Der Blick zurück (Joh 1 15-18)

Erscheinung der Herrlichkeit Gottes
Signal zum Aufbruch
heller als eine aufgehende Sonne
in tiefster Nacht.

Jesus ist kommen
Kind aus der Krippe
Gott selbst herrscht
Grund ewiger Freude
Anfang und Ende, A und O
Himmel und Erde
rühmen seine Gewalt

Die Weihnachtsbilder zeigen nicht
was sich außen abgespielt hat
sondern Verborgenes und Unsichtbares
ausgebreitet vor unser aller Augen.

Die Finsternis vergeht
und das wahre Licht scheint jetzt.
1 Johannes 2,8b
***

Aus dem 2. Mose 33 ab Vers 18:
Und Mose sprach: Lass mich deine Herrlichkeit sehen!
Und ER sprach:
Ich will vor deinem Angesicht all meine Güte vorübergehen lassen und will ausrufen den Namen des HERRN vor dir:
Wem ich gnädig bin, dem bin ich gnädig,
und wessen ich mich erbarme, dessen erbarme ich mich.
… Mein ANGESICHT KANNST du nicht sehen;
denn kein MENSCH wird leben, der mich sieht.
Und der HERR sprach weiter:
… Wenn dann meine Herrlichkeit vorübergeht, will ich dich in die Felskluft stellen und meine Hand ÜBER dir halten, bis ich vorübergegangen bin. Dann will ich meine Hand VON dir tun, und du darfst hinter mir her sehen; aber mein ANGESICHT kann man nicht sehen.

Aus Joh 1 (15) 16-18
(15 Johannes zeugt von ihm und ruft: Dieser war es, von dem ich gesagt habe: Nach mir wird kommen, der vor mir gewesen ist; denn er war eher als ich.)

16 Von seiner Fülle haben wir alle genommen Gnade um Gnade.
17 Denn das Gesetz ist durch Mose gegeben;
die Gnade und Wahrheit ist durch Jesus Christus geworden.
18 Niemand hat Gott je gesehen;
der Eingeborene, der Gott ist und in des Vaters Schoß ist,
der hat es verkündigt.

„Rom sehen und sterben“ – ein geflügeltes Wort. Ausdruck der vollkommenen Begeisterung: Wer Rom gesehen habe, könne in seinem Leben nichts mehr zu sehen bekommen, was prächtiger, schöner, anmutiger sei.

Dass das nicht so ganz stimmen kann, kann man schon dann mitbekommen, wenn man „Rom sehen und sterben“ in eine Internetsuchmaschine eingibt. Da findet man schnell, dass der ursprünglichere Spruch „Neapel sehen und sterben“ geheißen haben soll. Also ist sich die Menschheit gar nicht einig, welche der beiden Städte man vor seinem Tod gesehen haben muss.

Meine Eltern waren einmal in Rom und haben viel Interessantes über die „ewige Stadt“ erzählt. Allerdings auch, dass sie in vielen Ecken ziemlich schmuddelig und in anderen sehr laut sei. Und NACH diesen Erzählungen war ich mir sicher: Wenn ich Rom einmal zu sehen bekomme sollte, dann ist es gut – aber ein Sehnsuchtsort ist die Stadt darum für mich noch lange nicht. Ebenso wenig wie Venedig, Paris oder Jerusalem.

„Das MUSS man einfach gesehen haben!“ – ein Satz der Begeisterung des Augenblicks. Aber WAS man gesehen haben muss – darauf werden sich die Menschen wohl kaum je einigen können.

Je älter ich werde, desto besser verstehe ich den alten König von Dostojewski. Der König war satt vom Leben. Er hatte in seinem Leben alles gesehen, was er gerne sehen wollte, alles erlebt, was er erleben wollte, und wohl auch alles gehabt, was er haben wollte.

Und trotzdem wurde er niedergeschlagen und traurig, nichts konnte ihn mehr erfreuen. Also kam er auf die Idee: Ich will Gott sehen! Und er gab seinen Untertanen drei Tage Zeit. Wehe euch, wenn ihr das nicht schafft! rief er, und versetzte alle um sich herum in Angst und Schrecken. Und niemand hatte eine Idee, wie sie das bewerkstelligen sollten.

Wie denn auch? Schon Mose wollte Gott sehen (2. Mose 33, 18ff) und musste lernen, dass das nicht geht; und der Evangelist Johannes schreibt nicht ohne Grund: „Niemand hat Gott je gesehen“ (Joh 1, 18). Doch sowohl Mose als auch Johannes haben sich nicht ohne Grund damit beschäftigt.

Heute würde mancher sagen: Wenn ich Gott sehen könnte, könnte ich auch an ihn glauben. Doch für Mose und Johannes war das gar keine Frage. Sie glaubten Gott, auch ohne ihn zu sehen.

„Sehen“ ist darum hier wohl eher ein Synonym. Dafür, Gott verstehen zu können. Die Wahrheit zu erkennen. Seine Wege zu begreifen. Denn sowohl für Mose als auch für Johannes dürfte es unstrittig gewesen sein: Gott ist unendlich, Gott ist ewig. Wie aber sollte der endliche und sterbliche Mensch dann Gott „sehen“ können? Selbst wenn er die ganze Zeit seines Lebens dafür aufgebracht hätte?

All das muss der König eigentlich gewusst haben, denn das ist nun wirklich keine neue Erkenntnis mehr; es gibt sie so lang Menschen denken können. Trotzdem: Ihr habt drei Tage, dann müsst ihr mir Gott gezeigt haben. Sonst setzt es was.

Dostojewski erzählt weiter, dass ein Hirte davon hört. Er traut sich, dem König zu sagen: Komm mit, ich zeig dir Gott. Und als sie dann gemeinsam auf dem Feld stehen, in strahlender Sonne (ja, damals hat die Sonne noch geschienen…), sagt er: So, König, nun sieh in die Sonne! und der König: Willst du mich blind machen? Was soll das? Und der Hirte: Wenn du noch nicht einmal die Sonne ansehen kannst – wie willst du denn Gott ansehen, der Himmel und Erde, Sonne Mond und Sterne mit seiner Hand gemacht hat?

Diese Lektion hat der König gelernt. So wie sie jeder Mensch irgendwann einmal lernen muss. Von Mose bis Johannes: Niemand hat Gott je gesehen (Joh 1, 18). Kein Mensch wird jemals leben, der Gott sehen kann (2. Mose 33,18).

Was aber können Menschen von Gott erfahren, wenn sie ihn doch niemals sehen, niemals erkennen können? Wie können Menschen sich Gottes vergewissern? Wie können sie sein Wirken in ihrem Leben entdecken und sich darauf verlassen?

Auch da sind sich Mose und Johannes einig: Im Hinterherschauen. Also im Rückblick. Im Mosebuch kann man das sehr bildlich lesen: Mose wird zwischen Felsen gestellt, und Gottes Hand ist über ihm, so dass er von allen Seiten geschützt, rundherum behütet ist.

Wenn Gott in seiner Herrlichkeit dann aber vorübergegangen ist, wird Mose ihm hinterhersehen, also Gottes Rücken sehen können. Was er da zu sehen bekommt, weiß niemand, der das liest. Darum geht es offenbar auch gar nicht. Sondern es geht darum, DASS Mose etwas von Gott sieht, etwas von ihm begreift.

Mose war in schwieriger Lage. Er begreift, dass die Mission seines Lebens, das Volk in das neue, gelobte Land zu geleiten, gescheitert ist. Er fragt sich, ob er sich in Gott getäuscht hat. Er ist enttäuscht und niedergeschlagen.

Aber im Rückblick, also als Gott längst am behüteten Mose in der Felsspalte vorbeigegangen ist, nicht lange vor Ende seines Lebens, kann Mose Gottes Rücken entdecken. Begreifen, dass er nie allein war. Dass Gottes Weg ein anderer war, als ihm, Mose, das recht gewesen wäre. Aber auch, dass Gottes Weg auch seiner, des Moses Weg geworden war. Und bleiben würde.

Auch für Johannes ist es so: Gott wird wahrgenommen, nachdem er gehandelt hat. Seine Bilder sind nicht ganz so plastisch. Hier geht es nicht um Felskluft, Hand und Rücken. Seine Bilder sind meditativer: Johannes spricht vom Eingeborenen, der selbst Gott ist und doch in Gottes Schoß liegt – er redet von Jesus Christus.

Von Jesus Christus, der den Menschen die Augen geöffnet hat für das Handeln Gottes, das Johannes mit „Gnade und Wahrheit“ beschreibt. „Von seiner Fülle haben wir alle genommen Gnade um Gnade“ (V 16): „Wir alle“, auch wenn viele das nicht bemerkt haben sollten.

Gnade ist dabei die große Tat Gottes, die es vermag, in jedem Menschen seine gute Seite zu entdecken und dann sichtbar zu machen, groß werden zu lassen. Gnade ist die große Tat Gottes, die aus jedem Menschen einen für Gott wichtigen Menschen macht. Die den Menschen sehen lässt: Gottes Liebe gilt MIR.

Auch Johannes schreibt das im Rückblick. Sein Evangelium ist wahrscheinlich erst zwei Generationen nach Jesu Tod entstanden. Auch für ihn gilt: Gott wird erkannt, nachdem er gehandelt hat. So kann der Mensch Gott eigentlich aus der Schöpfung erkennen. Doch da der Mensch seine Augen davor verschließt, bleibt er blind für Gott.

Darum schickt Gott seinen Sohn in diese Welt; er lässt es im Dunkel dieser Welt licht werden. Johannes blickt also zurück und kann erkennen: In diesem Jesus ist der Christus erschienen, der Gesalbte Gottes. Ein König, dessen Herrschaft anders ist als die jedes anderen: Gnade und Wahrheit eben.

Meine Schwestern, meine Brüder:

Epiphanias erzählt uns durch Matthäus von den Gelehrten, die sich auf eine lange, beschwerliche Reise machen, um einem Stern zu folgen und Jesus zu finden. Sie beschenken ihn königlich. Ob ihnen klar war, dass dieses Kind nicht nur Kind Gottes wie jeder Mensch, sondern Gott selbst war, kann getrost bezweifelt werden.

Vielleicht haben sie das auch im Rückblick niemals erkennen können. Vielleicht hat sie ihre Gelehrtheit daran gehindert, vielleicht haben sie es irgendwann aber doch erkannt – wir wissen es nicht.

Aber wir wissen, dass seit Mose Menschen immer wieder „Gottes Rücken“ gesehen haben. Wir wissen, dass Weihnachten gefeiert wird, weil die Geburt des Jesus aus Nazareth MEHR war als die eines Kindes in Armut vor über zweitausend Jahren.

Auch Dostojewskis König wird das lernen: Nachdem ihm der Hirte gezeigt hat, dass Gott zur groß und zu hell für seine Augen ist, will er vom Hirten wissen, was Gott denn machen, wie er handeln würde. Daraufhin lässt der Hirte den König mit ihm die Kleidung wechseln und sagt: So handelt Gott. Er macht aus dem Kleinen das Große und aus dem Großen das Kleine.

Und der König lächelt, denn er glaubt zu verstehen. Und Weihnachten lehrt uns zu verstehen, dass der unendliche Gott ein Kind unter Menschen wird: Dass er aus Groß Klein macht. Und Weihnachten lehrt uns, wie Gott aus Klein Groß macht, wenn aus dem Säugling der Heiligen Nacht die Liebe Gottes wächst, die die Welt aus ihren Angeln hebt.

Und wir können das tatsächlich verstehen, wenn wir rückwärts sehen. Wenn wir mit Mose Gott hinterherschauen. Wenn wir auf das Kind der Weihnacht sehen und Johannes nachsprechen: „Von seiner Fülle haben wir alle genommen Gnade um Gnade“ – ja, aus diesem Gottessohn haben wir alles:

Die Liebe Gottes, die Gnade unseres Herrn Jesus Christus und die Gemeinschaft des Heiligen Geistes.

Sie können wir sehen, wenn wir auf den Rücken Gottes schauen.
AMEN

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