Plagiat? (Phil 2 6-11)

Unseren Gottesdienst Palmarum zum Nachhören finden Sie für vierzehn Tage hier.

Palmsonntag
so ist diese Welt
gestern, morgen
Hände
schwingen Palmzweige
ballen sich zur Faust
Münder
rufen Hosianna
schreien kreuzige ihn
immer

Doch
Jesu Weg in das Dunkel des Menschseins
wird zum Weg Gottes
zum Licht der Welt
ewig

Der Menschensohn muss erhöht werden,
auf dass alle, die an ihn glauben,
das ewige Leben haben.
Joh 3,14b.15
***
Ungefähr eine halbe Million Worte kennt die deutsche Sprache. Genau weiß das sicher niemand, aber die Aussagen der Experten, die sich mit Sprache beschäftigen, treffen sich da ungefähr.

Ungefähr ein Zehntel davon, so um die 50.000 Worte, dürfte der passive Sprachwortschatz eines Menschen umfassen. Das meint die Worte, die er selbst verstehen kann, ohne im Wörterbuch nachschlagen zu müssen.

Der aktive Sprachwortschatz liegt dann schon nur noch irgendwo zwischen 20- und 35.000 Worten. Rein rechnerisch bringt es ein Muttersprachler also nicht einmal auf einen Wortschatz von 10% seiner Muttersprache.

Das ist wohl einer der Gründe, warum es mir oft schwer fällt, mich richtig auszudrücken. Also so, dass mein Gegenüber nicht nur versteht, was ich SAGE, sondern möglichst auch, was ich MEINE.

Dabei rede ich nicht nur vom Predigtschreiben. Gerade da ist es mir natürlich wichtig, dass ihr wenigstens eine genauere Ahnung von dem bekommt, was ich euch zu sagen versuche.

Und so sitze ich oft viele Stunden an so einer Zwanzig-Minuten-Rede, und trotzdem wird es sicher nicht selten vorkommen, dass mich viele von euch nicht verstehen. Vielleicht eben auch deshalb, weil manche der 50.000 Worte, die ich verstehe und benutze, nicht die Worte sind, mit denen ihr tagtäglich umgeht.

Nun hat man im Alltag nur selten Stunden Zeit, um über ein paar vernünftige Worte oder Sätze nachzudenken. Und auch die Tagesform entscheidet mit, ob einem ordentliche Sätze leichter oder schwerer aufs Papier oder über die Lippen kommen.

Mir hilft es darum immer wieder sehr, wenn ich auf Sätze, Lieder oder Zitate zurückgreifen kann, die sich mir eingeprägt haben, weil sie mir einleuchten und darum wichtig geworden sind.

Wenn ich sie nutze, tue ich das in der Hoffnung, dass ich mit diesen fremden Worten besser und zu verstehen bin als wenn ich lange nach eigenen Worten suchen würde. Und in der Hoffnung, dass diese fremden sogar etwas davon sagen, was ich selbst noch nicht oder nicht so ganz verstanden habe.

Das fängt schon bei meinem Morgengebet an. Ich bin mir sicher, dass beispielsweise einige Liedstrophen, die ich im Gedächtnis habe, in dem Moment am Morgen treffender sprechen als ich selbst sprechen könnte.

Zum Beispiel die:
„Führe mich, o Herr, und leite meinen Gang nach deinem Wort. Sei und bleibe du auch heute mein Beschützer und mein Hort. Nirgends als von dir allein kann ich recht bewahret sein.“

So dichtete 1642 Heinrich Albert, heute in unserem Gesangbuch zu finden (EG 445: 5). Ja, mehr kann ich doch für einen neuen Tag gar nicht erbitten! Warum sollte ich es also mit eigenen, vielleicht gar fahrigen Worten schlechter ausdrücken, wenn ich diese schönen fremden Worte habe?

Und gerade jetzt hat das noch einen weiteren Vorteil: Weil auch einige unter euch diese Strophe kennen und mögen, habt ihr sie vielleicht eben selbst mitgedacht oder leise mitgesprochen, vielleicht habt ihr sogar die Melodie dafür im Ohr: Gott des Himmels und der Erden.

Und dann bete nicht nur ich allein, sondern es beten mehrere mit mir, mit gleichen Worten, sind sich mit mir vor Gott einig in dieser Sache. Ich finde das einfach wunderbar und einen wichtigen Grund zu feiern, dass das Gesangbuch gerade 500 Jahre alt wird, weil wir damit GEMEINSAM beten und singen können.

Ich denke, es geht den meisten Menschen mit dem Rückgriff auf fremde Texte ähnlich. Auch bei uns hier in der Kirche. Schließlich singen, beten und bekennen wir ja darum oft gemeinsam. Psalmen, Lieder, die Antwort auf Frage 1 des Heidelberger oder das apostolische Glaubensbekenntnis, das Unservater.

Und vielleicht nutzt ihr beim Morgen-, Abend- oder Tischgebet ja auch gerne auswendig gelernte fremde Texte. Sie bringen eben oft besser etwas auf den Punkt als man selbst es könnte.

Darum nutzt wohl auch Paulus dann und wann Liedtexte. Man ist sich weitgehend einig, dass unser Bibeltext für heute zwei Strophen eines damals bekannten Christushymnus umfasst.
Ich lese jetzt dessen erste Strophe, sie ist in Phil 2 in den Versen 6-8 zu finden. Hier die Übertragung aus „Die Gute Nachricht“:

6 (CHRISTUS)… war in allem Gott gleich,
und doch hielt er nicht gierig daran fest,
so wie Gott zu sein.
7 Er gab alle seine Vorrechte auf
und wurde einem Sklaven gleich.
Er wurde ein Mensch in dieser Welt
und teilte das Leben der Menschen.
8 Im Gehorsam gegen Gott
erniedrigte er sich so tief,
dass er sogar den Tod auf sich nahm,
ja, den Verbrechertod am Kreuz.

Der erste Teil dieser Hymnus-Strophe findet sich in unserem Weihnachtslied „Lobt Gott, ihr Christen alle gleich“ wieder. Nikolaus Hermann nimmt in Strophe 3 (EG 27) unseren Philippertext auf und dichtet:

„Er äußert sich all seiner G‘walt, wird niedrig und gering und nimmt an eines Knechts Gestalt, der Schöpfer aller Ding – der Schöpfer aller Ding.“

Die GANZE Strophe im Philipper-Hymnus hilft mir aber vor allem deshalb weiter, weil ich in ihr etwas von dem erahnen kann, was in der Karwoche geschieht. Der Palmsonntag heute ist ja deren Anfang.

Jesus stehen nun die tiefsten Abgründe seines Lebens bevor. Gerade noch ist er umjubelt von Menschen wie ein König in Jerusalem eingezogen. Doch jetzt:

Der Abschied von Menschen, die ihm am Herzen hängen.
Verrat, Verhaftung, Verleugnung. Verspottung.
Schließlich ein öffentliches, ausgestelltes Sterben
in rechtloser Einsamkeit.

Theologisch beschreiben die ersten Zeilen des Hymnus den Abstieg des Göttlichen in die tiefsten Abgründe des Menschseins. Das bezieht sich nicht einfach nur auf die äußere Erscheinung, sondern auf das innere Wesen. Der „Sklave“ hier ist nicht einfach nur eine Rolle, sondern steht für das ganze Dasein des Menschen in einer nicht erlösten Welt.

Gott sah nicht nur aus wie ein Mensch, er unterwarf sich sogar als Mensch ALLEN Gesetzen des Menschseins, indem er sich den Mächten dieser Welt auslieferte. Aus der Sicht dieser Welt stürzte ihn das ins Verderben, in den Tod am Galgen. Theologisch aber erwies sich Jesus dadurch als WAHRER Mensch.

Denn er teilte er zwar Leben und Schicksal der Menschen, verhielt sich aber anders als wirkliche Menschen. Wer den Text in der bekannten Lutherübersetzung im Ohr hat (in unserer Gesangbuchausgabe ist er unter Nummer 773 abgedruckt), findet da in Vers 6: Er „hielt es nicht für einen Raub“ , so wie Gott zu sein. Das ist eine abgeschwächte Redewendung, die ursprünglich „etwas für ein gefundenes Fressen halten“ bedeutete.

Es geht hier also darum, dass Jesus als wahrer Mensch anders als wirkliche Menschen NICHTS zum eigenen Vorteil nutzt. Hier wird vielmehr die freie und gnädige Tat Gottes in Christus beschrieben.

Damit ist der Tod als Tiefpunkt dieses Abstiegs aus der Höhe der Ewigkeit erreicht. Jesus erniedrigte sich so weit, dass er das Schicksal derer teilte, die ihr ganzes Leben Sklaven sein mussten: Sklaven der Angst vor Sinnlosigkeit des Todes, dem niemand entrinnen kann.

Das Kreuz markiert so den tiefsten Punkt des menschlichen Weges Jesu im Gehorsam gegen Gott, wodurch Gott dem ganz und gar verlorenen Menschen nahekommt und selbst das Erdenleben verliert.

Eines unserer jüngeren Passions-Lieder (Kurt Ihlenfeld schrieb den Text 1967) singt das neu und anders nach, lasst uns jetzt mitsingen:
Das Kreuz ist aufgerichtet, EG 94: 1-3

1. Das Kreuz ist aufgerichtet,
der große Streit geschlichtet.
Dass er das Heil der Welt
in diesem Zeichen gründe,
gibt sich für ihre Sünde
der Schöpfer selber zum Entgelt.
2. Er wollte, dass die Erde
zum Stern des Kreuzes werde,
und der am Kreuz verblich,
der sollte wiederbringen,
die sonst verlorengingen,
dafür gab er zum Opfer sich.
3. Er schonte den Verräter,
ließ sich als Missetäter
verdammen vor Gericht,
schwieg still zu allem Hohne,
nahm an die Dornenkrone,
die Schläge in sein Angesicht.

Weiter mit der zweiten Strophe des Philipper-Hymnus, das sind die Verse 9-11:

9 Darum hat Gott ihn auch erhöht
und ihm den Rang und Namen verliehen,
der ihn hoch über alle stellt.
10 Vor Jesus müssen alle auf die Knie fallen –
alle, die im Himmel sind,
auf der Erde und unter der Erde;
11 alle müssen feierlich bekennen:
»Jesus Christus ist der Herr!«
Und so wird Gott, der Vater, geehrt.

Diese Strophe feiert die unglaubliche Wende. Sie lobpreist die ERHÖHUNG des Gehorsamen, der zum Herrn über alle Mächte und Gewalten dieser Welt wird. Elemente des antiken Thronbesteigungszeremoniells klingen an:

Jesus, der bis in den Tod erniedrigt wurde und nun zur höchsten Höhe erhoben wird, empfängt „Rang und Namen … hoch über alle“. Jesus ist darum der Messias, der Christus. Dem durch Gott Gesalbten wird die Herrschaft über alle Mächte öffentlich und rechtskräftig übertragen.

Diejenigen, die dem erhöhten Christus huldigen, werden ALLE sein, die es gibt: „alle, die im Himmel sind, auf der Erde und unter der Erde.“ Sie WERDEN nicht nur, sie MÜSSEN am Ende der Zeit Christus als Kyrios, den einzigen Herrn von Zeit und Ewigkeit anerkennen.

Der Grund für diese Erhöhung ist hier übrigens NICHT Ostern. Das wird hier nämlich nicht einmal angedeutet. Nein, der Grund für die Thronbesteigung des Christus ist sein Gehorsam Gott gegenüber.

Dieser Gehorsam lässt ihn vom Sklaven zum Herrscher werden. Darum wird von nun an niemand mehr BESSER leben und sterben können als im Gehorsam auf den großen Plan Gottes. Und so Gott die Ehre geben, die ihm gebührt.

Meine Schwestern, meine Brüder:

Immer, wenn ich gerade in der Karwoche über das Leiden und Sterben Christi nachdenke, bleibt dieses Geschehen meinem Verstand letztendlich verschlossen.

Ja, ich meine auch Sinn und Plan des Handelns Gottes zu erkennen. Aber es bleiben für mich immer mehr Fragen offen als beantwortet wären, in mir bleibt der Widerspruch des „ja aber“ laut von Jahr zu Jahr, und ich habe nun auch schon mehr als fünf Jahrzehnte „Passionszeiterfahrung“ hinter mir.

Darum bin ich Paulus wirklich dankbar, dass er uns diesen alten Hymnus in seinem Brief überliefert hat. Dieser Lobpreis SPRICHT mit mir, lässt mich sehen, was ich allein nicht sehen kann. In diesem Lied bin ich dem Horizont meines Denkens, meines Erlebens, meiner Wirklichkeit plötzlich weit voraus – auch wenn es fast zweitausend Jahre alt ist.

So wird es für mich zu einem SCHLÜSSELTEXT in punkto Passions-Theologie. Es bringt auf den Punkt, was mir zu sagen so schwer fällt: Ohne das scheinbar sinnlose Leiden Jesu kommt die Leidenschaft Gottes, seine Passion der Liebe, nicht ans Ziel.

Dieses Lied lässt mich sehen:
Das, was in dieser Woche vor Golgatha geschehen ist, ist in DIESER Welt nichts als eine menschliche Katastrophe, von der es vorher und nachher unzählige andere und schlimme gab, gibt und geben wird.

Wie viele unschuldige Menschen starben in den Gaskammern des Dritten Reiches, wie sinnlos der Tod der vielen Menschen bei dem Terroranschlag auf das Rockkonzert vorgestern vor Moskau!

Doch was in dieser Welt eine Katastrophe ist, ist meine, ist unsere Rettung. Wer die Sklaverei der Welt aufgibt und sein Leben gehorsam in die Hände unseres leidenschaftlich liebenden Gottes legt, wer die Knie vor Christus beugt, wird frei leben können, so wie der Christus frei lebt.

Die Liebe Gottes, die Gnade unseres Herrn Jesus Christus und die Gemeinschaft des Heiligen Geistes

befreien uns aus der Sklaverei der Welt –
durch die Passion Christi.
AMEN

EG 94: 4+5
4. So hat es Gott gefallen,
so gibt er sich uns allen.
Das Ja erscheint im Nein,
der Sieg im Unterliegen,
der Segen im Versiegen,
die Liebe will verborgen sein.
5. Wir sind nicht mehr die Knechte
der alten Todesmächte
und ihrer Tyrannei.
Der Sohn, der es erduldet,
hat uns am Kreuz entschuldet.
Auch wir sind Söhne und sind frei.

 

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