Urteile
das ist gut
das ist verwerflich
Urteile gehen leicht über die Lippen
DAS Urteil aber liegt allein bei Gott
Seine Gerechtigkeit öffnet uns
Augen und Herzen
allein SEINE Vergebung ist es
die Leben schafft
wir können nicht mehr tun
als das
Einer trage des andern Last,
so werdet ihr das Gesetz Christi erfüllen.
(Gal 6,2)
***
Nesthäkchen. Der Vogel, der an das Nest ein Häkchen macht. Denn wenn auch das letzte der Jungen nicht nur geschlüpft, sondern richtig flügge ist, hat das Vogelnest seine Aufgabe erfüllt. Obwohl das „Häkchen“ eigentlich von „hocken“ kommen soll: Nest-Hockerchen. Aber das finde ich nicht so niedlich.
Als Nesthäkchen hat meine Oma manchmal keinen Vogel, sondern meinen Bruder bezeichnet. Der ist ja fast sieben Jahre jünger als ich, und dass meine Mutter noch nach so langer Zeit ein zweites Kind bekam, war schon ein Wunder, so dass mein Bruder diesen Titel ordentlich verdient hatte. Großmütter machen das übrigens seit dem 17. Jahrhundert, wenn sich mein Lexikon nicht irrt: Die kleinsten Enkelchen als „Nesthäkchen“ zu bezeichnen. Und besonders zu lieben…
Josef war fast so ein Nesthäkchen. Er wurde aber nicht in Ruhe flügge, sondern ziemlich unsanft aus dem Nest gekickt. Aber der Reihe nach:
Josef ist der zweitjüngste von zwölf Brüdern, in jedem Falle der „Augenstern“ seines Vaters. „Augenstern“- noch so ein Wort: Es meint den absoluten Liebling. Und so wird Josef auch groß: Er wird nach Strich und Faden von seinem Vater verwöhnt. Er bekommt schicke Sachen zum Anziehen geschenkt, muss nicht arbeiten wie seine Brüder, und wenn er sie mal auf dem Acker oder beim Vieh besucht, dann gibt er mächtig vor ihnen an.
Kein Wunder, dass seine Brüder ihn lieber heute als morgen aus dem Haus haben wollten. Es war so schlimm, dass die sogar Mordpläne gegen ihn schmiedeten, so zornig waren sie auf Josef.
Der Älteste kann dieses Schlimmste zum Glück für Josef verhindern. Aber sie werfen Josef in eine ausgetrocknete Zisterne, und als dann eine Händlerkarawane vorbeikommt, verkaufen sie ihn als Sklaven.
Die schicken Sachen ziehen sie ihm allerdings vorher aus. Die brauchen sie noch: Sie gießen Tierblut darüber und zeigen sie als vermeintliche Fundstücke zuhause dem Vater. Der erkennt sie natürlich als die Sachen seines Lieblings und trauert: Ein wildes Tier hat Josef getötet!
Derweil wird Josef Haussklave bei einem reichen Ägypter. Der hatte zwar alles, was das Herz begehrt, konnte aber wohl seine Frau nicht wirklich glücklich machen, die ihr Glück dann bei dem smarten jungen Sklaven versucht.
Der aber will sich darauf nicht einlassen; darauf täuscht die Frau eine Vergewaltigung vor und sorgt so dafür, dass Josef im Gefängnis landet. Ein sehr finsterer und gefährlicher Ort im alten Ägypten.
IM Gefängnis fällt Josef dann positiv auf; heute würde man von „guter Führung“ sprechen. Dazu kommt, dass sich herumspricht, dass er die Gabe hat, Träume deuten zu können.
Über den Chef des Gefängnisses spricht sich das bis zum König der Ägypter, dem Pharao herum. Der hat gerade bizarre Träume, die ihn sehr beschäftigen, die er aber nicht versteht, und niemand kann sie ihm ordentlich deuten.
Darum lässt er sich irgendwann den Sträfling Josef kommen, und der versteht die Traumbilder und sagt dem Pharao sieben fette, fruchtbare Jahre und sieben magere Dürrejahre voraus.
Zum Dank für seine Hilfe wird Josef vom Pharao zum Wirtschaftsminister gemacht. Als es dann die fetten Jahre gibt, lässt Josef die Ernteüberschüsse in Silos lagern. Und als dann die mageren Jahre tatsächlich kommen, können die Ägypter von ihren Vorräten leben und sogar noch Getreide verkaufen.
Diese mageren Jahre treffen auch die Brüder des Josef, und die hören davon, dass es bei den Ägyptern Getreide zu kaufen gibt und machen sich dahin auf den Weg und treffen auf ihren Bruder.
Josef erkennt sie wieder, sie ihn aber nicht: Wie sollten sie auch. Was sollte dieser vornehme, reiche Ägypter mit Josef zu tun haben, den sie halbnackt als Sklaven in den sicheren frühen Tod verscherbelt hatten?
Ob Josef sich rächen will oder ihnen nur einen Denkzettel verpassen will, wie auch immer: Er setzt sie zunächst als hebräische Spione fest, lässt sie dann aber wieder frei kommen. Doch er schmuggelt ihnen einen kostbaren Becher in einen ihrer Getreidesäcke, um sie dann des Diebstahls und des Missbrauchs der Gastfreundschaft Ägyptens zu beschuldigen.
Als die Brüder begreifen, dass sie es mit ihrem Bruder Josef zu tun haben, überkommt sie die nackte Angst. Sie wissen, dass ihnen nach den Gesetzen der Vergeltung der Galgen droht, zumindest aber der Kerker.
Soweit in Kurzform die Josefsgeschichte, die könnt ihr im ersten Mosebuch ab Kapitel 37 genau nachlesen.
Jetzt der Predigttext für heute, der den Schluss der Josefsgeschichte einleitet, ich lese aus 1. Mose 50 die Verse 15-21:
15 Die Brüder Josefs aber fürchteten sich, als ihr Vater gestorben war, und sprachen: Josef könnte uns gram sein und uns alle Bosheit vergelten, die wir an ihm getan haben.
16 Darum ließen sie ihm sagen: Dein Vater befahl vor seinem Tode und sprach:
17 So sollt ihr zu Josef sagen: Vergib doch deinen Brüdern die Missetat und ihre Sünde, dass sie so übel an dir getan haben. Nun vergib doch diese Missetat uns, den Dienern des Gottes deines Vaters! Aber Josef weinte, als man ihm solches sagte.
18 Und seine Brüder gingen selbst hin und fielen vor ihm nieder und sprachen: Siehe, wir sind deine Knechte.
19 Josef aber sprach zu ihnen: Fürchtet euch nicht! Stehe ich denn an Gottes statt?
20 Ihr gedachtet es böse mit mir zu machen, aber Gott gedachte es gut zu machen, um zu tun, was jetzt am Tage ist, nämlich am Leben zu erhalten ein großes Volk.
21 So fürchtet euch nun nicht; ich will euch und eure Kinder versorgen. Und er tröstete sie und redete freundlich mit ihnen.
Es ist ganz offenbar die blanke Angst, die Josefs Brüder zu einer Lüge greifen lässt: Ihr Vater hätte noch auf dem Sterbebett gesagt, Josef solle seinen Brüdern Verrat und Sklaverei doch vergeben.
Und Josef? Er weint, als ihm das berichtet wird. Ob er gleich begriffen hat, dass das eine Lüge ist? Wie auch immer: Die Emotionen kommen über ihn. Er braucht diese Lüge nicht. Und er braucht auch keine Sklaven. Aber er will seine Familie zurück.
Darum lässt er seine Brüder zu sich holen. Und sagt zu ihnen: „Ihr gedachtet es böse mit mir zu machen, aber Gott gedachte es gut zu machen…“
Mit einem Mal kommt Gott ins Spiel. Warum eigentlich?
Es kann keine Rede davon sein, dass Josef besonders fromm und gottergeben war. Von Daniel, der in der Löwengrube gelandet war, können wir in der Bibel die Gebete lesen, die er da gesprochen haben soll. Was Josef in der Zisterne oder bei seiner Versklavung oder später im Gefängnis sagte oder dachte – darüber verliert die Bibel kein Wort.
Josef ist kein Glaubensheld, nicht einmal ein leuchtendes Vorbild. Das wissen wir spätestens seit der Sache mit dem seinen Brüdern untergeschobenen Silberkelch im Getreidesack. Josef ist vielmehr ein karrierebewusster Manager, der mit beiden Beinen mitten im Leben steht.
Und der rechnen kann. Also macht er jetzt einen Strich unter alles
und bekommt DAS als Ergebnis: Der Gott seiner Väter gedachte, es gut zu machen. Gegen alles Böse, was Menschen sich ausgedacht haben, und gegen alles Böse, was ich mir selber ausgedacht habe.
Über dem Strich: Die Brüder, die Sklavenhändler, die Frau, mancher Mitgefangener oder der Silberbecher im Korn-Sack. Die meisten Leiden auf dieser Welt fügen MENSCHEN einander zu.
Kindernächte im Luftschutzkeller, die pausenlose Angst verschüttet zu werden, Flüchtlingstrecks mit Fliegerangriffen, das kennen unsere Alten.
Und die Jüngeren die Ungerechtigkeiten in der DDR, in der Schule oder im Betrieb oder dass es auch richtig schlimm werden konnte: Gestern vor 40 Jahren wurde die letzte Hinrichtung in der DDR in Leipzig vollzogen. Durch „unerwarteten Nahschuss in das Hinterhaupt“, wie es im Behördensprech hieß. Mitten im dem so friedliebenden Sozialismus.
Über dem Strich: Die Menschen gedachten es böse zu machen. An 1001 Beispielen kann man das beweisen. Jede und jeder von uns. Das ist die bittere Erfahrung des Menschenlebens.
Meine Schwestern, meine Brüder,
unter dem Strich des Josef gilt nicht Vergeltung oder Rache, sondern göttliches Recht. Josef zieht als Fazit: Gott hat es gut gemacht. So sieht er das. So kann er es auch sehen. Schließlich hat sich alles zum Guten gewendet. Sogar die Familie hat er wieder: „So fürchtet euch nun nicht; ich will euch und eure Kinder versorgen. Und er tröstete sie und redete freundlich mit ihnen.“
Wer von uns wird unter dem Strich zum selben Ergebnis kommen? Josef, Hiob, Jona – Ende gut, alles gut? Selbst, WENN es einem irgendwann im Leben an nichts mehr fehlen sollte: Ende gut, alles gut?
Oder ein wenig variabler: Am Ende wird alles gut, und wenn es nicht gut ist, dann ist es noch nicht das Ende – soll es so funktionieren? Aufs Maximale ausgedehnt: Wenn es in diesem LEBEN nicht gut wird, dann doch in Gottes Ewigkeit?
Das wird schon daran scheitern, dass wir nicht einmal genau wissen KÖNNEN, was nun gut ist und wie das funktioniert. Wenn Paulus schreibt (Röm 12, 17ff): „Ist’s möglich, soviel an euch liegt, so habt mit allen Menschen Frieden“, sagt zwar jeder: Ja, genau so funktioniert es!
Aber wie hätte man mit Adolf Hitler „Frieden haben“ sollen? Und wie kann man jemals nach all dem Leid, dass er und andere auf diese Welt gebracht haben, bringen und bringen werden, seinen Strich ziehen und sagen: Alles ist gut?
Die große Wahrheit in der Josefsgeschichte steckt an anderer Stelle in dieser Rechnung. Sie steckt da, wo der erfolgreiche, mit allen Wassern gewaschene Krisenmanager Josef innehält und eine große Unbekannte in seine Rechnung einschließt:
GOTT. Den Gott seiner Väter.
Der bis hierher in seinem Leben keine oder kaum eine Rolle gespielt hatte.
Der alle menschlichen Rechts- oder Gerechtigkeitsbeschlüsse auf den Kopf stellt.
Der Allmächtige, der selbst aus der Gaskammer in Auschwitz den Garten in Eden machen kann.
NUR, wer Gott in seine Lebensrechnung „einpreist“, wird jemals und auch nur für SICH zu dem Ergebnis kommen können, zu den einst schon Josef gekommen ist.
Der wird Spuren Gottes in seinem Leben erkennen können, die ihm zeigen: Es geht auch anders. Das können Menschen sein, die in mein Leben treten und mich glücklich machen. Obwohl sie doch nur Menschen sind. Das kann guter Rat sein, der tatsächlich einen Ausweg wies. Liebe, die selbst das Böse aushält und im Bösen weiterliebt.
Diese Spuren beweisen nichts. Sie ändern in der Menschenrechnung nichts. Aber wer aus diesen Spuren in seinem Leben lernen und glauben könnte, Gott alles, WIRKLICH ALLES zuzutrauen:
DIESER Mensch könnte unter seiner Lebensrechnung ein „Alles ist gut“ schreiben.
NUR dieser Mensch könnte AMEN sagen, wenn er die Worte Dietrich Bonhoeffers liest, den Hitlers Galgen nicht hat ausleben lassen:
Ich glaube,
dass Gott aus allem, auch aus dem Bösesten,
Gutes entstehen lassen kann und will.
Dafür braucht er Menschen,
die sich alle Dinge zum Besten dienen lassen.
Ich glaube, dass Gott uns in jeder Notlage
soviel Widerstandskraft geben will,
wie wir brauchen.
Aber er gibt sie nicht im voraus,
damit wir uns nicht auf uns selbst,
sondern allein auf ihn verlassen.
In solchem Glauben
müsste alle Angst vor der Zukunft überwunden sein.
Ich glaube, dass auch unsere Fehler und Irrtümer
nicht vergeblich sind,
und dass es Gott nicht schwerer ist,
mit ihnen fertig zu werden,
als mit unseren vermeintlichen Guttaten.
Ich glaube, dass Gott kein zeitloses Schicksal ist,
sondern dass er auf aufrichtige Gebete
und verantwortliche Taten wartet und antwortet.
(Dietrich Bonhoeffer: Einige Glaubenssätze über das Walten Gottes in der Geschichte, in: Widerstand und Ergebung, DBW 8, Gütersloh 1998, 30 f.)
Oder kurz:
Die Liebe Gottes, die Gnade unseres Herrn Jesus Christus und die Gemeinschaft des Heiligen Geistes
haben die Macht, ALLES zum Guten zu wenden.
SIE sollen mit euch sein.
AMEN