Selbst dabei sein (Psalm 111,4)

„Er hat ein Gedächtnis gestiftet seiner Wunder,
der gnädige und barmherzige Gott“:

Das Passafest,
Fest der Befreiung Israels
aus der Sklaverei Ägyptens
und des Bundes Gottes mit seinem Volk.

Der Gründonnerstag,
Fest der Befreiung der Menschheit
aus der Sklaverei von Schuld und Tod
und des Bundes Gottes mit uns.

Das wird jetzt lebendig werden:
„ Er hat ein Gedächtnis gestiftet seiner Wunder,
der gnädige und barmherzige Gott.“

Wir haben ihn heute schon mehrfach gehört, den Spruch dieses Gründonnerstags. Es ist der vierte Vers aus dem 111. Psalm:
“Er hat ein Gedächtnis gestiftet seiner Wunder, der gnädige und barmherzige Herr.”
Darüber möchte ich heute mit Ihnen nachdenken.

Das ist schon ein merkwürdiger Anfang: „Er hat ein Gedächtnis gestiftet…“. Denn so redet doch heute kein Mensch mehr.

„Ick jeh ma stiften“ sagt der Berliner, wenn er das Weite sucht. Aber „stiften“ im Sinne von „eine Stiftung einrichten“ – also etwa eine große Geldsumme einsetzen, um einen besonderen Förderzweck zu unterstützen: Dazu muss man ja erst einmal einen Steuerberater anstellen, um zu wissen, wie das funktioniert. Und abgesehen davon braucht man auch das nötige Großgeld für so eine Stiftung, sonst funktioniert sie ja nicht.

Und dann gibt es ja Stiftungen, bei denen es einem zunächst
schwerfällt, ihren Sinn nachzuvollziehen. Bei der LIDL- Stiftung zum Beispiel. Oder der ZF- Stiftung von ZF- Getriebe, die ja auch in unserer Stadt ein größeres Werk haben.

Über den Zweck der Gründonnerstag-Stiftung wird man allerdings auch eine Weile nachdenken müssen. Er ist genannt: „Gedächtnis seiner Wunder“. Was kann das meinen?

Über das „Gedächtnis“ redet man oft, vor allem, wenn es einen im Stich lässt. Wenn man sich an etwas nicht erinnern kann, so sehr man sich auch darum müht. Mein Vater jammert oft über Englisch-Vokabeln, die ihm nicht einfallen wollen. Noch schlimmer ist es allerdings, wenn einen sein Gedächtnis Stück für Stück verlässt und nicht wieder zurück kommt, weil man krank ist.

Andere mögen darüber ihre Witze machen und lachen. Also, wenn Du dich nicht erinnern kannst, ist doch nicht so schlimm: Hast Du eben jeden Tag eine neue beste Freundin. Aber auf diese Sorte Abwechslung kann der, dessen Gedächtnis schwindet, ziemlich sicher verzichten.

„Gedächtnis“ hat schließlich etwas mit „Denken“ zu tun. Und dabei ist das bloße Erinnern nur ein Teil des Ganzen, wenn auch ein wichtiger.

Wenn ich mir zum Beispiel Urlaubsbilder ansehe, nehmen meine Augen eine Unmenge von Informationen auf: Landschaften, Formen, Farben, Gesichter.

Mein Gedächtnis erinnert dann: Das Blaue da ist Wasser, ein Ozean. Dieser Felsen da vorn ist Teil einer Steilküste. Er ist Ocker, so etwas gibt es an der Südküste Portugals. Dieser Mensch da ist meine Frau Elisabeth. ,

Das ist der erste Teil der Gedächtnisarbeit: Das Erinnern. Dann aber kommt ein zweiter Teil: Das Lebendigmachen. Denn keiner würde sich Urlaubsfotos so gerne ansehen, wenn damit nicht mehr verbunden wäre als die pure Erkenntnis. „Dieses Bild stellt den atlantischen Ozean an der Algarve mit Frau Koopmann im Vordergrund dar.“

Mit dieser sachlichen Erkenntnis werden nämlich auch Emotionen verknüpft, die dann wach werden. Ich weiß nicht nur, ich fühle plötzlich auch etwas von dem, was da war:
Urlaub. Entspannung. Sonnenschein. Wärme. Wind. Salziges Wasser. Wellen. Gemeinschaft.
Nicht zuletzt: Freude war da. Freude über einen Moment, über einen Ort, an einem Menschen, mit dem ich seit fast 33 Jahren verheiratet bin.

Wenn das Erinnern nicht funktioniert, kann auch das Lebendigmachen nicht mehr funktionieren. Dann würde ich das Foto vielleicht noch ansehen können, meine Augen würden Informationen in mich hineinleiten. Aber es würde nur wie ein erstes Sehen sein. Wenn ich mich nicht mehr erinnern könnte, würde ich nicht einmal mehr wissen, ob ich all das schon gesehen habe.
Da wäre kein Lebendigwerden, da wäre nicht einmal Staunen. Denn auch dazu gehört Erinnern.

Und genau so, wie es mit dem Sehen ist, ist es auch mit dem Hören oder dem Riechen oder dem Schmecken. Eine schöne Musik ist nur eine Ansammlung von Tönen, wenn es keine Gedächtnisarbeit meines Gehirns dazu gibt. Lieder, Symphonien, Geräusche – ohne Gedächtnis wären sie nichts.

Duft wird zum Duft, weil das Gedächtnis erinnert und lebendig werden lässt, was frisch gemahlener Kaffee ist. Oder mein Lieblingsrasierwasser. Zitronencreme ohne Erinnerung an ihren Geschmack wäre nicht meine Lieblingsspeise.

Unser Gedächtnis macht unser Leben zu dem, was es ist, zu dem, was wir lieben oder fürchten.

Ein Gedächtnis stiftet der Gründonnerstag. Einige Bibelübersetzungen habe es moderner versucht als die Lutherbibel oder die Zürcher, die wir Reformierte oft benutzen.

Die Neue Genfer übersetzt zum Beispiel: „Er hat Gedenktage festgelegt…“  Das versteht man zunächst wirklich besser. Aber meint es dasselbe?

Gedenktage gibt es schließlich eine Menge, einige davon sind sogar Feiertage- also Tage, an denen man nicht arbeiten muss wie am Gründonnerstag. Da hätte man Zeit zum Nachdenken.

Aber fragen Sie mal Leute auf der Straße, was zu Pfingsten gefeiert wird. Oder zu Ostern. Selbst zum Thema Weihnachten würde der regelmäßige Gottesdienstbesucher seine traurigen Überraschungen erleben.

Gedenktage sind keine Garantie für gute Gedächtnisleistung. Sie können dabei helfen- mehr aber sicher nicht.

„Gedächtnis stiften“ ist also mehr als „Gedenktage festlegen“. Viel mehr. Denn „Gedächtnis” erinnert/ und macht lebendig. Wenn es gut läuft sogar so, als wäre man selbst in diesem Augenblick dabei.

Noch besser funktioniert es, wenn man sich gemeinsam an etwas erinnert. Viele Menschen lieben Klassentreffen, sie feiern gern Jubiläumskonfirmationen, sie begegnen sich mit ehemaligen Kollegen oder Kameraden. Dazu nimmt man schon mal Reisen um die halbe Welt in Kauf, nimmt sich Urlaub, bereitet sich besonders vor.

Ist man dann zusammen, werden Ereignisse von damals lebendig. Alte erinnern sich durch Gespräche, durch Fotos oder Erzählungen. Jüngere, die dabei sind, fühlen sich an einen anderen Ort in eine andere Zeit versetzt. Irgendwie sind sie mit dabei, obwohl sie nicht dabei waren.  Das Geschehene wird geradezu wieder lebendig. Es ist, als würde man etwas noch einmal erleben. Oder beim Erleben von anderen selbst mit dabei sein.

So etwas könnte man „kollektives Gedächtnis“ nennen. Also ein Gedächtnis, was sich aus dem Erinnern und dem Lebendigwerden vieler Einzelner speist.

Und genau hier kommen wir der Bedeutung unseres Psalmverses ganz nah: Kollektives Erinnern und Lebendigmachen – darum geht es hier.

Andererseits geht es hier um kein Ehemaligentreffen. Keine Goldene Konfirmation, kein Klassentreffen, kein Betriebsjubiläum.

Es geht um „das Gedächtnis seiner Wunder“. Es geht also um die großen Taten Gottes. Die werden als „Wunder“ bezeichnet. Damit wird deutlich: Diese Taten Gottes sind so etwas Großes, dass Menschen sie nicht selbst vollbringen können.

Für den Psalmisten gehört zu den größten Wundern Gottes die Befreiung des Volkes Israel aus der Sklaverei Ägyptens. Die vierzig Jahren des Umherirrens in der Wüste, die das Volk dennoch nicht umbrachten. Das Ankommen in einer neuen Heimat, das Geschenk des Landes, in dem „Milch und Honig fließen“.

Diesem Wunders gedenkt Israel bei den jährlichen Feiern zum Passafest. Vielleicht mag sich der eine oder die andere gewundert haben, dass im Gottesdienst zum Gründonnerstag gerade diese Stelle aus dem Buch Exodus (2. Mose 12) gelesen wird, in der etwas über die Feier des Passahmahles geschrieben ist.  Aber wenn der Psalmist über das „Gedächtnis seiner Wunder“ redet, meint er sicher zuallererst das: Die Feier des Passamahles.

Denn gerade hier geschieht es: Es entsteht das „Gedächtnis seiner Wunder“. Indem sich die Gemeinde zum Feiern trifft, erfüllt sie natürlich zuerst den Wortlaut eines Gebotes: „Ihr sollt diesen Tag als Gedenktag haben / und sollt ihn feiern als ein Fest für den HERRN,/ ihr und alle eure Nachkommen, / als ewige Ordnung.“

Aber in diesem Fest geschieht kollektives Gedächtnis. Niemand von denen, die leben, ist dabei gewesen bei diesem legendären Auszug. Aber in der Feier dieses Festes wird aus der fernen Vergangenheit Gegenwart. Die zusammengetragenen Erinnerungen werden so intensiv, dass sie lebendig werden. Es ist dann mit einem Male so, als wäre man selbst dabei gewesen – vor tausenden von Jahren.

Gott hat „ein Gedächtnis gestiftet seiner Wunder“: Für die, die das Passafest feiern, wird ein Gotteswunder lebendig. Nicht nur einfache Erinnerung. Man fühlt sich an einen anderen Ort in anderer Zeit versetzt. Man erlebt mit Sehen, Hören, Riechen, Schmecken.  Gerade so, als sei man selbst dabei.

Genau das erleben Jesus und seine Jünger: Sie sitzen zur Feier des Passamahles zusammen. Sie werden Teil des Gedächtnisses ihres Volkes an das große Wunder Gottes. Sie sind dabei mit all ihren Sinnen: Sie sehen, hören, riechen, schmecken. Gerade so, als seien sie dabei. SELBST. JETZT.

Da nimmt Jesus Brot und Wein des Passamahles, spricht Worte dazu, reicht sie seinen Jüngern weiter: „Das tut zu MEINEM Gedächtnis.“

Damit geschieht eine Weitung über das Volk Israel hinaus: Die Gemeinde Jesu wird in dieses Fest hineingenommen. Und zu dem großen Wunder der Befreiung Israels aus der Sklaverei kommt das große Gotteswunder der Person Jesu hinzu:

Gott kommt in ihm uns Menschen so nah, dass wir seine Liebe selbst spüren können. Jesus stirbt für uns, damit wir frei von aller Last und Schuld unser Leben mit Gott leben können. Jesus wird von den Toten auferweckt, damit auch wir von den Toten auferweckt werden können.

Das Gedächtnis an dieses Wunder Gottes wird die Feier des Abendmahles.
Die Befreiung aus der Sklaverei Ägyptens wird Wirklichkeit.
Für Jede und Jeden von uns.
Jetzt.
Die Befreiung aus der Sklaverei von Schuld und Tod wird Wirklichkeit.
Für Jede und Jeden unter uns.
Jetzt.

Denn hier ist mehr als einfaches Erinnern. Hier geschieht Gedächtnis. Kollektives Gedächtnis. Hier ist man mit allen Sinnen dabei:
Wir sehen, hören, riechen, schmecken.
Wir tun das im Kollektiv mit denen, die mit uns feiern.

Dieses kollektive Gedächtnis aber ist darum ewig, weil der auferstandene Christus sich selbst/ birgt in Brot und Kelch. Geheimnis des Glaubens, das lebendig wird durch das „Gedächtnis seiner Wunder“.
Wir sind dabei.
Jetzt.
Immer:

„Der Herr Jesus, in der Nacht, da er verraten ward,
nahm er das Brot, dankte und brach’s und sprach:
Das ist mein Leib, der für euch gegeben wird;
das tut zu meinem Gedächtnis.
Desgleichen nahm er auch den Kelch nach dem Mahl
und sprach:
Dieser Kelch ist der neue Bund in meinem Blut;
das tut, sooft ihr daraus trinkt, zu meinem Gedächtnis.
Denn sooft ihr von diesem Brot esst und aus dem Kelch trinkt, verkündigt ihr den Tod des Herrn, bis er kommt.“ (1. Kor 11)

Alles geschieht jetzt, wenn wir das heilige Mahl feiern.
Das ist Gnade, das ist Barmherzigkeit.

Ja: “Er hat ein Gedächtnis gestiftet seiner Wunder, der gnädige und barmherzige Herr.”  Das wird unsere Herzen und Sinne bewahren in Christus Jesus. Lebenslang und ewig.
AMEN

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