet und fest,
dass du der recht Nothelfer bist;
4. wollst uns auch dies angehend Jahr
vor Leid behüten und Gefahr,
auch Krankheit, Tod und Kriegesnot
abwenden als ein gnäd’ger Gott,
5. auf dass dein Wort in diesem Land
zunehm und wachs ohn Widerstand,
auch Friede, Treu, Gerechtigkeit
befördert werd zu aller Zeit.
Text: Prag 1612
Melodie: Bartholomäus Gesius 1605

 

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