Worte und Wörter
werden Gerede
werden zur Last
nehmen Freude
machen das Leben schwer
bringen die Hölle zum Glühen
Das Wort Gottes aber ist
Oase in jeder Wüste
und Quelle lebendigen Wassers selbst
in der Dürre menschlicher Unzulänglichkeit
Das Wort Gottes zu hören
ändert alles
schafft Leben
wer Ohren hat, der höre
Heute, wenn ihr seine Stimme hören werdet,
so verstockt eure Herzen nicht.
Hebräer 3,15
***
Gute einhundert Jahre ist das her, da warnt der junge reformierte Pfarrer Karl Barth die Kirche.
Nicht nur seine eigene Kirche, sondern jede. Jede noch so alte, jede noch so kleine.
Er warnt die Kirche – vor der Kirche. Vor sich selbst also.
Denn überall in den Kirchen findet er puren Atheismus. Weil die Kirchen, von Gott redend, die eigentliche Qualität Gottes, nämlich seine Unnahbarkeit, immer häufiger und offener missachteten, seien sie mehr als alle anderen weltlichen Institutionen „atheistisch“. Mehr noch als die, die sich selbst Atheisten nennen. Die geben nämlich wenigstens zu, NICHTS von Gott zu wissen.
Was er damit meinte, liegt selbst heute noch auf der Hand, wenn man nur genau hinschaut:
Lieber Gott, ich bin noch klein, kann so vieles nicht allein. Drum lass Menschen sein auf Erden, die mir helfen, groß zu werden. Die mich nähren, die mich kleiden, die mich führen, die mich leiten, die mich trösten, wenn ich weine.
Und es geht noch weiter:
Lieber Gott, dass sie mich trotzdem lieben,
wenn ich es habe schlimm getrieben.
Den Kindern den lieben Gott;
den Erwachsenen den moralinsauren Gott;
den Frommen den Wohlfühl- und Dauerpreisegott;
den Fragenden den Gott, der ihnen persönlich und haarklein gesagt hat, was sie genau machen sollen;
den Kriegern ihren „Gott mit uns“.
Kurz: Für jede Lebenslage das Bild, was man gerade will und braucht.
Mit ihrem Gott haben sich die Menschen dann eingerichtet, sie kennen ihn gut. Sie wissen, was sie von ihm zu erwarten haben und was ihnen von ihm zusteht. Kinder erziehen, in Strenge auf die Fehltritte sehen, Kriegsglück herbeiführen.
„Du sollst dir kein Bildnis machen“: Was für BILDER denn?
Die „Ruhe, Ordnung und Sicherheit“, mit der die deutsche Mobilmachung vor dem ersten Weltkrieg erfolgte, war für Martin Rade sichtbares Zeichen des Wirkens Gottes. Für das überwältigende „Erlebnis“, „wie dieser Krieg über die Seele meines Volkes kam“, KÖNNE es nur einen Grund geben:
Gott selbst stehe als verborgener, aktiver Urheber hinter der „herrlichen Solidarität“, Hingabe und Opferbereitschaft der Deutschen. Martin Rade: Evangelischer Professor in Marburg, linksliberaler Politiker, gestorben 1940. So wie er dachten damals vor dem ersten Krieg viele. Nicht nur in der evangelischen Kirche.
„Gott mit uns“ auf dem Koppelschloss, schon fühlte man sich auf der richtigen Seite. Flandernschlacht, Schlacht von Lemberg, Winterschlacht in den Karpaten… Mehr als die halbe Welt von Krieg überzogen.
„Wir sollen auch unser Leben für die Brüder lassen. 1. Joh 3,16. Zum Gedächtnis des Georg Thiel… Er starb fürs Vaterland am 4. März 1916.“ Unterschrift, und dann ab mit der Karte per Feldpost zur Familie.
Gott auch mit ihnen, das soll trösten.
Über zweieinhalb Jahrtausende vorher. Schon der erste Krieg Nebukadnezars II. gegen Israel hatte den Tempel im Jahr 597 vor Christus in Schutt und Asche gelegt und die „Oberschicht“ in die babylonische Verbannung gezwungen.
Der eingesetzte König von Babylons Gnaden meinte dann, sich Rebellion leisten zu können. Der fast zwangsläufige zweite Krieg Nebukadnezars war dann an Grausamkeit kaum zu überbieten.
Kindern wurden vor den Augen ihrer Eltern die Gliedmaßen abgeschlagen. Über Tage andauernde organisierte Massenvergewaltigungen in Jerusalem sind belegt. Der mächtigsten Kriegsmaschinerie der damaligen Zeit hatte Israel so rein gar nichts entgegenzusetzen.
Gott mit uns? Wie konnte Jahwe das zulassen?
„Du sollst dir kein Bildnis machen“: Was für BILDER denn?
Das Buch des Propheten Hesekiel entsteht NACH dieser Katastrophe, nach dieser Gaskammer der Antike. Ein Prophetenbuch mit dem Wissen über das Geschehene,
gekleidet als Voraus-Schau: Das wird euch geschehen!
Und das ist nicht einmal gelogen, denn:
Die Vergangenheit führt in die Gegenwart
und beeinflusst die Zukunft.
Aus der Rückschau nach vorn sehen:
So kann man verstehen, verarbeiten, Leben gestalten. Das Grundkonzept der Psychotherapie, auch wenn es noch über 2500 Jahre dauern sollte, bis Siegmund Freud die „erfand“.
Sehen wir hinein in diese Therapiestunde der Antike.
Ich lese Stücke aus den Kapiteln 2 und 3:
3 Du Menschenkind, ich sende dich zu den abtrünnigen Israeliten und zu den Völkern, die von mir abtrünnig geworden sind.
Sie und ihre Väter haben sich
bis auf diesen heutigen Tag gegen mich aufgelehnt.
4 Und die Kinder, zu denen ich dich sende, haben harte Köpfe und verstockte Herzen. Zu denen sollst du sagen: »So spricht Gott der HERR!« 5 Sie gehorchen oder lassen es – denn sie sind ein Haus des Widerspruchs –, dennoch sollen sie wissen, dass ein Prophet unter ihnen gewesen ist.
Sie gehorchen oder lassen es.
Sie sind ein Haus des Widerspruchs.
Nicht heute, nicht vor gut hundert Jahren, sondern schon zu Zeiten des Propheten.
Harte Köpfe und verstockte Herzen.
Acker voller Dornen, Felder voller Steine, Wege ohne Schutz.
Keine guten Bedingungen für das Wort Gottes.
Aber: Es bleiben seine, Gottes, KINDER.
Darum soll Hesekiel sich aufmachen in dieses „Haus des Widerspruchs“. Ohne Furcht vor Worten oder Taten, die aus diesem Haus heraus passieren werden.
HÖRT: „SO spricht er Herr!“
Oder anders: Hände in den Schoß legen, weil ja doch nichts zu ändern ist – das gilt nicht. Gott gibt die Chance auf Neubeginn, auf Neuausrichtung, auf Umkehr. HÖRT ENDLICH ZU! Jetzt!
Ge-horchen kommt erst nach dem Hören. Wenn sie nicht tun, was Hesekiel sagt – das wäre keine wirklich große Überraschung. Doch es ist nicht zu spät; darum sollen die im Hause des Widerspruchs wenigstens zum Zuhören GENÖTIGT werden, wenigstens dazu. Sie sollen merken, „dass ein Prophet unter ihnen gewesen ist“.
Dass sie hätten wissen KÖNNEN.
Das Wort ist gesprochen. Wer Ohren hat, der höre. Endlich.
Hesekiel weiter:
8 Aber du, Menschenkind, höre, was ich dir sage, und widersprich nicht wie das Haus des Widerspruchs…
9 Und ich sah, und siehe, da war eine Hand gegen mich ausgestreckt, die hielt eine Schriftrolle. 10 Die breitete sie aus vor mir, und sie war außen und innen beschrieben, und darin stand geschrieben Klage, Ach und Weh.
3, 1 Und er sprach zu mir: Du Menschenkind, iss, was du vor dir hast! Iss diese Schriftrolle und geh hin und rede zum Hause Israel! 2 Da tat ich meinen Mund auf und er gab mir die Rolle zu essen 3 und sprach zu mir: Du Menschenkind, gib deinem Bauch zu essen und fülle dein Inneres mit dieser Schriftrolle, die ich dir gebe.
Gegen sich ausgestreckt eine Hand. Gegen, nicht für. Denn was die Hand hält, das will kein Mensch haben. Eine Schriftrolle, randlos und beidseitig beschrieben mit dem Leid der Welt. Sowas will niemand hingehalten bekommen, sowas will man sich vom Leib halten. Am besten wäre es, man wäre lebenslang verschont von Klage, Ach und Weh. Kein Wunder, dass Hesekiel diese Hand nicht nur nicht mag, sondern sie als Bedrohung gegen sich empfindet.
Aber es kommt noch schlimmer. Iss diese Schriftrolle! Gib deinem Bauch zu essen! Fülle dein Inneres damit! Schon mal versucht, ein wenig Einwickelpapier mitzuessen? Mit einem leckeren Happen Käse zum Beispiel? Sehr unangenehm.
Nur reden wir hier nicht von ein wenig Einwickel-Papier. Papier gab es damals im Mittelmeerraum noch nicht. Vielleicht war die Rolle aus Papyrus? Ein pflanzliches Erzeugnis, die Fasern zusammengehalten mit speziell entwickeltem Klebstoff, beschrieben mit Farben aus Ruß und Gummi arabicum. Ganz sicher nur sehr wenige Vitamine…
Vielleicht war die Rolle auch aus Pergament? Wie Leder wird auch Pergament aus Tierhäuten hergestellt, die man aber ungegerbt in eine Kalklösung legt, damit Haare, Oberhaut und anhaftende Fleischreste abgeschabt werden können. Anschließend wird die Oberfläche mit Bimsstein geglättet und mit Kreide geweißt. Ganz bestimmt nicht weniger ungesund als Papyrus. Man weiß aber nicht, ob Pergament zu Zeiten Hesekiels schon erfunden war. Aber es ist egal ob Papyrus oder Pergament oder auch nur Einwickelpapier…
Nicht nur essen, nicht nur Magen und Darm soll Hesekiel mit dieser Rolle versorgen. Sein ganzes Inneres soll er damit füllen. Klage, Ach und Weh nicht nur im Bauch, sondern auch im Herzen, bis die Galle überläuft, auch im Kopf, bis kein anderer Gedanke mehr denkbar ist außer Klage, Ach und Weh: Der ganze Hesekiel randvoll davon.
Unfassbar, was Hesekiel da geschieht. Niemand von uns würde wohl in seiner Haut stecken wollen. Und manch einer wird schon ängstlich fragen, ob es tatsächlich SEIN Gott sei, der einem Menschen diesen Alptraum beschert.
Doch genau so unbegreiflich wie alles bisher war, so unbegreiflich auch der nächste Satz:
3b Da aß ich sie, und sie war in meinem Munde so süß wie Honig.
Die ungenießbare, giftige Speise wandelt sich in ihr Gegenteil. Der, der den Propheten stets fast liebevoll mit „du Menschenkind“ anredet, meint es dann endlich doch gut mit ihm. Selbst Klage, Ach und Weh, alle Bitterkeiten des Lebens, werden süß wie Honig.
Meine Schwestern, meine Brüder,
Menschen haben sich durch die Jahrtausende ihre Gottesbilder gemacht. Diesen Göttern haben sie dann gedient und sich an ihnen ergötzt, bis es ihnen über war. Dann nahmen sie ihre Bilder, falteten sie zusammen und steckten sie sich in die Tasche.
Um sie dann hin und wieder heraus zu nehmen und mit ihnen zu reden. Irgendwann haben sie dann aber festgestellt, dass diese Bilder ihnen keine Antwort gaben. Und dann haben sie ihre Taten dem EWIGEN UNENDLICHEN zum Vorwurf gemacht: Wie konntest Du das zulassen? Wie konntest Du die Menschen überhaupt jemals von der Leine lassen?
Wie kannst Du zulassen, dass heute, jetzt, doppelt so viele Kinder im Krieg leben müssen wie noch vor 25 Jahren? 415 Millionen, mehr als das fünffache der Bevölkerung Deutschlands. Den Eltern weggenommen, zu Kindersoldaten gemacht, sexueller Gewalt ausgesetzt, als Sklaven weggeschleppt. Wie kannst du die Menschen von der Leine lassen?
Der Vorwurf gegen Gott ist schnell gesprochen.
Gottes WORT hören aber wollten stets nur wenige:
Kinder mit harten Köpfen und verstockten Herzen. Das Haus des Widerspruchs. Wer Gott zu kennen meint, kennt ihn nicht. Wie alles verstörend die Begegnungen mit Gott wirklich sind, haben wir gerade bei Hesekiel gelesen.
Nichts daran war gewollt, erwartet oder erahnt.
Die Mahnung Karl Barths hat also nichts von ihrer Aktualität verloren. Wer immer meint, Gott zu kennen, kennt ihn nicht. Kein Pfarrer, kein Bischof, kein Papst. Jeder, der Gott zu nahe tritt, wird blind für ihn.
Menschen müssen das Haus des Widerspruchs VERLASSEN, um Gott zu begegnen. Harte Köpfe und verstockte Herzen hinter sich lassen. Um dem Unfassbaren, Ewigen, Unendlichen endlich zu begegnen.
Schon seinem Wort zu begegnen ist verstörend unfassbar
und unfassbar verstörend!
Gottes Wort spricht von einer unendlich starken Liebe.
Die seine Menschenkinder von der Leine lässt. Dass sie in Freiheit ihre Tage leben können. Und an jedem ihrer Tage, wirklich an jedem, in Freiheit zu ihm zurückkehren können.
Sie bleiben IMMER SEINE Kinder.
Selbst WENN sie es besonders „schlimm getrieben“.
Seine Liebe kennt kein Ende.
Sein Wort spricht von der Gnade, die in Jesus Christus neben uns tritt.
Gnade, die in wirklich ALLEM und wirklich JEDEM
das, was Schönheit ist, sieht, weckt und groß werden lässt.
Selbst WENN sie es besonders „schlimm getrieben“.
Seine Gnade findet, was wir niemals finden könnten.
Durch Gottes Wort weht die Kraft der Gemeinschaft des Heiligen Geistes.
Der Menschen zusammenführt, die geöffnet worden sind,
um der Größe Gottes endlich zu begegnen. Endlich im Raum, endlich in der Zeit.
Der sie aufrichtet, stärkt, kräftigt, sie vom Kopf auf die Füße stellt.
Selbst WENN sie es besonders „schlimm getrieben“.
Sein Geist weht ÜBERALL, wenn ER es nur will.
Gottes Liebe, Gnade und Geist –
sie sind so unfassbar mächtig,
dass sie unser aller Klage, Ach und Weh
süß wie Honig machen.
AMEN