Wer Gott sieht, sieht ihn nicht (Lk 18 31-43)

Sybille Fritsch:
Einer/ macht Licht,
wenn ich/ STOLPRE,
nimmt meine Hand im Dunkeln
und –
ich komme an.

Einer/ schließt Frieden,
wenn ich/ HASSE,
lächelt meinen Zorn in den Wind
und –
ich komme an.

Einer/ gibt Trost,
wenn ich/ LEIDE,
nimmt mein Herz … in die Hand
und –
ich komme an.

Einer/ kommt an,
wenn ich FEHLE,
nimmt sein Kreuz auf die Schulter
und –
ER kommt an!

Seht, wir gehen hinauf nach Jerusalem,
und es wird alles vollendet werden,
was geschrieben ist durch die Propheten
von dem Menschensohn.
Lukas 18,31
***
Die alte Predigtreihe I war besonders bei denen sehr beliebt, die regelmäßig in die Gottesdienste gehen. Denn da wurden die Evangelientexte aller Sonntage im Kirchenjahr gepredigt. Das war eine anschauliche Reihe, die Texte kennt man seit Kindertagen, und sogar Bilder dazu sind allerorten präsent: Krippe, Versuchung, Wasser zu Wein, Heilungen, Kreuz, Auferstehung…
Da konnte man denn auch diesen Bildern nachhängen, wenn die Predigt wieder mal deutlich zu lang oder zu langweilig wurde.

Die Predigtreihe II war dann für viele das Schlafmittel schlechthin. Denn da kamen alle Episteltexte an die Reihe. Steht da nicht überall irgendwie „allein aus Glauben“? Und das ein ganzes Jahr lang… Wie gut, dass die neuen Predigtreihen seit 2018 dieser Langeweile ein Ende bereitet haben!

So haben wir auch heute so einen Evangeliumstext, obwohl wir in Reihe II sind. Auch er erzählt sehr anschaulich, und großartiges Theoretisieren scheint ihm fern zu liegen. Ich lese aus dem Evangelium nach Lukas Kapitel 18 die Verse 31-43:

31 Jesus nahm aber zu sich die Zwölf und sprach zu ihnen: Seht, wir gehen hinauf nach Jerusalem, und es wird alles vollendet werden, was geschrieben ist durch die Propheten von dem Menschensohn. 32 Denn er wird überantwortet werden den Heiden, und er wird verspottet und misshandelt und angespien werden, 33 und sie werden ihn geißeln und töten; und am dritten Tage wird er auferstehen. 34 Sie aber verstanden nichts davon, und der Sinn der Rede war ihnen verborgen, und sie begriffen nicht, was damit gesagt war.

35 Es geschah aber, als er in die Nähe von Jericho kam, da saß ein Blinder am Wege und bettelte. 36 Als er aber die Menge hörte, die vorbeiging, forschte er, was das wäre. 37 Da verkündeten sie ihm, Jesus von Nazareth gehe vorüber. 38 Und er rief: Jesus, du Sohn Davids, erbarme dich meiner! 39 Die aber vornean gingen, fuhren ihn an, er sollte schweigen. Er aber schrie noch viel mehr: Du Sohn Davids, erbarme dich meiner!
40 Jesus aber blieb stehen und befahl, ihn zu sich zu führen. Als er aber näher kam, fragte er ihn: 41 Was willst du, dass ich für dich tun soll? Er sprach: Herr, dass ich sehen kann. 42 Und Jesus sprach zu ihm: Sei sehend! Dein Glaube hat dir geholfen. 43 Und sogleich wurde er sehend und folgte ihm nach und pries Gott. Und alles Volk, das es sah, lobte Gott.

Genau genommen sind das eigentlich sogar zwei Texte.
Eine Leidensankündigung, eine Heilung.
Oft gelesen, oft gehört, oft gesehen.
Auch irgendwann verstanden?

Unser Text ist die bereits dritte Leidensankündigung nach Lukas. Jesus stellt seinen Jüngern den göttlichen Heilsplan dar. Und zu diesem Plan gehört der Gang Jesu durch das Leiden. Für den Juden Jesus ist dieser Leidensweg biblisch vorgezeichnet.

Die Gottesknechtlieder des Jesaja kennen selbst HEUTE noch die meisten von uns. Seinen Jüngern werden sie SICHER bekannt gewesen sein. Vielleicht aber ging es ihnen mit Jesaja so wie den meisten heute mit den Episteln. Die Worte hört man wohl, aber der tiefe Sinn bleibt einem verschlossen. Und jetzt bekommen sie zu hören, dass ihre Reise nach Jerusalem ein „Himmelfahrtskommando“ ist, das Tod und Verderben bringen wird…

Jesus hält ihnen eine Predigt über den Messias. Der Messias wird die NÄHE Gottes zu den Menschen erlebbar machen. Die Nähe vor allem zu denen, die in ihrem Leben Leid aushalten müssen. Und der Gipfel allen menschlichen Leides ist ein Tod zur Unzeit. Gerade hier wird Gott die Nähe zu den Menschen sichtbar werden lassen.

Und gerade hier verheißt Jesus einen Durchbruch des Vorstellbaren. Er spricht von der Auferstehung am dritten Tage. Die Endlichkeit des Lebens soll eben nicht das Ende, der Tod soll eben nicht das letzte Wort sein. Gott selbst wird dieses letzte Wort haben. Auch das ist biblisch vorgezeichnet.

Nur: Das ist den Jüngern zu hoch. Sie hören von Festnahme, sie hören von Spott und Hohn, sie hören von Schlägen und Folter. Die Ankündigung dieses Endes ist für sie erschlagend. Denn sie wissen, dass ein solches Ende Jesu auch ihr Ende sein würde. Vielleicht nicht gleich ihrer aller Tod. Aber von ihrem Leben jetzt würde nicht mehr viel übrig bleiben.

Das ist für die Jünger so dominant, dass sie die Perspektive Auferstehung gar nicht mehr hören, geschweige denn verstehen können. Sie reagieren auf die Worte vom Leiden wieder einmal mit Verdrängung. Auch wenn Jesus bereits zum dritten Mal mit ihnen darüber spricht.

Sie aber verstanden nichts davon,
und der Sinn der Rede war ihnen verborgen,
und sie begriffen nicht, was damit gesagt war.
Drei Satzteile schreibt Lukas, alle drei sagen dasselbe, nur mit anderen Worten. So begreift auch der Letzte seiner Leser:
Jesu Jünger verstehen – rein gar nichts.
Oder anders: Für sie bleibt das „Himmelfahrtskommando“ ein Kommando ohne Himmelfahrt.

Können wir es ihnen verdenken? Wenn ich hier in die Reihen sehe: Manch einer von uns bringt es auf siebzig, achtzig Passionszeiten. Die aus Kleinkindzeiten nicht mitgerechnet, an die bekanntlich die Erinnerung fehlt.

Achtzig Passionszeiten mal drei Leidensankündigungen macht 240. Oder mal sechs Passionssonntage, dazu noch Gründonnerstag und Karfreitag, macht dann mal acht sprich 640 mal Nachdenken über das Kreuz.

Wer von uns aber hätte schon eine SCHLÜSSIGE Antwort auf die Frage, warum Jesus diese grausamste Hinrichtung der damaligen Zeit durchleiden musste? Wer von uns kann wollen, dass ein anderer Mensch so stirbt? Will ich, dass einer für MICH stirbt? Wo steckt der Sinn darin, dass ein Unschuldiger der perfiden Mordlust der Mächtigen überlassen wird?
Da ist es leichter zu begründen, warum Karneval gefeiert wird.

Und wer tatsächlich für sich eine Antwort auf diese Fragen gefunden hat: Bleibt das Kreuz nicht für die Masse der Menschen Zeichen der Katastrophe schlechthin und eben nicht der ÜBERWINDUNG dieser Katastrophe? Wer begreift wirklich mehr als die Jünger?

Auch der zweite Teil unseres Textes, die Heilung eines Blinden, ist biblisch vorgezeichnet. Ebenfalls bei Jesaja ist zu lesen:

Zu der Zeit werden die Tauben hören die Worte des Buches, und die Augen der Blinden werden aus Dunkel und Finsternis sehen; und die Elenden werden wieder Freude haben am HERRN, und die Ärmsten unter den Menschen werden fröhlich sein in dem Heiligen Israels. (Jes 29,18f).

Der Blinde, dem Jesus jetzt begegnet, teilt das Schicksal vieler Behinderter damals: Er muss betteln. Das war die damals übliche soziale „Grundsicherung“. Und das ist grundsätzlich sicher etwas anderes als heute hier in Deutschland. Wo die, die betteln, nicht GAR nichts haben. Die meisten von ihnen zumindest. Dieser Blinde hatte GAR nichts, bis eben auf das, was man ihm beim Betteln zukommen ließ.

Sehen kann er nicht, aber hören kann er. Vielleicht besser als viele Sehende. So erkennt er die Bedeutung dessen, der da des Weges kommt. Er ruft ihn an, nennt ihn nicht „Jesus“, sondern „Sohn Davids“. Das ist die Bezeichnung des Messias. Sie war es bereits vor Jesu Geburt, und sie ist es bei vielen Juden noch heute.

Für die „Menge“, die mit Jesus zieht, waren diese Rufe des Blinden eine empfindliche Störung. Man ist auf einer Art Prozession, man will nach Jerusalem, man will das Passafest feiern. Betteln darf der ja, meinetwegen, das geht ja nicht anders. Aber den Anderen ihre Ruhe lassen soll er.

Aber der Blinde lässt sich nicht den Mund verbieten. Sein Rufen wird zum Schreien. Bis Jesus ihn hört und ihn bringen lässt. Und obwohl für Jesus auf der Hand liegt, was der Schreiende da von ihm will, fordert Jesus ihn auf auszusprechen, was er will. Dann heilt Jesus ihn durch den schlichten Befehl: „Sei sehend!“.
Aber erklärt ihm diese Heilung so: „Dein Glaube hat dir geholfen.“

Der so Geheilte reagiert überraschend. Wohl jeder von uns hätte den Arzt gepriesen, der einem Blinden das Augenlicht zurück gibt. Nicht aber der Geheilte. Er preist GOTT. Und alle, die das miterleben, fallen wie der Schlusschor eines Oratoriums in dieses Lob Gottes ein – NICHT in das Lob des Arztes.

Dritte Leidensankündigung und Heilung des blinden Bettlers. Beide Geschichten scheinen wenig miteinander zu tun zu haben. Aber Lukas bringt sie doch so zusammen. Warum macht er das?

Lukas predigt, indem er erzählt. Er bringt zum Nachdenken, indem er an Geschichten teilhaben lässt. Alle Evangelien machen das so. Sie wollen ZEIGEN, NICHT ERKLÄREN. Die Erklärungen sollen in denen reifen, die zuhören. Worauf ZEIGT Lukas, indem er beide Geschichten so nacheinander erzählt?

Lukas zeigt zuerst auf die Jünger und dann auf den Bettler. Und wir können entdecken: Die einen können sehen, aber erkennen NICHTS. Der andere sieht nichts, aber erkennt GOTT. Die einen suchen Gott und können ihn nicht finden. Der andere kann nicht suchen, wer kann schon wirklich etwas suchen, wenn er nicht sehen kann. Aber er ertastet das Heil seines Lebens.

Die einen suchen Hoffnung im Glauben an Gott, lassen alles hinter sich, gehen mit Jesus in das heilige Jerusalem. Aber sie sind der Hoffnung verschlossen. Was der Blinde von Gott hielt, der ihn da am Wegrand um Almosen betteln ließ, wissen wir nicht, aber wenn wir uns in seine Haut denken, können wir das erahnen. Er wird all das gedacht haben, was Menschen auch heute noch denken, wenn sie eine Krankheit trifft, die ihr ganzes bisheriges Leben beendet. Wenn sie ohnmächtig mit ansehen müssen, an den Rand der lebendigen, sprudelnden Gesellschaft geschoben zu werden. Und doch erlebt er: GOTT.

Meine Schwestern, meine Brüder,

die meisten Menschen haben Gottesbilder, die so fest, so statisch sind, dass sie Gott dahinter nicht mehr sehen können.
„Ihr trugt den Sakkút, euren König, und Kewán, den Stern eures Gottes, eure Bilder, welche ihr euch selbst gemacht habt“ – die Lesung vorhin aus dem Propheten Amos hat das Problem noch beim Namen ge-nannt (Amos 5, 21-27) und es als Ursache der Verbannung Israels be-nannt.

Das Bild, das die Jünger von Gott haben, wird zwar nicht beschrieben. Vielleicht haben die zwölf auch nicht zwölf gleiche Bilder. Aber auch sie müssen in die Verbannung. Vielleicht nicht gleich bis „jenseits von Damaskus“, wie es vorhin bei Amos hieß.

Aber ihr Weg ist dennoch lang.
Es wird viele Tage NACH Ostern sein, bis sie endlich nach Haus kommen, weil sie von sich sagen können:
Jetzt verstehen wir etwas davon,
und der Sinn der Rede ist uns nicht mehr verborgen,
und wir beginnen zu begreifen, was damit gesagt war.

Lukas zeigt uns, wie hinderlich Gottesbilder werden können. Damit wir erkennen, dass das Bilderverbot KEINE Nebensache in den Geboten ist. Wir können ohne Bilder nicht leben. Aber wenn die Bilder uns bestimmen, können wir auch nicht frei leben. Bilder können so hinderlich sein: Im Umgang mit dem anderen Geschlecht, mit dem Lebenspartner, mit anderen Menschen, vor allem aber im Umgang mit Gott.

Also: Verliert den Blinden nicht aus den Augen!
Ihm hätten die Worte aus dem „kleinen Prinzen“ in den Mund gelegt sein können: „Hier mein Geheimnis. Es ist ganz einfach: man sieht nur mit dem Herzen gut. Das Wesentliche ist für die Augen unsichtbar.“ (Saint-Exupéry).

Der Blinde sieht das Wesentliche. Er hat den Mut, ALLES von Gott zu erwarten. Er ist bereit, Gott handeln zu lassen, wo alles Menschenhandeln ohne Erfolg bleiben muss. Der Blinde erfährt Heilung. Aber er hatte sie nie in der Hand. Und er hätte sie auch erfahren, wenn er NICHT wieder hätte sehen können.

Nur dann hätten auch wir nicht richtig sehen können.
Nicht wirklich verstehen können, was es bedeutet: „Dein Glaube hat dich gerettet.“
Nicht deine eigene Leistung, die es dir durch deine scharfen Sinne möglich gemacht haben, zu begreifen, wer Jesus ist.
Auch nicht der Heiler auf dem Weg nach Jerusalem.

Sondern Gott, der so groß ist, dass er nicht einmal auf alle Bilder der Welt zusammengenommen passen würde. Das ZEIGT uns Lukas, auf dass wir verstehen:

Die Liebe Gottes, die Gnade unseres Herrn Jesus Christus und die Gemeinschaft des Heiligen Geistes
sind es, die uns glauben lassen.
Das ist ein Wunder,
und dieses Wunder ist unsere einzige Hoffnung.
AMEN

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