Unseren Karfreitagsgottesdienst zum Nachhörn finden Sie für vierzehn Tage hier.
DER TOD greift das Leben an
ein Tag wie so unendlich viele
Menschen opfern Menschen
für ihr Leben
oder das, was sie dafür halten
Tag für Tag neu
Karfreitag
KEIN Tag wie irgend-ein anderer
MENSCHEN greifen das Leben an
Gott leidet aus Liebe
der Tod seines Sohnes
seine Tat für seine Menschen
So sehr
hat Gott die Welt geliebt,
dass er seinen eingeborenen Sohn
gab,
damit alle, die an ihn glauben,
nicht verloren werden,
sondern das ewige Leben haben.
(Joh 3,16)
***
Ausgeliefert, ohnmächtig, die Angst in den Knochen.
Besonders eindrücklich habe ich das einmal erlebt,
als ich mit der Bundeswehr in Afghanistan war.
Ein junger Mann in Kabul wagte einen Neuanfang.
Seit er denken kann, war Krieg. Schon als Kind: In manchen Nächten explodierten bis zu sechstausend Granaten in seiner Stadt. Seine Schule verlor von Woche zu Woche mehr Klassenzimmer, bis es sie überhaupt nicht mehr gab.
Dann schloss er sich den Mudschaheddin an. Vierzehn war er, die Kalaschnikow war ihm viel zu schwer. Wie viele Gebete er gesprochen hatte, kann er nicht zählen. Aber Allah hat sie erhört: Er hat überlebt.
Seit ein paar Jahren war dieser Krieg nun zu Ende. Er wusste danach nicht, was er mit sich anstellen sollte – hatte er doch außer dem Kriegshandwerk nichts gelernt. Dass er eine Frau gefunden hatte, inzwischen Vater einer Tochter war, hat ihn am Leben gehalten.
Dass seine Frau auch die Familie ernährte, konnte aber so nicht weitergehen: Der Mann ist doch dafür verantwortlich, hatte er von seinen Eltern gelernt. Also beschloss er, selbst zu arbeiten. Nur was?
Er war im Krieg immer der Beste gewesen, wenn die Verschlüsse der Sturmgewehre defekt waren – irgendetwas fiel ihm ein, um sie wieder gängig zu machen. Auch wenn die Jeeps nicht mehr fuhren – irgendwie bekam er fast alles hin. So hatte er seine Geschäftsidee: Er begann, Autos umzubauen. Rechtslenker aus Indien oder Pakistan zu Linkslenkern für Afghanistan.
Das war eine Heidenarbeit, aber irgendwann warf das Geschäft sogar Gewinn ab. Sogar viel, dass er sich einmal pro Woche Fleisch für die inzwischen vierköpfige Familie und das Schulgeld für die große Tochter leisten konnten.
Aber dann kam der Kleinfürst mit zwei Bewaffneten, und der forderte von ihm 50% seines Umsatzes. Des Umsatzes, nicht seines Gewinns! Wie soll das gehen? sagt er. Dann bleibt mir nichts, überhaupt nichts, ich kann auch keine Teile mehr kaufen, die ich doch zur Arbeit brauche. Er hat sich nicht verrechnet. Das geht wirklich nicht.
Doch der Kleinfürst hat ein starkes Argument: Die Kalaschnikows seiner Leibwächter zielen auf seine Kinder, seine Frau, den jungen Mann selbst. Ausgeliefert ist er, ohnmächtig und voller Angst.
Deutsche Soldaten der ISAF- Schutztruppe werden Zeugen dieses Leibwächterbesuchs. Ein Soldat will eingreifen, doch sein Patrouillen- Führer hält ihn zurück. Ihr Auftrag ist ein anderer.
Sie werden den beobachteten Vorgang melden, aber tun dürfen sie nichts.
Mit der Angst haben sie ja gelernt, irgendwie umzugehen – sie verstecken sie unter der 18 Kilo schweren Splitterschutzweste, dem Helm, dem geladenen Sturmgewehr, den gefüllten Magazinen. Selbst darunter kriecht sie öfter und öfter hervor, die Angst.
Und nur wenige von ihnen haben noch gelernt, zu beten.
Wie aber sollen sie zuhause erklären, dass sie zugesehen haben? Auch sie fühlen sich plötzlich ausgeliefert und ohnmächtig. Und als sie mir das erzählen, geht es mir nicht viel besser.
Anderen Menschen hilflos ausgeliefert zu sehen, es gar selbst zu sein: Ihrer Macht, ihren Schlägen, ihren zynischen Sprüchen. Nicht die Spur einer Möglichkeit, dieses Ausgeliefertsein irgendwie zu beenden. Ohnmächtig, voller Angst…
Gekidnappte englische Soldaten, Geiselnahmen unter zivilen Aufbauhelfern, gefolterte Menschen in irakischen Gefängnissen, Guantanamo, Massenvertreibungen sind weitere Beispiele aus diesen Tagen damals. Jede Zeit hat sie, ihre Gaskammern und Scheiterhaufen. Kein Land, kein Tag, keine Zeit auf dieser Welt,
die das nicht mit ansehen müsste, was Menschen in der Lage sind, Menschen anzutun.
Gibt es Schlimmeres?
Unfall, Krankheit, Naturkatastrophe –
vielleicht bringen auch sie den Tod.
Aber da trifft es mich meist zufällig, vielleicht habe ich auch selbst eine Mitschuld, mit meinem Leben fahrlässig umgegangen zu sein.
Aber wenn ein Mensch einem anderen Gewalt antut: Gewollt, geplant, voller Hass, völlig überflüssig: Gibt es etwas Schlimmeres?
Matthäus erzählt uns eine Geschichte aus seinen Tagen.
33 Und als sie an die Stätte kamen mit Namen Golgatha, das heißt: Schädelstätte, 34 gaben sie ihm Wein zu trinken mit Galle vermischt; und da er’s schmeckte, wollte er nicht trinken.
35 Als sie ihn aber gekreuzigt hatten, verteilten sie seine Kleider und warfen das Los darum. 36 Und sie saßen da und bewachten ihn. 37 Und oben über sein Haupt setzten sie eine Aufschrift mit der Ursache seines Todes: Dies ist Jesus, der Juden König.
38 Da wurden zwei Räuber mit ihm gekreuzigt, einer zur Rechten und einer zur Linken. 39 Die aber vorübergingen, lästerten ihn und schüttelten ihre Köpfe 40 und sprachen: Der du den Tempel abbrichst und baust ihn auf in drei Tagen, hilf dir selber, wenn du Gottes Sohn bist, und steig herab vom Kreuz!
41 Desgleichen spotteten auch die Hohenpriester mit den Schriftgelehrten und Ältesten und sprachen: 42 Andern hat er geholfen und kann sich selber nicht helfen. Er ist der König von Israel, er steige nun herab vom Kreuz. Dann wollen wir an ihn glauben. 43 Er hat Gott vertraut; der erlöse ihn nun, wenn er Gefallen an ihm hat; denn er hat gesagt: Ich bin Gottes Sohn.
44 Desgleichen schmähten ihn auch die Räuber, die mit ihm gekreuzigt waren.
45 Von der sechsten Stunde an kam eine Finsternis über das ganze Land bis zur neunten Stunde. 46 Und um die neunte Stunde schrie Jesus laut: Eli, Eli, lama asabtani? Das heißt: Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen? 47 Einige aber, die da standen, als sie das hörten, sprachen sie: Der ruft nach Elia.
48 Und sogleich lief einer von ihnen, nahm einen Schwamm und füllte ihn mit Essig und steckte ihn auf ein Rohr und gab ihm zu trinken. 49 Die andern aber sprachen: Halt, lasst uns sehen, ob Elia komme und ihm helfe!
50 Aber Jesus schrie abermals laut und verschied.
Fast gehetzt, nur das wichtigste in Stichpunkten.
So, als wolle er uns die schlimmsten Einzelheiten ersparen.
Jesus aus Nazareth, ohne Schuld gefoltert.
Ohne faires Verfahren verurteilt –
INRI – Jesus Nazarenus Rex Judaeorum,
Jesus aus Nazareth König der Juden.
Einfach so an Holzbalken genagelt und aufgehängt.
Cruci fixus – ans Kreuz fixiert.
Es ist die sechste Stunde,
es kommt die siebente Stunde, die achte.
Leute ziehen vorbei, von Mitleid scheinbar keine Spur.
Ja, es war vielen sogar recht:
Die Römer sorgten für ihre Ruhe im Land.
Die radikalen Juden waren einen pazifistischen Wanderprediger los. Wer das Schwert in die Hand nimmt wird durch das Schwert umkommen? Dann sieh mal, wie Du jetzt so ganz ohne Schwert da runterkommst!
Die gemäßigten jüdischen Führer konnten ihre Vormachstellung wenigstens vorübergehen festigen. Es ist besser, einer stirbt – sonst kommen die Römer und nehmen uns Land UND Leute!
Und der Mob auf der Straße und an den Stammtischen hatte es längst mit der Angst zu tun bekommen:
Wenn Blinde sehen, Lahme gehen,
ja – wenn nicht einmal der Tod noch todsicher ist –
was bleibt denn noch übrig von der Macht und den Sicherheiten des kleinen Mannes?
Beißenden Spott – den haben sie schon eher übrig. Ah, Psalmen beten, das kann er. Steig doch runter, wenn du was drauf hast.
Dann werden wir dich anbeten. Beweise sie doch, deine göttliche Allmacht!
Die neunte Stunde: Jesus stirbt an Herzversagen. Sein total überstreckter Körper meint es gut mit ihm. Mancher hat tagelang lebendig dort gehangen, den stärksten brachen die Römer irgendwann die Oberschenkel, damit sie sich nicht mehr auf die Nägel in den Füßen stellen konnten.
So kam der Tod wenigstens irgendwann, und man konnte die Wache am Kreuz beenden – endlich Dienstschluss, zurück in die Kaserne.
Jedes Jahr am Karfreitag bin ich neu erschrocken. Erschrocken über das, was geschah. Gab es jemals eine grausamere Hinrichtungsmethode als diese?
Aber manchmal denke ich auch: Haben die Römer nicht Hunderte, vielleicht gar Tausende so hingerichtet? Hatte Jesus nicht geradezu einen gnädigen Kreuzestod – nach nur drei Stunden? War seine Angst am Kreuz eine wirklich größere, eine wirklich andere als die des jungen Mannes in Afghanistan?
Ausgeliefert und ohnmächtig vor Angst:
Menschen sind es, die Menschen so etwas antun.
Die Krone der Schöpfung als Teufel seiner Artgenossen.
Schon immer. Und wohl immer wieder, so lang diese Welt sich dreht.
Warum stellt Gott Das Menschsein so auf die Probe? Damit wir merken, wie schnell die Freiheit, die uns geschenkt ist, zur Katastrophe für den Nächsten werden kann? Menschliche Entscheidungsfreiheit als Massenvernichtungswaffe?
Ja, gut. Diese Lektion hätten wir begriffen.
Was aber nun?
Selbst wenn wir uns selbst lebenslang unter Kontrolle behalten, selbst wenn wir anderen zu Hilfe kommen:
Wird es uns nicht gehen wie den deutschen Soldaten, die nichts weiter tun können, als den Vorfall zu melden?
Karfreitag: Wirklich schwarzer Freitag. Gesetzlich geschützte Ruhe. Auch in den Tanzsälen und Diskotheken. Aus mit Gartenpartys und Lagerfeuern – bis morgen in die Osternacht. Bleiben sie dadurch fern: Ohnmacht und Angst?
Matthäus sagt uns: Gott kennt Ohnmacht, er kennt Angst – er hat sie am eigenen Leibe erlitten. In seinem Sohn, an diesem Galgen der Römer.
Aber Matthäus sagt uns noch mehr. Eine plötzliche Finsternis stellt sich ein. Kein Mensch kann sagen, woher sie plötzlich kommt. Alle aber erleben sie, mitten am Tag. Auch die, die nicht am Kreuz vorbeilaufen.
Nach Jesu Tod geschieht noch mehr.
Ich lese den Schluss des Predigttextes:
51 Und siehe, der Vorhang im Tempel zerriss in zwei Stücke von oben an bis unten aus. Und die Erde erbebte, und die Felsen zerrissen, 52 und die Gräber taten sich auf und viele Leiber der entschlafenen Heiligen standen auf 53 und gingen aus den Gräbern nach seiner Auferstehung und kamen in die heilige Stadt und erschienen vielen.
54 Als aber der Hauptmann und die mit ihm Jesus bewachten das Erdbeben sahen und was da geschah, erschraken sie sehr und sprachen: Wahrlich, dieser ist Gottes Sohn gewesen!
Meine Schwestern, meine Brüder:
Das ist die Karfreitagspredigt des Matthäus, seine Deutung dessen, was da am Kreuz geschah. Gott bringt die gesamte Ordnung des Kosmos zum Wanken: Zu der Finsternis der Sonne kommen Erdbeben und Erdrutsche, die ewige Ordnung des Lebens und Sterbens gerät ebenso aus den Fugen wie die heilige Ordnung des Tempels, als der Vorhang vor dem Allerheiligsten zerreißt und den Blick hinein freigibt.
Diesen Tod hat Gott zwar am eigenen Leibe erlitten. Seinen Sohn hat er den Menschen zur Folter überlassen. Nun aber wird er
keinen der Steine mehr auf den anderen lassen, die Menschen zur Sicherung ihrer kleinen Lebensordnung aufeinandergeschichtet haben.
Selbst das Hinrichtungskommando am Kreuz kann sich dieser Wahrheit nicht entziehen, der römische Hauptmann bringt es auf den Punkt: Dieser war wirklich Gottes Sohn!
Die Festen dieser Welt sind erschüttert, Gott macht einen Neuanfang. Ausgeliefert, ohnmächtig vor Angst, das schlimmste, was Menschen sich antun können: Selbst hier bleibt Gott Herr des Geschehens. Allmacht in der Ohnmacht.
Er gewährt am Karfreitag einen Blick durch den zerrissenen Vorhang ins Allerheiligste, er lässt erkennen, was seine Herrschaft von allen anderen dieser Welt unterscheidet.
Die schärfste Waffe der Mächte dieser Welt ist der Tod.
Gottes schärfste Waffe aber ist das Leben:
Tote stehen auf und erscheinen vielen.
Die Welt hat mit dem Kreuz das absolute Ende ihrer Macht erreicht, ihre allerletzte Karte gespielt.
Die Macht Gottes reicht unendlich viel weiter.
ER bekommt den letzten Stich.
Das geschieht am Karfreitag – sichtbar für die ganze Welt.
Die Liebe Gottes, die Gnade unseres Herrn Jesus Christus und die Gemeinschaft des Heiligen Geistes
sind Gottes neue Ordnung dieser Welt. AMEN
LIED O Welt, sieh her, dein Leben 84: 1.5.7
1. O Welt, sieh hier dein Leben
am Stamm des Kreuzes schweben,
dein Heil sinkt in den Tod.
Der große Fürst der Ehren
lässt willig sich beschweren
mit Schlägen, Hohn und großem Spott.
5. Du nimmst auf deinen Rücken
die Lasten, die mich drücken
viel schwerer als ein Stein;
du wirst ein Fluch, dagegen
verehrst du mir den Segen;
dein Schmerzen muss mein Labsal sein.
7. Ich bin, mein Heil, verbunden
all Augenblick und Stunden
dir überhoch und sehr;
was Leib und Seel vermögen,
das soll ich billig legen
allzeit an deinen Dienst und Ehr.