Der Kompass (Röm 8 8-25)

Unser Gottesdienst am drittletzten Sonntag dieses Kirchenjahres zum Nachhören ist für vierzehn Tage hier zu finden.

Die Gefahr:
Dass Hoffnung untergeht
untergeht im Leid unserer Zeiten
dass Menschen unter Menschen verlassen sind
dass ein Leben ohne Gott ist
ohne Antwort
Die Hoffnung:
Der Tag wird kommen
wo jeder Mensch, der
je gelebt hat und lebt
Gott so sehen wird, wie er ist
Liebe, Frieden, Gerechtigkeit

GOTT lässt schon jetzt
Menschen in seinem Geist
leben im Glanz seines Reiches

Selig sind, die Frieden stiften,
denn sie werden Gottes Kinder heißen.
(WSp, Mt 5,9)
***
Bilder verfolgen mich, und sie belasten mich. Seit dem 7. Oktober, und fast täglich kommen neue dazu. Es begann damit, dass auf einer Straße mitten in Berlin Süßigkeiten an Kinder verteilt wurden – man feierte eine „großartige Aktion“ der Hamas in Israel.

Seitdem kaum ein Tag ohne Demonstrationen, die den Hamas-Terror legitimieren oder kleinreden. Ich sehe im Hintergrund den Neptunbrunnen in Berlin. Davor wehen Palästinensische Fahnen. Auf mehreren Plakaten steht zu lesen: „Vom Fluss bis zum Meer – Palästina wird frei sein“. Und ich verstehe: Vom Jordan bis zum Mittelmeer. Also auch da, wo jetzt Israel ist. GERADE da.

Es ist zu lesen auf Deutsch, auf Englisch und auf anderen Sprachen, die ich zumindest lesen kann. Arabisch aber kann ich nicht einmal lesen, was mag dann wohl auf DIESEN Plakaten und Spruchbändern noch alles stehen?

Mir wird das Blut in den Adern dickflüssig. „Wir werden Israel ins Meer treiben“ – dieser Schlachtruf der arabischen Nachbarn, der seit der politischen Neugründung Israels 1948 (eine der Folgen des ersten Weltkrieges) nie verstummte – er ist jetzt auch auf den Straßen meines Landes angekommen.

Fünfundachtzig Jahre nach der „Reichskristallnacht“ heißt es nun lapidar: Rücksichtslose Fahrradfahrer auf dem Bürgersteig? Die Polizei soll eingreifen! Aber Kommandozentralen der Hamas in den Kellern von Krankenhäusern? Israel ist doch selbst schuld!
Vom Fluss bis zum Meer! Palästina wird frei sein!
Wir haben hier schließlich Meinungsfreiheit!

Gestern dann eine Schlagzeile im Deutschlandfunk:
„Bayern verbietet Slogan „Vom Fluss bis zum Meer““.
Ach ja, die Bayern. Wieder einmal vorneweg. Sie werfen den Slogan kurzerhand in eine Kiste mit dem Hakenkreuz oder dem Hitlergruß und was da sonst noch drin liegt.

Damit kann nun jeder bestraft werden, wenn er diesen Slogan der Öffentlichkeit zeigt oder ruft, unabhängig in welcher Sprache er das tut.
Oder sie. Zumindest im Freistaat.
Die Juristen haben gesprochen.
Doch was wird sich ändern?

Es ist jetzt über vierzig Jahre her, dass die „Ökumenische Friedensdekade“ in Deutschland 1980 zum ersten Mal begangen wurde. Mancher unter uns denkt, dass sie in der damaligen DDR erfunden wurde. Doch der Impuls kam aus den Niederlanden und wurde gleichzeitig in beiden Teilen Deutschlands aufgenommen.

Auch wenn er dann in der DDR größere öffentliche Aufmerksamkeit bekam, nicht zuletzt wegen des Streites hier im Osten um den Aufnäher „Schwerter zu Pflugscharen“. An den kann sich wohl fast jeder „gelernte DDR- Bürger“ gut erinnern.

Und auch der Westen zog nach: „Es ist Zeit für ein Nein ohne jedes Ja zu Massenvernichtungswaffen“ prangte auf zehntausenden lila Halstüchern, die auf dem Kirchentag 1983 in Hannover verteilt wurden und sich vor allem gegen den Nato-Doppelbeschluss richteten.
Über die sowjetischen SS-20 zu reden war da nicht so angesagt.
Weder hüben noch drüben.

Und ich? Ich wurde vom gemusterten Bausoldaten zum totalen Wehrdienstverweigerer. Waffen richten nichts aus, machen alles nur schlimmer, da war ich mir sicher. Dann lieber 24 Monate ins Gefängnis. Ich hatte ja einen Kompass: Den Mann auf dem Aufnäher.

Die überlebensgroße Bronzeplastik eines muskulösen, nackten Mannes, der ein Schwert zu einer Pflugschaar umschmiedet. Ein Geschenk der Sowjetunion aus dem Jahr 1959 für den Garten der UNO in New York.

Diese Plastik war nun auch auf meinem Jackenärmel als Zeichnung zu sehen, kreisrund mit einem roten Rahmen. Und natürlich dem Bibelspruch aus Micha 4, der mir und allen anderen sagen sollte: Selbst die Russen lesen die Bibel.
Doch was habe ich geändert?

Kriege in Afghanistan, auf dem Kaukasus, in Tschetschenien. Kriege in Serbien, in Bosnien, in Kroatien.
Kriege im Irak, in Syrien, in der Ukraine.

Gerade dieser letzte Angriff der Russen aber lässt das Gefühl der Unsicherheit bei vielen unter uns größer werden. Größer, als es das je vorher bei Russlands Kriegen gegen Tschetschenien oder Georgien war. Und jetzt noch ein neuer Nahostkrieg.

Auch unter totalen Pazifisten – ich war nie einer – ist die alte Sicherheit „Frieden schaffen ohne Waffen“ nicht mehr ganz so sicher:
Terrorismus von Staaten oder Milizen, der Gewalt und Gegengewalt provoziert, dieser Terror formt eine Kette von Vertreibung, Gewalt, Mord, Totschlag, von unversöhnlichem Hass.
Nimmt dieses völlig sinnlose, überflüssige und vor allem menschengemachte Leid nie ein Ende?
Und was richtet man da ohne Waffen aus?
Funktioniert der pazifistische Kompass noch?
Funktioniert mein Kompass noch?

Ein beschädigter Kompass auf einem Plakat. Sein Glas ist zerbrochen, Steine und Splitter liegen unter dem Gehäuse. Ob die Nadel noch mit ihrem roten Ende nach Norden zeigen wird, wenn es darauf ankommt? Darauf würde ICH mich lieber nicht verlassen. Dazu passt auch die Schrift unter dem Plakat: „sicher nicht – oder?“ Ja, auf DIESEN Kompass würde ich mich sicher nicht verlassen.

Dieser beschädigte Kompass samt Motto „sicher nicht – oder?“ ist auf den Plakaten zur Friedensdekade in diesem Jahr zu sehen, die heute beginnt und am Buß-und Bettag endet.
Und das Motto bohrt nach, auch in mir:
Funktioniert DEIN Kompass noch?
Was ist noch sicher: Schwerter zu Pflugscharen, die Vision des Juden Micha, die von der Sowjetunion bis in die UNO gelesen wurde: Beendet sie das sinnlose Leiden auf dieser Erde?

Paulus schreibt im Römerbrief (8,8):
8 Denn ich bin überzeugt, dass dieser Zeit Leiden nicht ins Gewicht fallen gegenüber der Herrlichkeit, die an uns offenbart werden soll.

Darüber habe ich kürzlich bei einer Beerdigung predigen hören. Von der Hoffnung wurde gesprochen. Vom Dennoch des Glaubens, der von Gottes Herrlichkeit weiß. Und der auch weiß, dass diese Herrlichkeit eine völlig andere Wirklichkeit sei, von der man nicht viel mehr sagen könne, weil man nicht mehr wisse.

Doch Paulus will noch mehr sagen, und darum schreibt er weiter, und so schreibt über das Leben und die Natur:

19 Denn das ängstliche Harren der Kreatur wartet darauf, dass die Kinder Gottes offenbar werden.
20 Die Schöpfung ist ja unterworfen der Vergänglichkeit – ohne ihren Willen, sondern durch den, der sie unterworfen hat -, doch auf Hoffnung;
21 denn auch die Schöpfung wird frei werden von der Knechtschaft der Vergänglichkeit zu der herrlichen Freiheit der Kinder Gottes.
22 Denn wir wissen, dass die ganze Schöpfung bis zu diesem Augenblick seufzt und in Wehen liegt.
23 Nicht allein aber sie, sondern auch wir selbst, die wir den Geist als Erstlingsgabe haben, seufzen in uns selbst und sehnen uns nach der Kindschaft, der Erlösung unseres Leibes.
24 Denn wir sind gerettet auf Hoffnung hin. Die Hoffnung aber, die man sieht, ist nicht Hoffnung; denn wie kann man auf das hoffen, was man sieht?
25 Wenn wir aber auf das hoffen, was wir nicht sehen, so warten wir darauf in Geduld.

Paulus sah die Schöpfung in Bildern, die einem gelehrten Juden wie ihm geläufig waren. Wasser und Luft, Pflanzen und Tiere, alles durchwirkt mit dem Atem Gottes. So sieht es die Bibel: „Und Gott sah, dass es gut war“. Die Schöpfung als lebensspendender Garten Gottes.

Paulus kannte aber auch die biblische Sicht auf die Geschichte der ersten Menschen. Auf Adam und Eva, die größer und klüger werden wollten und sich von Gott entfernten. Damit war die Sünde in der Welt: Sie erkannten, dass sie nackt waren… Die Freiheit, in der sie lebten, ließ ihre Schattenseiten deutlich werden.

Der Mensch muss sich versorgen, er muss sich Raum schaffen, er trifft eigene Entscheidungen. Wir heute wissen deutlicher als Paulus, welchen Preis die Natur unserer Welt und am Ende auch wir Menschen zahlen: Wie groß das Ausmaß der Schuld der Menschen geworden ist.

Paulus hatte sicher nicht Kriege mit Massenvernichtungswaffen, Abholzung des Regenwaldes oder Ausrottung ganzer Tier- und Pflanzenarten im Blick, wenn er von Seufzen der Kreatur spricht.

Wenn Paulus das ängstliche Harren der Kreatur denkt, dann sieht er Türen des Paradieses, die für immer verschlossen bleiben. Wenn Paulus von Vergänglichkeit redet, dann hat er die Erwartung vor Augen, dass Jesus Christus wiederkommen und alles verwandeln wird. Von dieser Hoffnung redet Paulus.

Wir heute können seine Bilder verstehen. Aber wir haben andere, realistischere, bedrohlichere für das Zittern und Harren der Schöpfung. Für die Schmerzen, die die Menschen-Wehen für Kreaturen Gottes bedeuten. Doch wer hofft nicht darauf, dass es Erlösung, ein gutes Ende gibt?

Paulus ist lebenslang gequält von Zweifeln. Man liest das in seinen Briefen: Bin ich richtig? Glaube ich richtig? Wie ertrage ich Anfeindung, Gefängnis, Ausweisung? Und was bedeutet all das für die Gemeinde Jesu Christi? Die Zukunft – seine, die seines Auftrages, die der Gemeinden war ungewiss.

Doch sein Kompass ist seine Hoffnung auf das Wirken Gottes in der Welt. Auf Gottes Herrlichkeit, die größer ist als diese Welt. Er glaubt, er setzt alles auf diese Karte: Die Kinder Gottes werden frei werden. Und nicht nur sie. Die Herrlichkeit Gottes umfasst die ganze, jede Schöpfung. Darauf hofft Paulus.

Diese Hoffnung hat ihn Briefe schreiben lassen. Sie hat ihn Anfeindungen und Verfolgung ebenso ertragen lassen wie seine körperliche Schwachheit. Seine Hoffnung hat ihn Wege gehen, Reisen machen lassen, die nicht ungefährlicher waren als die Reisen von Kriegsberichterstattern heute.

Er glaubt fest daran, dass Gott diese Welt geschaffen hat, damit die Liebe leben und siegen kann. Er kann nicht sehen, wie das geschehen soll. Er hofft auf das, was er nicht sehen kann.
Er kann Gott nicht sehen, glaubt aber fest daran, dass Gottes Herrlichkeit größer ist als das Leid aller Weltzeit. Paulus hofft auf Gott, den er nicht sehen kann.
Diese Hoffnung ist sein Kompass.

Meine Schwestern, meine Brüder:

Gott hat ganz offenbar in seiner Allmacht beschlossen, sich seiner Allmacht zu enthalten und uns in Freiheit auf dieser Welt leben zu lassen.

Wenn ich die Bibel recht verstehe, kann er dabei das Ziel haben, uns lernen zu lassen, was Liebe ist. Das ist die Kernbotschaft Jesu.

Und jeder von uns weiß, welche Schmerzen Liebe bedeuten kann. Zum Beispiel den Schmerz, dass niemand von uns weiß, wie die schwelenden Brände auf unserer Welt gelöscht werden können. In der Ukraine nicht, in Israel-Palästina nicht, im Regenwald nicht.

Wir sind und bleiben ratlos. Sind Waffenlieferungen an die Ukraine ein Weg zum Frieden? Sind die Klebe-Attacken der Kampf der letzten Generation ein legitimer Ausdruck berechtigter Angst? Kann unser Land noch mehr Geflüchtete aufnehmen? War die Corona-Politik unserer Regierung und unserer Kirche richtig?

Wie lange werden Menschen noch eine Arbeit finden, die sie ernähren kann? Wird der Wohlstand, den immer intelligentere und komplexere Maschinen und Roboter erarbeiten werden, gerecht unter alle verteilt werden können?

Wird es da reichen, dass die Hollywood-Produzenten jetzt die Schauspieler fragen müssen, bevor sie sie digital auf die Leinwände klonen? Wird unsere Umwelt ein GEMEINSAMER Lebensraum für Menschen, Tiere und Pflanzen bleiben können? Sicher ist da nichts, oder?

Paulus zeigt auf das, was für ihn sicher ist: Auf den Kompass, und der zeigt die richtige Lebens-Richtung. Er zeigt auf Gott, der sich zwar seiner Allmacht enthält, sie aber nicht aufgegeben hat.
Gott wäre nicht Gott, wenn er sie nicht zu jedem Zeitpunkt des Universums wirken lassen könnte.

Und ich erkenne:
Der Kompass des Paulus ist auch meiner.
Denn er zeigt mir meine Lebens-Richtung.
Und irgendwann werden ALLE Gottes Herrlichkeit sehen,
die so groß ist, dass alles Leid der Weltzeit
Vergangenheit sein wird. Für die ganze Schöpfung.

Die Liebe Gottes, die Gnade unseres Herrn Jesus Christus
und die Gemeinschaft des Heiligen Geistes,
sie sind der große Friede und alle Hoffnung.
AMEN

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