Ihr Geliebten! (1. Joh 4, 7-12)

Weil Menschen denken, wie sie denken
reden, wie sie reden
handeln, wie sie handeln
ächzt die Schöpfung
leiden Menschen Qualen
sterben vor der Zeit

Die Liebe sagt in Christus:
Was ihr getan habt einem
von diesen meinen geringsten Brüdern,
das habt ihr mir getan.
Matthäus 25,40
***
Gleich zu Beginn der Predigttext aus dem 1. Brief des Johannes Kapitel 4, die Verse 7-12, heute in eigener Übersetzung:

7 Ihr Geliebten!
Lasst uns einander lieb haben, weil die Liebe aus Gott kommt. Und jeder, der liebt, der ist aus Gott geboren und kennt Gott.
8 Wer nicht liebt, der kennt Gott nicht, weil Gott die Liebe ist.
9 Die Liebe Gottes ist unter uns erschienen,
weil Gott seinen eingeborenen Sohn gesandt hat in die Welt,
damit wir durch ihn leben sollen.
10 Liebe besteht nicht darin,
dass wir Gott geliebt hätten,
sondern dass er uns geliebt hat.
Er hat uns seinen Sohn
zur Versöhnung für unsre Sünden gesandt.
11 Ihr Geliebten!
Hat uns Gott so geliebt,
so sind wir es schuldig, dass wir uns auch untereinander lieben.
12 Niemand hat Gott jemals gesehen.
Wenn wir uns untereinander lieben, so bleibt Gott in uns, und seine Liebe ist in uns vollkommen.

GOTT ist Liebe. Punkt, Amen. So ist es, da gibt es nichts zu widersprechen. Während Luther noch meinte, diese Worte seien ihm zu hoch, hat sich der Kirchgänger von heute längst an sie gewöhnt. Und im August eines Jahres, in dem die Epistellesungen Predigttexte sind, wird mancher jetzt in seinem Gedächtnis herumkramen: Hatten wir das so ähnlich nicht schon vor ein paar Wochen?

Ja, hatten wir, und auch da war es klar: GOTT ist Liebe – dieser Satz MUSS stimmen. Alles, was Gott tut, wird mit dem Begriff Liebe in Verbindung gebracht. Viele reden darum ja auch vom „lieben Gott“.

Also ist hier die Sache mit dem Gottesbild endlich einmal auf dem Punkt gebracht. Wer bisher noch keine Gottesdefinition hatte: Der Christengott ist die Liebe in Person. Da muss man nicht mehr meterbreite Dogmatiken aus dem Bücherschrank ziehen: Einfach und kurz, so geht es auch.

Liebe ist DAS Thema des Lebens, das Alter spielt dabei keine Rolle. Und es geht vielen, vielleicht sogar allen, auch wirklich nahe.

Am vergangenen Mittwoch (17.8.16) ist der in Canada geborene Arthur Hiller gestorben. Seinen wohl größten Erfolg feierte er 1970, als er die Regie im Streifen „Love Story“ führte. Die tragische Geschichte zweier Liebenden, die gemeinsam ihr Leben angehen und planen, dann aber durch den frühen Tod der Frau auseinandergerissen werden, und den berühmt gewordenen Satz des Trauernden zu seinem Vater: Liebe bedeutet, niemals um Verzeihung bitten zu müssen. Dieser Film brachte nicht nur Oscars, sondern seitdem Millionen von Menschen zum Weinen.

Das ist der Stoff, der immer sein Publikum findet. Von „O sole mio“ über „All you need is love“ bis „Ich brauch dich jetzt“ hat wohl jeder sein Liebeslied im Ohr.

Und entsprechende Bilder vor den Augen: Menschen, die sich in die Arme fallen; Freudentränen, die fließen; Mann und Frau am Strand, die gemeinsam in den Sonnenuntergang wandern. Nicht nur sonntags 20:15 Uhr im Herzkino.

Christliche Plakate oder Kalenderbilder zu „Gott ist Liebe“ fallen einem ein; Tautropfen auf in allen Farben blühenden Blumen oder wogende Getreidefelder im Sonnenaufgang oder fröhliche Menschen vor festlicher Kulisse.

Liebe: Die muss einfach göttlich sein. Diese Töne, diese Bilder: Nichts kann daran falsch sein. Wer sie trägt, trägt Gutes in sich. Wer das Weizenfeld gegen den blauen Himmel in der Sonne sieht, wer funkelnde Tautropfen wahrnimmt und sich darin die unendliche Liebe Gottes entdecken kann, trägt Gutes im Herzen. Wer den Geflüchteten in unserem Land begegnet, und in ihnen Menschen mit ganz eigener Schönheit und Würde in Gottes Schöpfung entdeckt, der hat Gutes vor.

Es IST gut, dass dieser Satz ist /wie ein tief in den Boden gerammter Pfahl, den kein Sturm beiseite wehen kann. Gott ist Liebe: Hier wird behauptet, was wir gern glauben wollen. So soll es sein. Punkt!

Aber „auf den Punkt“ gebracht ist hier gar nichts. Wir sind hier nicht bei Paulus, sondern in der Theologen-Schule des Johannes. Und die WILL nichts auf den Punkt bringen, sondern sie will um den Punkt HERUMLAUFEN. Ein um das andere Mal, mal mit großem Abstand, mal mit kleinem, mal schnell, mal langsam. Wieder und wieder.

Überall, wo im Neuen Testament „Johannes“ in der Buchüberschrift steht, geht es darum, neue Perspektiven zu entdecken, um Gott näher zu kommen. Im Johannesevangelium ebenso wie in der Offenbarung oder hier in den Johannesbriefen.

Das kann wichtiger sein als zu schnell auf den Punkt zu kommen: Sich möglichst genau darüber klar zu werden, wohin man eigentlich auf dem Weg ist.

Es hat wohl einen Grund, dass die griechische Kirche die Pastoralbriefe, zu denen auch die Johannesbriefe gehören, gleich hinter der Apostelgeschichte, noch vor den Paulusbriefen in die Bibel einordnet. Das ist Zeichen einer großen Wertschätzung und der Hinweis, dass man sie nicht zu schnell überlesen sollte.

Lasst uns also nicht vorschnell an dem Satz hängen bleiben, den so viele kennen und lieben. Lasst uns mit Johannes um das Thema Gottes Liebe kreisen.

Gleich die ersten Worte scheinen mir wichtig. Sie sind auch der Grund, warum ich heute meine eigene Übersetzung mitgebracht habe: Ihr Geliebten!

In der Lutherübersetzung steht da: Ihr Lieben! und in der Neuen Genfer: Meine Freunde! Beides erweckt den Eindruck einer Anrede. Also genauso, als wenn ich sage: Liebe Gemeinde! Und alle deutschen Bibelübersetzungen, die ich habe, machen das genauso.

Aber das steht da im griechischen Urtext nicht. Da steht nur ein Wort, das präzise übersetzt heißt: Geliebte!

Hier geht es gar nicht um eine ANREDE, sondern um eine BESCHREIBUNG. Es geht NICHT um die Beziehung zwischen dem Briefschreiber auf der einen und den Lesern auf der anderen Seite. Es geht um den ZUSTAND der Leser.

Sie sollen lesen, was sie SIND: Geliebt! Und zwar nicht von „Johannes“, sondern von dem, um den es in allem geht: Von Gott. Das ist kein Liebesbrief des „Johannes“. Das ist ein Brief über die Liebe Gottes.

Und genau die wird dann beschrieben, um DIE geht er herum, einmal und noch mal und noch mal. Um die Geliebten und den Liebenden.

Zuerst: Gottes Liebe sollte uns zum Nachdenken bringen.
Lasst uns einander lieb haben, weil die Liebe aus Gott kommt. Und jeder, der liebt, der ist aus Gott geboren und kennt Gott.
Denn wenn Gott die Liebe in Person ist, wenn Gott seine Menschen liebt, wenn die sagen, sie würden ihn lieben – dann müssten sie anders leben als sie es ganz offenbar tun.

Genau das war auch die Botschaft des Evangeliums vom Barmherzigen Samariter. Jesus sagt: In der Liebe kann man sich nicht einfach nur sonnen. Liebe muss getan werden. Auch wenn sie Mühe macht. Also packt es an – wie der Mann aus Samaria angepackt hat.

Der Wochenspruch hat die gleiche Stoßrichtung. Jesus sagt: Was ihr getan habt einem von diesen meinen geringsten Brüdern, das habt ihr mir getan.

Es kann im Glauben nicht darum gehen, einen Lehrsatz um den anderen zu verinnerlichen, ein Gebet um das andere zu sprechen, in klösterlicher Abgeschiedenheit die Nähe Gottes zu suchen. So wird niemand die Nähe Gottes finden, die Sünde überwinden.

Liebe muss GETAN werden, wenn man es ernst meint mit der Liebe zu Gott. Er ist die Liebe in Person- was anderes könnte man also tun als zu lieben?

Dann: Die Liebe ist die TAT Gottes.
9 Die Liebe Gottes ist unter uns erschienen,
weil Gott seinen eingeborenen Sohn gesandt hat in die Welt,
damit wir durch ihn leben sollen.
Nicht: Damit wir Gott zurücklieben sollen. Seine Liebe wäre ja sonst abhängig davon, dass wir Menschen ihn lieben. Aber wahre Liebe ist von ihrem Wesen eben NICHT auf Gegenliebe ausgerichtet. Christus hat uns erlöst, damit wir LEBEN. Die Liebe leben.

Weiter zum vielleicht Wichtigsten:
10 Liebe besteht nicht darin,
dass wir Gott geliebt hätten,
sondern dass er uns geliebt hat.
Wahre Liebe ist nur möglich, weil GOTT uns liebt. Wir Menschen sind aus uns heraus dazu gar nicht in der Lage. Wer bei sich selbst anfängt, Liebe zu definieren, trifft ihr Wesen nicht.

Gott, der durchaus nicht liebenswerte Geschöpfe vorfindet, hat ganz einseitig den Anfang einer neuen Geschichte gemacht:
Er hat geliebt, er hat versöhnt, er hat befreit.

Vers 11 setzt noch einmal an:
11 Ihr Geliebten!
Hat uns Gott so geliebt,
so sind wir es schuldig, dass wir uns auch untereinander lieben.

Schuldig: Nicht um Gottesschau geht es im Leben. Wenn es denn eine Pflicht Gott gegenüber gibt, dann die, seine -Gottes!- Menschen zu lieben.

Geschwisterliebe ist keine Minimalforderung, die auf einen Kreis eingegrenzt wäre, in dem man den Überblick behalten könnte. Geschwisterliebe ist im Gegenteil oft die schwerste Liebe. Denn hier geht es NICHT um die Menschen, deren Gegenwart wir selbst wählen, für die wir uns entscheiden.

Wer sich auskennt in seinen „Geschwisterkreisen“, der weiß, wovon ich rede: Die, die weiter entfernt leben, lassen sich in der Regel leichter lieben.

Das ist es, was u.a. den Charme der Kirchentage ausmacht. Das ist es wohl auch, wenn man nach dem Grund fragt, warum seit der Wende in Deutschland Gemeindepartnerschaften nach Afrika oder Asien höher im Kurs stehen als die althergebrachten in den anderen Teil Deutschlands.

Geschwisterliebe ist gerade KEINE Art Insider-Klüngel, wo sich liebt, was den gleichen theologischen oder erbaulichen Geruch hat und die gleiche Partei wählt. Jeder Mensch ist Teil des Ebenbildes Gottes und muss von uns auch so behandelt werden. Wenn wir denn das Leben nicht verpassen wollen.

Denn schließlich: Geschwisterliebe ist Gotteserfahrung.
Wenn wir uns untereinander lieben, so bleibt Gott in uns, und seine Liebe ist in uns vollkommen.
Als in der Schweiz 1942 die Politiker ihre restriktive Politik gegenüber jüdischen Flüchtlingen mit dem Bild des übervollen kleinen Rettungsbootes begründen (wie wenig die Bilder sich verändert haben!), reagiert der Schweizer Pfarrer Walther Lüthi mit den Worten:

„Allein in der Stadt Basel werden laut amtlicher Statistik über dreitausend noch wohlgenährte Hunde gefüttert. Ich mag ihnen ihr Essen wohl gönnen. Aber solange wir in der Schweiz noch bereit sind, unser Brot und unsere Suppe und unsere Fleischration mit vielleicht hunderttausend Hunden zu teilen, und haben gleichzeitig Sorge, einige zehntausend oder auch hunderttausend Flüchtlinge würden für uns nicht mehr tragbar sein, ist das eine Einstellung von hochgradiger Lieblosigkeit.“

Wie kann man- im gleichen Atemzug!- Angst vor Flüchtenden und Angst um die Existenz des christlichen Abendlandes schüren?

Meine Schwestern, meine Brüder,

noch näher zurück zu uns. So sehr Menschen sich nach Liebe sehnen, genauso scheitern sie beim Lieben. Für viele enden die wunderbaren Gefühle schon dann, wenn nicht Mann und Frau, sondern zwei Männer Hand in Hand in den Sonnenuntergang gehen.

Auch der Glaube, Gott sei die Liebe selbst, ist oft genug harten Proben ausgesetzt. Die Fragen, wo Gott in Auschwitz gewesen sei oder beim Leukämietod  des kleinen Mädchens nebenan oder beim Terror in Aleppo, reißen nicht ab.

Liebe ist schwer, das ist die Realität, und das ist die Realität unseres Lebens. Davon haben wir auch im Lied vor der Predigt gesungen. Die Rotte der Feinde und Widersacher, Sturm und Wellen: Das ist der Alltag.

Was hätte Kain gesagt, wenn ihm jemand den Satz gesagt hätte: Gott ist Liebe, also liebe deinen Bruder? Ob das seinen Zorn gegen Abel und dessen scheinbare Bevorzugung durch Gott abgekühlt hätte?

Was hilft uns, wenn wir es oft schon schwer genug haben, uns selbst leiden zu können, geschweige denn den stets nervenden Nachbarn?

Wenn man bis zum Hals drinsteckt in leidvollem Streit, hilft dann die Mahnung: „Lasst uns einander lieb haben“? Wird dann der Schmerz, sich von der Liebe Gottes und damit dem Ziel des Lebens immer weiter zu entfernen, nicht größer und größer?

Wir würden aber Johannes falsch verstehen, wenn wir ihn als Mahnung lesen würden. Erinnert euch: Am Anfang stand das Wort: Geliebte!

Johannes sagt: ERINNERT Euch! Macht die Augen auf! Und beschreibt zuallererst und immer neu die Größe der Tat Gottes.  Gott liebt seine Menschen ohne Unterschied, unter Einsatz seines Lebens. Darum feiern wir doch Weihnachten, das sehen wir doch am Kreuz!

Liebe ist also das Wunderwerk Gottes in einer gefallenen Welt. Und sie geschieht Tag um Tag, Stunde um Stunde neu. Dass wir trotz allem jeden Tag neu lieben dürfen, ist Gottes Tat – für uns.

Die erst macht Menschen frei, wirklich zu lieben. Gegen allen Schein. Gegen alle Lieblosigkeit. Darum das Kreuz. DAS will Johannes in das Bewusstsein der Menschen rufen. Das steht am Anfang, das steht am Ende. Ihr SEID die „Geliebten“!

Die Liebe Gottes, die Gnade unseres Herrn Jesus Christus und die Gemeinschaft des Heiligen Geistes –
sie sind es doch, die unsere Herzen und Sinne bewahren,
jetzt und ewig.  AMEN

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