Den kompletten Gottesdienst können Sie hier für vierzehn Tage nachhören.
Schlechte Hirten
vor ihnen wird gewarnt
sie bringen ihr Schäflein ins Trockene
weiden sich selbst
Wölfe im Schafspelz
Der gute Hirte
Glücksfall für die Menschen
seine Herde
ist seine Leidenschaft
sein Leben
wird ihr Leben
durch seine Liebe
Der gute Hirte
wer ihn kennt
lernt sie kennen
Misericordias Domini
die Barmherzigkeit des Herrn
Christus spricht:
Ich bin der gute Hirte.
Meine Schafe hören meine Stimme, und ich kenne sie,
und sie folgen mir;
und ich gebe ihnen das ewige Leben.
(Johannes 10,11a.27-28a)
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Dienstag, 18. April, Nachrichten Inforadio vom rbb: „Im Erzbistum Freiburg sind mindestens 540 Kinder und Jugendliche Opfer von sexualisierter Gewalt geworden. Das hat eine unabhängige Kommission zur Aufarbeitung ermittelt: Man gehe von mehr als 250 Priestern aus, die des Missbrauchs schuldig seien oder beschuldigt werden. Es habe nachweislich Vertuschung gegeben – und es kann von einem großen Dunkelfeld ausgegangen werden.“
Mich erinnert dieser „Hirten-Sonntag“ von Jahr zu Jahr schmerzlicher daran, dass irgendetwas nicht in Ordnung zu sein scheint im Verhältnis
zwischen „Herde“ und „Hirten“.
Sicher, es gibt viele Gründe von Menschen, den großen Kirchen durch Austritt nicht nur den Rücken zuzukehren, sondern auch die manchmal sehr kalte Schulter zu zeigen.
Ärger über Kirchensteuern, politische Stellungnahmen, Ärger in konfessionellen Kindergärten, Schulen, Krankenhäusern oder Altenheimen: Ärger über Entscheidungen der Kirchen im Allgemeinen und über das „Bodenpersonal“ der Kirchen im Besonderen.
Und auch ich selbst kann mich diesem Ärger nicht entziehen, obgleich „Ärger“ eigentlich ein zu schwaches Wort ist. Denn für mich geht es nicht um Unbehagen, Groll oder Missfallen oder was immer dieses Wort „Ärger“ noch alles bedeutet oder bedeuten kann. Für mich geht es eher um Erschütterungen, um eine Art Erdbeben in meiner Glaubenswelt.
Dabei erschüttert mich der Missbrauch von Kindern und Jugendlichen, egal wo er passiert. Neben in Kirchen und ihren Einrichtungen geschieht er in Kindergärten, Schulen, Chören, Vereinen, ja sogar in den Familien, die doch eigentlich der Raum größten Schutzes für alle Glieder der Familien sein sollen.
Unsäglich, dass Menschen in der Lage sind, anderen Menschen etwas anzutun, vor dem sie sich selbst mehr als vor dem Tod fürchten. Das erschüttert mein Bild von der Welt als Schöpfung Gottes, von der Gen 1,31 – zu recht! – sagen kann: „Und Gott sah an alles, was er gemacht hatte, und siehe, es war sehr gut.“
Mein Verdacht, das Wort „unmenschlich“ verdunkelt, dass all die Gewalt, die Übergriffe, die Erpressungen von Leib und Seele nicht „unmenschlich“, sondern „menschlich“ sind, weil offenbar kein Tag vergeht, an dem auf dieser Welt menschengemachter Terror gegen Menschen geschieht – dieser Verdacht wächst und wird von Jahr zu Jahr in mir größer.
Noch heftiger aber erschüttern meine Glaubenswelt Vorfälle wie die des Eckart Giebeler. Dabei beschreibt der Artikel, der in der aktuellen Ausgabe unserer Kirchenzeitung zu lesen ist, nicht alles:
Pfarrer Giebeler war der einzige von ehemals drei übrig gebliebene Gefängnis-Pfarrer, den es von 1966 bis 1990 in der DDR gab. Bereits im Februar 1953 stellte ihn das Innenministerium der DDR im Range eines Majors in seinen Dienst, von 1959 bis 1989 arbeitete er als IM Roland für das Ministerium für Staatssicherheit. Seine Berichte füllten 15 Aktenordner mit je ungefähr 300 Seiten.
„Berichtsgegenstände“ waren Gefangene, Mitarbeiter der Gefängnisse, Mitarbeiter der Kirchen. Man weiß, dass er allein nach 1983 neben seinem ganz sicher nicht schmalen Majors-Gehalt für seine noch gute 20.000 Mark von der Stasi bekam. Dass er 1976 die Medaille des MfS für treue Dienste in Gold erhielt und noch 1989 den Vaterländischen Verdienstorden der DDR in Silber.
Giebeler, sein Dienstsitz war unser Gefängnis hier auf dem Görden, viele aus Brandenburg kannten ihn persönlich, hat alle Arbeit für das Ministerium für Staatssicherheit bis zu seinem Tod 2006 bestritten.
Das allerdings vorher meine Kirche alles unternommen hätte, um aufzuklären, habe ich nicht bemerkt. Ja, einfach war das nicht – er war ja seit 1953 nicht mehr Pfarrer der Kirche, sondern Major des Innenministeriums. Doch musste es bis 2022 dauern, bis sich ein Bischof meiner Kirche mit ehemaligen Häftlingen traf, die unter Giebeler gelitten haben und noch leiden? Und wie lange dauert es noch, bis darüber ein offizielles Wort zu hören ist?
Ja, das erschüttert meine Glaubenswelt noch tiefer als andere „Unmenschlichkeiten“. Dass diese Welt nicht nur wunderschön, sondern auch unsäglich grausam ist, ist schwer genug zu ertragen. Doch muss es in MEINER Kirche auch so zugehen?
Es gibt Tage, an denen aufwache und Angst bekomme. Angst, dass synodale Diskussionen über Tempolimits für Mitarbeitende oder die Zulassung ausschließlich klimaneutraler Dienstfahrzeuge oder die Suche nach Verantwortlichen für Daten- oder Arbeitsschutz einen höheren Stellenwert einnehmen könnten als die Wahrung des Seelsorge- und Beichtgeheimnisses oder gar als die sonntägliche Predigt in unseren Gottesdiensten.
Was stimmt nicht im Verhältnis zwischen Herde und Hirten? Mir hilft da der Predigttext für heute weiter. Ich lese aus dem ersten Brief des Petrus
Kapitel 5 die vorgegebenen Verse 1-4:
1 Die Ältesten unter euch ermahne ich, der Mitälteste und Zeuge der Leiden Christi, der ich auch teilhabe an der Herrlichkeit, die offenbart werden soll:
2 Weidet die Herde Gottes, die euch anbefohlen ist, und achtet auf sie, nicht gezwungen, sondern freiwillig, wie es Gott gefällt, nicht um schändlichen Gewinns willen, sondern von Herzensgrund,
3 nicht als solche, die über die Gemeinden herrschen, sondern als Vorbilder der Herde.
4 So werdet ihr, wenn erscheinen wird der Erzhirte, die unverwelkliche Krone der Herrlichkeit empfangen.
Für „Älteste“ steht übrigens das griechische Wort Presbyter, für „Mitältester“ Sympresbyter. Das war noch zu Zeiten, als es noch keine Landeskirchen, keine Synoden, kein Wahl- oder Pfarrerdienstgesetz gab. Nicht mal eine katholische Weltkirche.
Für manch einen mögen das „goldene Zeiten“ gewesen sein, doch je größer die Christenheit und mit ihr „die Kirche“ wurde, desto mehr hab es zu regeln, desto mehr Gesetze und feste Strukturen entstanden.
Das ist menschlich nachvollziehbar und darum auch logisch und nichts Schlechtes. Das „Schlechte“ hat seine Ursache auch nicht in menschlichen Strukturen. Die entstehen doch eher, weil Menschen versuchen, das „Schlechte“ irgendwie zu erschweren und das „Gute“, was immer das sein mag, zu fördern.
Das „Schlechte“ aber ist offenbar schon OHNE Kirchenstrukturen sichtbar: Luther übersetzt in Vers 2 „schändlicher Gewinn“, die Einheitsübersetzung spricht von „Gewinnsucht“.
Gemeindeleitung war angesichts gesellschaftlichem Gegenwindes und bereits beginnender erster Christenverfolgungen keine einfache Sache. Sicher setzte sich eine Gemeindeleitung auch nicht einfach selbst ein, eine irgendwie geartete Wahlhandlung ist schon für damalige Zeiten wahrscheinlich. Leitungsdienst war schon immer eine freiwillige Sache und hätte immer Herzenssache sein müssen.
Ganz offenbar hatte die Gemeindeleitung aber auch schon immer mit der Verwaltung von finanziellen Mitteln zu tun, und genau hier kommt nahezu automatisch das „Schlechte“ in Reichweite: Wer Vermögen verwaltet, kann in Versuchung geraten. Von Bevormundung anderer Gemeindeglieder über falsch verstandenem Mitteleinsatz bis hin zur Veruntreuung.
Petrus lässt nun keinen Zweifel daran, wie der einzige Auftrag lauten muss: Zeuge Christi zu sein so dafür zu sorgen, dass „die Herde“, also JEDE und JEDER in ihr, Teilhaber der künftigen Herrlichkeit Gottes werden kann. „Weiden“ heißt das im Bild von Herde und Hirten.
Was das nun im Einzelnen bedeutet, kann lang und heiß diskutiert werden. Da wird man auch über Tempolimit und Formate der Gemeindearbeit reden und streiten.
Nicht verhandelbar in der Leitungsarbeit aber sind die theologische Zielsetzung, die Glieder der Gemeinde an der Herrlichkeit Gottes Anteil haben zu lassen, die gottgefällige Freiwilligkeit aus dem Grunde des eigenen Herzens und der stete Versuch, Vorbildfunktion für die Anderen auszuüben.
Nun könntet ihr sagen, dass alles sei eher etwas für eine Klausurtagung des Presbyteriums als für eine Sonntagspredigt, und das ist zum Teil auch richtig.
Doch zum anderen Teil betrifft es eben alle hier: Beteilige ich mich an einer Wahl zum Presbyterium, stelle ich mich selbst zur Verfügung, wen werde ich wählen, welches Klima in meiner Gemeinde wünsche ich dadurch zu unterstützen: Das geht uns alle an.
Denn die Antwort auf DIESE Fragen wird ausschlaggebend dafür sein, welches Herz in dieser Gemeinde schlägt. Ob sie Heimat der Menschen sein kann, die in ihrem Leben nach dem dreieinen Gott fragen – oder ob sie das eben nicht ist.
Und dazu hat Petrus noch einen weiteren Rat, ich lese noch kurz weiter:
5 Desgleichen ihr Jüngeren, ordnet euch den Ältesten unter.
Alle aber miteinander bekleidet euch mit Demut…
Dass Unterordnung der Jüngeren keinen Herrschaft der Ältesten bedeutet, daran lässt Petrus keinen Zweifel: DEMUT ist das „Zauberwort“. Für mich ist Demut das Gegenteil von Herrschen.
Unser Wort „Demut“ kommt schließlich vom althochdeutschen diomuoti‚ das bedeutet „dienstwillig“. Die Bestandteile des Wortes lassen sich weiter herunterbrechen in die beiden Wörter „dienen“ (dionōn) und „Mut“ (muot). Mut zum Dienen, das bedeutet konkret: Den Mut aufzubringen, seine eigenen Überzeugungen und Prinzipien denen eines Anderen nicht nur unterzuordnen, sondern SICH unterzuordnen und für einen Anderen zu ARBEITEN, zumindest sich für ihn ANZUSTRENGEN.
Demut aber schreibt Petrus nicht nur den Jüngeren, sondern auch und damit gerade den Presbytern, den „Ältesten“ ins Stammbuch. ALLEN in der Herde.
Das widerspricht auch nicht der biblischen Überzeugung vom Priestertum ALLER Gläubigen. Denn jede und jeder hat SEINEN Leithammel, und jede und jeder IST ein Leithammel für jemanden, einige oder viele. Demut bedeutet aber begriffen zu haben: Leithammel ist Manches, vielleicht Vieles, aber eines nicht: Hirte.
Unser Textquerschnitt heute zu Miserikordias Domini ist da völlig, klar, von „der HERR ist mein Hirte“ (Psalm 23) über „GOTT…will (sich seiner) Herde selbst annehmen“ (Ez 34,11) bis zur theologisch stringenten Feststellung, dass nur CHRISTUS allein „guter Hirte“ sein kann (Wsp und Ev Joh 10):
HIRTE und damit HERRSCHER ist nur der DREIENE, und wenn es überhaupt so etwas wie „Unterhirten“ geben sollte, sind sie Leithammel, egal wieviele „Schafe“ ihnen folgen mögen. Das gilt übrigens auch für Pastoren: Pastor ist lateinisch, übersetzt: Hirte – hier liegt das Problem schon im Wort selbst.
Meine Schwestern, meine Brüder,
zurück zur Anfangsfrage: Was ist nicht in Ordnung zwischen Herde und Hirten? Besser: Zwischen DER Herde und DEM Hirten?
Leitungsarbeit in den Presbyterien ist auch heute nicht leicht. Für viele von uns ist das „Weiden der Herde Gottes“ sogar eine schwere Last geworden.
Da ist so viel Frust: Sinkende Mitgliederzahlen, beängstigende Gleichgültigkeit, mangelndes Interesse nicht nur an kirchlichem, sondern jedem gemeinschaftlichen, also über die eigene Kleinfamilie hinausgehenden Leben, Mangel an Finanzen und so weiter und so fort.
Wie kann dabei Freude aufkommen bei denen, die sich in die Verantwortung für die Gemeinde rufen lassen? Und machen wir uns nichts vor: Wenn den Ältesten die Freude abhanden kommt, wie kann sie die Herde haben? Bekommen? Behalten?
Mir schreibt Petrus ins Stammbuch: Hier herrscht Mangel an Demut! Woher aber kommt der? Warum fehlt der Mut zum Dienen?
Der fehlt wohl immer öfter, weil menschliches und unmenschliches Fehl-Verhalten in der Herde bei vielen
den Verdacht nährt, der Hirte wüsste nicht mehr, wo frisches Wasser und saftige Weide zu finden wären. Der Blick der Herde haftet an irgendwelchen Leithammeln, anstatt nach dem Hirten Ausschau zu halten.
Aber lasst euch erinnern:
Die Liebe Gottes, die Gnade unseres Herrn Jesus Christus und die Gemeinschaft des Heiligen Geistes
lassen uns ALLE Quelle und Weide finden.
Das ist jeden Dien-Mut wert.
AMEN