Reformation 4.0 (Röm 3, 21-28)

Wer will, dass unsere Kirche bleibt, wie sie ist,
will nicht, dass sie bleibt.
Kirche – sie steht in der Brandung kurzlebiger Zeit
NICHT wie ein Fels.
So wie ich lebe, so wie du lebst,
so ist Kirche
LEBENIDG.
An jedem Tag der Welt.
EWIG aber ist dies:
Einen andern Grund kann niemand legen
als den, der gelegt ist,
welcher ist Jesus Christus.
1 Korinther 3,11
***
Gedenktag der Reformation. 95 Thesen veröffentlicht der Theologe Martin Luther in Wittenberg. Viele sagen, dass er diese Thesen am Vorabend von Allerheiligen an die Tür der Schlosskirche zu Wittenberg hätte annageln lassen, damit möglichst viele auf dem Kirchgang sie lesen würden. Das wäre dann heute vor genau 499 Jahren geschehen. Wir wissen, dass die Auseinandersetzungen um diese Thesen die Welt erschütterten und nachhaltig veränderten.

Wir wissen auch, dass das nicht der erste Reformations-Versuch in der neueren Kirchengeschichte war. Schon 99 Jahre vor Luthers Geburt, also bereits 1383, starb John Wyclif. Der hatte in Englands Kirche Reformen angestoßen. Auch er war übrigens für eine Übersetzung der Bibel in seine Muttersprache verantwortlich. Seine kirchenkritischen Lehren wurden 30 Jahre nach seinem Tod als Ketzerei verworfen, seine sterbliche Überreste ausgegraben und öffentlich verbrannt.

John Wyclifs Lehren waren auch Grundlage des Wirkens von Jan Hus, des tschechischen Reformators, der seit 1402 in seiner Muttersprache predigte, Lieder dichtete und wie Wyclif gegen Ablasshandel und andere Missstände der Kirche kämpfte. Er wurde dafür schon zu Lebzeiten verbrannt. Das war 1415, also bereits 102 Jahre VOR dem Thesenanschlag in Wittenberg.

Die Reformation Luthers in Deutschland und etwas später die Zwinglis in der Schweiz, Calvins in Frankreich sowie die aus Emden ausgehende Reformation in Norddeutschland und den Niederlanden waren dann nicht mehr durch Scheiterhaufen zu stoppen. Sie führten einige Jahrhunderte nach der Spaltung zwischen orthodoxer und katholischer Kirche nun zu einer weiteren Abspaltung, durch die verschiedene evangelische Kirchen entstanden.

Das und vieles mehr kann man dazu in den Geschichtsbüchern lesen. Auch, dass es bei den Auseinandersetzungen um die Vormachtstellung des Papstes, die Verquickungen zwischen weltlicher und geistlicher Macht oder auch den Ablasshandel ging.

All das sind Dinge, die wir uns in heutiger Zeit weder dem Ausmaß noch der Bedeutung nach wirklich vorstellen können. Inquisition, Scheiterhaufen und Kreuzzüge geben heute bestenfalls noch Stoff für historische Romane oder Spielfilme her.

Theologisch scheint es auf den ersten Blick ganz ähnlich zu sein. Wir wissen, dass sich der Mönch Martin Luther im Kloster mit der Frage quälte, wie er denn einen gnädigen Gott bekommen könne. In dieser Quälerei kam ihm Paulus zur Hilfe, insbesondere mit einem Abschnitt aus dem Römerbrief, unserem Predigttext für heute, den ich nach der Übertragung der Zürcher Bibel lese. Kapitel 3 steht in den Versen 21-28:

21 Jetzt aber ist … die Gerechtigkeit Gottes erschienen – [unabhängig vom Gesetz, aber] bezeugt durch das Gesetz und die Propheten.
22 Die Gerechtigkeit Gottes, die durch den Glauben an Jesus Christus für alle da ist, die glauben. Denn da ist kein Unterschied:
23 ALLE haben ja gesündigt und die Herrlichkeit Gottes verspielt.
24 GERECHT gemacht werden sie OHNE Verdienst  aus SEINER Gnade
durch die Erlösung, die in Christus Jesus ist.
25 Ihn hat Gott dazu bestellt, Sühne zu schaffen …- durch die Hingabe seines Lebens. [(Und diese Sühne wird nur) durch den Glauben wirksam…].
Darin erweist er seine Gerechtigkeit,
dass er auf diese Weise die früheren Verfehlungen vergibt,
26 die Gott ERTRAGEN hat in seiner Langmut,
ja, er zeigt seine Gerechtigkeit JETZT, in dieser Zeit:
Er IST gerecht und macht gerecht den,
der aus dem Glauben an Jesus lebt.

27 Wo bleibt da noch das Rühmen? Es ist ausgeschlossen.
Durch was für ein Prinzip? Das der Leistung?
Nein, durch das Prinzip des Glaubens!
28 Denn wir halten FEST:
II: Gerecht wird ein Mensch durch den Glauben,
unabhängig von den Taten, die das Gesetz fordert. :II

Dieser Schlussvers ist es, auf den alles zuläuft. Die „Rechtfertigung des Sünders“ allein aus Gnaden, allein durch den Glauben wurde zum zentralen Thema reformatorischer Theologie. Das kann man im lutherischen Augsburgischen Bekenntnis nachlesen, Artikel IV (im EG Nr. 808 bzw. 857).

Aber auch der Heidelberger Katechismus als wichtiges Bekenntnis reformierter Kirchengeschichte kümmert sich ausführlich um dieses Thema. Er stellt und beantwortet die entsprechenden Fragen:
Wie bis du gerecht vor Gott?
Warum sagst du, dass du allein durch den Glauben gerecht bist? Warum können … unsere guten Werke nicht die Gerechtigkeit vor Gott oder ein Stück derselben sein? – Fragen 60 bis 62 – (EG 807 bzw. 856)

Die meisten Menschen um uns herum werden einigermaßen fassungslos vor diesen theologischen Ausflüssen stehen. Dieses Fassungslosigkeit reicht bis in unsere Gemeinde hinein: Wie konnte man sich jemals über so etwas den Kopf zerbrechen? Geschweige denn sich streiten, darüber den Nachtschlaf verlieren, gar Kriege führen? Was schert es Leute heute, ob irgend ein Gott ihnen gnädig ist oder nicht?  Fragen sie nicht eher danach, wie sie einen gnädigen Nächsten bekommen?

WENN der Mensch von heute sich überhaupt die Frage stellt, worunter sein Dasein leidet, dann ist seine Antwort doch bestenfalls die, dass er den Sinn seines Lebens nicht entdecken könne. Und da ein Gott bei diesem Nachdenken kaum eine Rolle spielt, gibt es auch keine Kategorie der Sünde, die ja bekanntlich den Graben zwischen Gott und Mensch beschreibt. So laufen Fragen nach Sühne oder der Gerechtigkeit vor Gott ins Leere,  ebenso wie Erlösungstat Christi am Kreuz ins Leere läuft. Wie kann einer erlöst werden, der nicht erlöst werden will?

Genau besehen geht es aber in allem, was Paulus im Brief an die Römer umtreibt, genau darum: Um die Frage nach dem Sinn unseres Menschen- Lebens. Paulus weiß, dass diese Frage ALLE Menschen umtreibt, egal ob sie Juden oder Nichtjuden sind, egal wo auf dieser Welt sie wohnen, egal ob sie hochgebildet oder Analphabeten sind, arm oder reich, Frau oder Mann.

ALLE sind es in der Tiefe ihres Herzens leid, dass ihr Leben von „Neid, Mord, Streit Betrug und Hinterhalt“ und abfälligem Reden über Mitmenschen (Röm 1, 29) geprägt ist. NIEMAND aber kommt aus eigener Kraft heraus aus diesen Untiefen des Lebens.

Darum will Paulus auch ALLEN Menschen das Evangelium weitersagen, denn das Evangelium „ist die Kraft Gottes, die JEDEM, der glaubt, Rettung bringt“, schreibt er in 1,16. Das Evangelium BEANTWORTET die Frage nach dem Sinn des Lebens, rettet einem das Leben, bewahrt davor, schon in diesem Leben eigentlich tot zu sein.

Als Luther sich die Frage stellte, wie er einen gnädigen Gott bekäme, fand er lange keine Antwort. Er bekam aber heraus, dass selbst die allerbesten Taten ihm nicht weiterhelfen konnten. Einfach deshalb, weil es keine menschliche Existenz GIBT, die NICHT an Gott und dem Nächsten schuldig wird. Niemand kann es allen recht, GERECHT machen.

Darunter litt Luther so lange, bis er begriff: Die Frage ist falsch. Denn sie weist Gott die falsche Rolle zu. Sie geht davon aus, dass der Mensch auch nur annähernd so mächtig sei wie Gott, dass der Mensch überhaupt etwas tun könne, was Gott noch nicht getan habe.

Aber der Mensch denkt und handelt erst dann Gott gemäß, wenn er Gott sein Gottsein lässt und begreift, was es bedeutet, Geschöpf Gottes zu sein.

Dann stellt er nämlich NICHT die Frage: Wie bekomme ICH einen gnädigen Gott? Sondern: Wie lebe ich so, dass Gott mich, SEIN GESCHÖPF, ZURÜCK BEKOMMT?

WIRKLICH wichtig bei der Antwort auf der Frage nach dem Sinn des Lebens ist nur DIESER EINE Gesichtspunkt: Wie kommt der Schöpfer zu SEINER Welt, zu seiner Schöpfung, zu seinem Eigentum? WIE WERDE ICH GOTT GERECHT? Die Frage nach der Gerechtigkeit IST die Frage nach dem Sinn allen menschlichen Lebens.

„Jetzt aber“ hat Gott die Wende geschehen lassen! schreibt Paulus. Diese Wende ist Jesus Christus. Und dieser Christus sagt: Erkennt doch- ihr seid GESCHÖPF, nicht Schöpfer. Gott  verlangt nicht, dass ihr aus eurer Haut schlüpft. Erkennt doch- ihr KÖNNT nichts besser machen als Gott es gedacht und gemacht hat. Werdet, was ihr seid: Mensch.

WAS ihr tun könnt: Gebt Gott die Ehre! Liebt seine Welt, wie er sie liebt. Liebt euren Nächsten, wie er ihn liebt. Liebt euch selbst, wie er euch liebt. Gebt DEM euer Leben, der es euch gegeben hat. Dann liebt ihr Gott so, wie er euch liebt. Dann lebt ihr so, wie Gott euch gedacht hat. Dann lebt ihr wirklich.

Jetzt aber! Die Wende! Für Luther das große Aufatmen. Die scheinbar ausweglose Lage des Menschen wird von Gott selbst durch Christus beendet. So kann Luther schreiben: „Da hatte ich das Empfinden, ich sei geradezu von neuem geboren und durch geöffnete Tore in das Paradies eingetreten. Da zeigte mir sofort die ganze Schrift ein anderes Gesicht“ .

Wie kann das große Aufatmen Luthers auch unser großes Aufatmen werden? Wie können wir den Gedenktag der Reformation aus dem Museum holen und in unseren Alltag bringen?

Meine Schwestern, meine Brüder:

Die Reformation vor 500 Jahren hat die Kirche daran erinnert, wozu sie da ist. Das hat die Kirche immer und immer wieder vergessen, weil Menschen vergesslich sind und vergesslich bleiben.

So musste auch die Barmer Synode erinnern: „Der Auftrag der Kirche, in welchem ihre Freiheit gründet, besteht darin, an Christi Statt und also im Dienst seines eigenen Wortes und Werkes durch Predigt und Sakrament die Botschaft von der freien Gnade Gottes auszurichten an alles Volk.“ (6. These, EG 810 bzw. 858)

Auch unsere Gesellschaft heute ist nicht besser dran. Sie ist bestimmt vom Leistungsprinzip als einer modernen Form der „Werkerei“, indem sie „Leistungsträger“ belohnt und „Leistungsschwache“ benachteiligt.

Darum braucht auch sie die Botschaft der Kirche: Mensch, werde doch endlich Mensch! Diese Erinnerung des Römerbriefes ist heute so aktuell wie vor 2000 Jahren.

Niemand wird dauerhaft Sinn in seinem Leben finden, wenn er diesen Sinn aus seinen Leistungen ableiten will. Jeder Fehler, jeder „Misserfolg“, jede Krankheit wirft ihn in die Sinnlosigkeit zurück.

Den Sinn des Lebens erfasst nur der, der Geschenke annehmen kann. Wahres Leben liegt immer auf der Linie des Unverdienten. Gott macht das Angebot des Lebens umsonst.

Unsere Kirche hat den Auftrag, das ins Denken der Menschen zu tragen. Menschen- Leben erfüllt seinen Sinn, wenn es Gott gibt, was Gottes ist, und den Menschen, was menschlich ist.

Gottes Gerechtigkeit kommt zu uns als Geschenk. Auch unsere Frage muss darum sein: Wie bekommt Gott mich so, wie er es als unser Schöpfer verdient?

Unsere Antwort kann nur Jesu Antwort sein: Lasst uns Gott die Ehre geben! Lasst uns seine Welt lieben, wie er sie liebt. Lasst uns unseren Nächsten so lieben, wie er ihn liebt. Lasst uns uns selber so lieben, wie Gott uns liebt. Lasst uns DEM unser Leben geben, der es UNS gegeben hat.

Dann könnten wir endlich aufhören, uns ängstlich an alles so zu klammern, als könne es uns irgendwer wegnehmen. Dann IST nicht nur genug für alle da, dann BEKOMMEN auch alle, was sie brauchen.  Dann lieben wir Gott so, wie er uns liebt. Dann leben wir so, wie Gott uns gedacht hat. Dann hat das Evangelium auch uns gerettet.

Dann wird alles, was wir tun, zum Dienst am Menschen. All das Unverdienbare ist Wurzel der Humanität. Geben wir Gott Recht, so erfährt auch der Nächste sein Recht.

Ein solches, von Gott geschöpftes Leben ist erfülltes Leben,
weil es Freude, Frieden und Segen erfährt.

Eine solche, von Gott geschöpfte Liebe ist wahre Liebe,
weil sie alle Farben, alles Licht und alle Töne, die ja Gott geschaffen hat, wahrnehmen und genießen kann.

Eine solche, von Gott geschöpfte Kirche ist Gottes Kirche,
weil sie sich einig ist: Liebe ist alles, ohne Liebe ist alles nichts. Diese Kirche betet:
Erfüll die Herzen deiner Christen
mit Gnade, Segen, Fried und Freud,
durch Liebesfeu’r sie auszurüsten
zur ungefärbten Einigkeit. (EG 250, 5)

Leben als Gottes Schöpfung:
Das wird ein großes Aufatmen, denn das führt
in den Frieden Gottes, der höher ist als all unsere Vernunft,
und der unsere Herzen und Sinne rettet in Christus Jesus.
Amen.

Dieser Beitrag wurde unter Predigten veröffentlicht. Setze ein Lesezeichen auf den Permalink.