Der Gipfel (Mt 17 1-9)

Der komplette Gottesdienst kann hier für vierzehn Tage nachgehört werden:
https://www.dropbox.com/s/y4asp74q2mzp1hv/Gd%2029%201%2023%20LnEpi.MP3?dl=0

Ein Kind in einer Krippe
die Weisen aus dem Morgenland, die einem Stern folgen
Jünger auf dem Berg der Verklärung:

Die Weihnachtsbilder zeigen nicht
was sich außen abgespielt hat
sondern Verborgenes und Unsichtbares
ausgebreitet vor unser aller Augen.

Über dir geht auf der HERR,
und seine Herrlichkeit erscheint über dir.
Jesaja 60,2
***

„Und ob ich schon wanderte im finsteren Tal…“ –
bestimmt wisst Ihr alle, wie der Satz weitergeht.
Und WO er steht, sicher auch:
Im 23. Psalm, den viele auswendig können. Und der, wenn man den Spielfilmmachern (m/w/d) glauben darf, so gut wie auf keiner Beerdigung fehlt. In Synchronfassungen für unsere Kinos dann auch immer in der berühmten Lutherübersetzung:
Der Herr ist mein Hirte, mir wird nichts mangeln.

Auch auf den Beerdigungen in unserer Gemeinde ist er „Spitzenreiter“ bei den Psalmen. Denn seine Worte wirken für viele Trost und Kraft, gerade wenn sie in einem Tal- Erlebnis feststecken.

Der HERR ist mein Hirte.
Auch im tiefen Tal.
Gutes und Barmherzigkeit werden mir folgen.
Ein steter Seufzer der Hoffnung, denn das Leben hat nicht nur das Tal des Sterbens für einen bereit: Niederlagen beruflich oder privat, platzende Lebensträume, schwere Krankheiten:
Manche Menschen müssen durch sehr viele Täler in ihrem Leben.

Gegenpol zum Tal ist der Berg. Auch hierfür steht ein sehr bekannter Psalm, mit dem wir in leicht geänderter, bekennender Form jeden Gottesdienst eröffnen. „Ich hebe meine Augen auf zu den Bergen. Woher kommt mir Hilfe? Meine Hilfe kommt vom HERRN, der Himmel und Erde gemacht hat.“ – Psalm 121 beginnt so.

Berge – das sind seit alters Orte für Gipfelerlebnisse. Und kommt man einmal selbst auf einen Berg, kann man so ein Gipfelerlebnis haben, gerade bei entsprechender Berg-Höhe und guter Berg-Sicht. Und das nicht von ungefähr.

Ich erinnere mich, dass ich nach ein paar für mich ziemlich langweiligen Ferien im Osterzgebirge als 16jähriger zum ersten Mal in die Hohe Tatra kam, also ins kleinste Hochgebirge der Welt. Die Unterkunft, die wir auf polnischer Seite dieses Gebirges hatten, war eigentlich grauenhaft.

Es gab Waschschüsseln anstelle Waschbecken, an eine Dusche war nicht zu denken, und es gab Mäuse auf dem Frühstückstisch und Mäuseköttel jeden Morgen frisch verteilt in den Schlafräumen.

Doch die Wanderungen dort waren die ersten meines Lebens, die mich beeindruckten. Sie waren mit denen im Erzgebirge nicht zu vergleichen.

Dann die Besteigung des Rysy: Schmale, manchmal mit Ketten gesicherte steile Aufstiege, immer neue Aussichten, schließlich der Gipfel. 2499 Meter hoch, der höchste Berg Polens belohnte mich mit messerscharfer Sicht auf schroffe, alpine Kämme und Täler.

Das war für mich damals eine Offenbarung. Kein Vergleich zum Kahleberg des Osterzgebirges mit seinen 905 Metern und dem meist dunstigen Blick von dort auf Felder, sanfte Hügel und (damals schon kranke) Fichtenwälder. Noch nie zuvor war ich selbst durch Wolken gegangen, noch nie zuvor hatte ich als Belohnung für eine wirklich anstrengende Wanderung ein solches Panorama gesehen.

Und dann wurde mein Blick im wahrsten Sinn des Wortes eingefangen. Eingefangen vom einem im Tal darunter liegenden See, dem „Meerauge“. Schon die Farbe des gut 50 m tiefen Gletschersees war unglaublich: Sie änderte sich vom Rand bis zur Mitte über weiß und hellblau nach türkis bis zu tiefschwarz, wie ein Auge eben.
Viele halten das „Meerauge“ für den schönsten Berg-See der Welt. Im Jahr 2014 hat „The Wall Street Journal“ ihn zu einem der fünf schönsten Seen weltweit gekürt. Für mich völlig zu recht.

Und dort hatte ich es: Mein erstes Gipfelerlebnis. Ich fühlte mich dem Himmel nah. Auch im übertragenen Sinn: Ich fühlte mich Gott nah. Fühlte, wie klein ich bin und wie groß er ist.

Ja, natürlich weil ich mir schon vorher ziemlich sicher war, dass diese Welt mit ihren Naturgesetzen kein Zufall ist, dass auch ich selbst kein Zufall bin, sondern alles von Gott geschaffen und gewollt.

Jetzt aber war ich nicht mehr ZIEMLICH sicher.
Jetzt war jeder Zweifel dem Gefühl der Gewissheit gewichen. All das war so groß, so perfekt, das war Gottes Werk. Natürlich weiß ich, dass man das auch anders sehen kann. Aber mein Gefühl sagte mir:

Das ist die perfekte Welt GOTTES, und ich bin mitten drin. Gewollt, belohnt, geliebt. Und dieses Gefühl habe ich seither nicht verloren.

Auch der Bibeltext für heute erzählt ein Gipfelerlebnis. Ich lese aus Mt 17 die Verse 1-9 in der Übersetzung der Zürcher Bibel:

1 Und nach sechs Tagen nimmt Jesus den Petrus, den Jakobus und dessen Bruder Johannes mit und führt sie abseits auf einen hohen Berg.
2 Da wurde er vor ihren Augen verwandelt, und sein Angesicht strahlte wie die Sonne, und seine Kleider wurden weiß wie das Licht. 3 Und siehe da: Es erschienen ihnen Mose und Elija, und sie redeten mit ihm.
4 Da ergriff Petrus das Wort und sagte zu Jesus: Herr, es ist schön, dass wir hier sind! Wenn du willst, werde ich hier drei Hütten bauen, eine für dich, eine für Mose und eine für Elija.
5 Während er noch redete, da warf eine lichte Wolke ihren Schatten auf sie, und eine Stimme sprach aus der Wolke: Dies ist mein geliebter Sohn, an dem ich Wohlgefallen habe. Auf ihn sollt ihr hören!
6 Als die Jünger das hörten, fielen sie auf ihr Angesicht und fürchteten sich sehr. 7 Da trat Jesus zu ihnen, rührte sie an und sprach: Steht auf und fürchtet euch nicht! 8 Als sie wieder aufblickten, sahen sie niemanden mehr außer Jesus.
9 Während sie vom Berg hinunterstiegen, gebot ihnen Jesus: Sagt niemandem, was ihr gesehen habt, bis der Menschensohn von den Toten auferweckt worden ist.

Das ist der Gipfel eines Gipfelerlebnisses.
Damit kann ich nicht mithalten, wahrscheinlich wird das niemand von uns können. Und nicht wenige werden diese Erzählung in den Bereich „Märchen und Sagen“ verbannen: Unvorstellbar, was hier passiert sein soll. Jeder menschliche Erfahrungs- und Erkenntnishorizont ist hier weit überschritten.

Zuerst darum eine Erinnerung: Die Evangelien gehören zu den jüngsten Schriften unserer Bibel, mindestens eine Generation NACH der Kreuzigung Jesu, NACH seiner Auferstehung, NACH seiner Himmelfahrt entstanden.

Sie sind also keine Augenzeugenberichte, auch wenn solche Berichte in ihnen enthalten sein können. Sie sind vielmehr literarische Werke zur Bedeutung des Lebens und Wirkens Jesu. Also ist dieses literarische Werk auch als „Gesamtarbeit“ im Auge zu behalten. Das würde man bei einem guten Roman auch nicht anders machen.

Und genau um diese Sicht auf das Ganze geht es im letzten Vers: „Sagt niemandem, was ihr gesehen habt, bis der Menschensohn von den Toten auferweckt worden ist.“ Denn ohne Ostern, ohne diesen letzten und höchsten Erweis der Gottessohnschaft des Jesus aus Nazareth, ist diese Gipfelbegegnung nicht zu begreifen. Wir würden heute ohne das Ostergeschehen auch nicht Weihnachten feiern.

Dies ist mein lieber Sohn, an dem ich Wohlgefallen habe: Das ist die Erkenntnis, die Matthäus lebendig werden lassen will. An drei Schlüsselstellen taucht sie darum in seinem Evangelium auf: Zu Beginn – bei der Taufe Jesu, hier in der Mitte – auf dem Höhepunkt des Lebens und Wirkens Jesu, und am Ende – dann aus dem Munde des römischen Hauptmannes (Mt 27,54):
Ja, der war wirklich Gottes Sohn!

DAS ist es, was die Jünger hier begreifen, hier auf einem Gipfel ihres Lebens. Sie sind mit ihrem Meister auf der Spitze eines Berges angekommen, sind dem Himmel räumlich nahe. Sie erleben hier, wie sich Jesus vor ihren Augen verwandelt.

Sein „Angesicht strahlte wie die Sonne, und seine Kleider wurden weiß wie das Licht“ (V2): Sie erlebten jetzt selbst etwas ganz Ähnliches, wie Mose es seinerzeit auf dem Berg Gottes erlebt hatte, bevor er das Gesetz empfing. Jedes Kind in Israel kannte diese Geschichte, die wir vorhin auch gehört haben (2. Mose 24, 12ff).

Keine Frage also, dass sie in den beiden Männern, die sich jetzt mit dem verwandelten Jesus unterhielten, Mose und Elia erkannten. Mose, die Verkörperung des Gesetzes. Elia, die Verkörperung der Propheten. Kein Zweifel: Das waren sie.

Dass sie das erleben durften! „Herr, es ist schön, dass wir hier sind! Wenn du willst, werde ich hier drei Hütten bauen, eine für dich, eine für Mose und eine für Elija.“

Dann aber die Stimme aus der Wolke. Dies ist mein geliebter Sohn. Das KONNTE nur Gottes Stimme sein. Jetzt packt die Jünger denn doch die Furcht mit Haut und Haaren. Schreckensstarr liegen sie auf dem Boden, mit dem Gesicht nach unten.

Und erleben am eigen Leibe, was Matthäus vor ihnen schon von Krankenheilungen (z.B. 8,3) und der Totenerweckung eines Mädchens (9,25) ähnlich erzählt hat: Jesus kam zu ihnen, er rührte sie an, er sprach ihnen zu, er richtete sie auf: Habt keine Furcht! Nicht jetzt, nicht später! Steht auf!

Und sie stehen auf. „Fürchtet euch nicht“ ist DAS Segens- und Sendungswort Jesu, und geht ist hier nur AN sie und nur FÜR sie. Für Matthäus werden die drei Jünger so zu Zeugen der Gottessohnschaft Jesu, auf die Verlass ist.

Nach Ostern. Damit die Menschen nach Ostern Jesus nicht aus den Augen verlieren und erkennen können, warum und wen sie zu Weihnachten feiern: Gott selbst, der Mensch wurde, einer unter ihnen, so nah und doch so groß: „Dies ist mein geliebter Sohn, an dem ich Wohlgefallen habe. Auf ihn sollt ihr hören!“ (V5)

Meine Schwestern, meine Brüder:

Was bekommen WIR auf diesem Berg zu sehen?
Natürlich kann man dieses Gipfelerlebnis nicht objektivieren. Was da geschah, lässt sich nicht verallgemeinern, daraus kann man keine generellen Schlüsse ziehen.

„Die Weihnachtsbilder zeigen nicht, was sich außen abgespielt hat, sondern Verborgenes und Unsichtbares, ausgebreitet vor unser aller Augen.“ Es geht nicht darum, was WIR UNS vorstellen können. Sondern es geht darum, was UNS VORGESTELLT WIRD. Das wir uns in die Reihe der Jünger stellen. Ihrem Erstaunen, ihrer Furcht, ihrem Aufgerichtetwerden nachspüren. Ihr Gipfelerlebnis zu unserem werden lassen.

In einer für mich besonders eindrücklichen Weise hat das der schwarze Bürgerrechtler Martin Luther King am 3. April 1968 in einer Predigt in der Meason Temple Church Memphis gesagt. Ich habe eine ganze Weile darüber nachgedacht, ob ich heute gar keine eigene Predigt halte, sondern nur seine ganz vorlese. Aber vielleicht lest ihr sie ja selbst, ich glaube, so kann man besser über sie nachdenken, auch weil man selbst Ruhe braucht, um sich in die Zeit und die Begleitumstände hinein zu fühlen.

Hier nur der Schluss. King sagte:
„Nun, ich weiß nicht, was jetzt geschehen wird. Schwierige Tage liegen vor uns. Aber das macht mir jetzt wirklich nichts aus. Denn ich bin auf dem Gipfel des Berges gewesen. Ich mache mir keine Sorgen. … Ich möchte nur Gottes Willen tun. Er hat mir erlaubt, auf den Berg zu steigen. … Und deshalb bin ich glücklich heute Abend. Ich mache mir keine Sorgen wegen irgend etwas. Ich fürchte niemanden. Meine Augen haben die Herrlichkeit des kommenden Herrn gesehen.“ (Die ganze Predigt ist im link https://www.lebenshaus-alb.de/magazin/004944.html nachzulesen)

Das also sagte Martin Luther King am 3. April 1968, ganz eindeutig bezogen auf unseren Bibeltext. Ohne dass er das ausdrücklich hätte sagen müssen, jede und jeder kann das erkennen: Das Gipfelerlebnis der Jünger war SEIN Gipfelerlebnis geworden. Und wer seine ganze Predigt liest, dem geht es vielleicht wie mir: Es ist auch MEIN Gipfelerlebnis geworden.

Mit diesem Erlebnis ging Martin Luther King nicht nur gewaltlos auf die Straße, sondern auch in den Tod. Nur einen Tag später, am 4. April 1968, wurde der Friedensnobelpreisträger auf dem Balkon eines Motels von einem mehrfach vorbestraften Rassisten erschossen.

Doch zuvor war King auf dem Berg gewesen. Hatte erlebt, was die Jünger erlebt hatten. Hatte gesehen, was auch Mose vom Berg Nebo aus gesehen hatte (5. Mose 34, 1-5):
Das gelobte Land.

Und ich bin sicher:
Die Liebe Gottes, die Gnade unseres Herrn Jesus Christus und die Gemeinschaft des Heiligen Geistes
werden es uns auch sehen lassen,
das gelobte Land.
AMEN.

 

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