Liebeserklärung (5. Mose 6 4-9)

Wer will, dass unsere Kirche bleibt, wie sie ist,
will nicht, dass sie bleibt.
Kirche – sie steht in der Brandung kurzlebiger Zeit
NICHT wie ein Fels.
So wie ich lebe, so wie du lebst,
so ist Kirche
LEBENDIG.
An jedem Tag der Welt.
EWIG aber ist dies:
Einen andern Grund kann niemand legen als den,
der gelegt ist,
welcher ist Jesus Christus.
1 Korinther 3,11
***
Am Vorabend des Feiertages Allerheiligen, also an einem 31. Oktober, hat Luther seine 95 Thesen gegen den Ablasshandel seiner katholischen Kirche veröffentlicht. Er wird wohl nicht mit Hammer und Nägeln die Tür an der Schlosskirche zu Wittenberg demoliert haben. Aber er wird andere gute Möglichkeiten gefunden haben, seine Thesen sichtbar auszuhängen.

Tags darauf, also zu Allerheiligen, gingen viele Menschen in die Kirche zum Gottesdienst. Und auf dem Weg dahin lasen sie, was Luther ihnen da aufgeschrieben hatte. Oder sie ließen es sich vorlesen. Diese Thesen haben sie dann in helle Aufregung versetzt. Aus dieser hellen Aufregung wurde irgendwann die lutherische Reformation, deren Folgen waren beispielsweise die Trennung der katholischen von evangelischen Christen oder leider auch der dreißigjährige Krieg.

In diesem Jahr begehen wir das fünfhundertzweite Reformationsjubiläum. Vor zwei Jahren, zum fünfhundertsten, war der 31. Oktober sogar bundesweit Feiertag. Nun aber sind Schleswig-Holstein, Niedersachsen, Hamburg und Bremen sowie die neuen Bundesländer mit dem Feiern wieder unter sich.

Die Brandenburger nutzten das vor allem zum Ausschlafen. Oder zum Einkaufen in Berlin. Dafür können die Berliner ab 2021 am Frauentag nach Brandenburg zum Einkaufen fahren.

Wenn HEUTE einer 95 Thesen zur Veränderung der Kirche veröffentlichen würde, meinetwegen auch 100 oder auch nur 10: Wer würde das eigentlich mitbekommen?

Dass in der Leitung der EKD gerade Stimmen laut werden, die den regelmäßigen Sonntagsgottesdienst in Frage stellen, bekommen ja auch nur die mit, die sich wirklich dafür interessieren. Mich hat bisher nur ein einziges Gemeindeglied darauf angesprochen.

Und genau da haken die Kritiker auch ein. Sie argumentieren: Großer Aufwand, zu geringer Nutzen. Wenn zum Beispiel der Gottesdienst sonntags in Hohenbruch ausfallen würde, würden das erst einmal nur die regelmäßigen Kirchgänger merken, vielleicht ungefähr 15 Personen. Das sind ca. 10 % der Kirchensteuerzahler und knapp 2 % der Dorfeinwohner. Vielleicht kommen noch ein paar Friedhofsnutzer dazu, die merken würden, wenn die Glocken nicht läuten und die Kirchentür verschlossen bliebe. Und die Zahlen in unserer Stadt sähen eher noch schlechter aus.

Und für diese eine Stunde am Sonntag arbeiten Organist, Kirchendienste, Lektoren und Pastor viele Wochen-Stunden. Ob sich das wirklich lohne und rechne, fragen da einige, und es werden langsam mehr, die so fragen. Ich will mich jetzt gar nicht auf diese Diskussion einlassen, vielleicht sollten wir das mal bei einem Gemeindenachmittag machen.

WAS ich damit aber deutlich machen kann ist sicher das: Würde ich heute Thesen zur Reformation der Kirche an unsere Tür nageln, und seien es auch wirklich gute: Es würde kaum jemand merken.
Das könnte einen fast neidisch werden lassen auf eine Zeit, als Fragen des christlichen Glaubens noch viele Menschen in helle Aufregung versetzen konnten.

Woran mag das geringe Interesse an Gottesdiensten wohl liegen? Sind sie einfach nur langweilig und aus der Zeit gefallen? Aber auch an anderen Formaten der Gemeindearbeit ist das Interesse ja nicht wirklich höher. Egal ob Gemeindenachmittag, Bibelstunden, Lektorenkurse, Chor- oder Posaunenproben. Selbst die wenigen Konzerte, die wir veranstalten, bringen über das Jahr verteilt nicht mehr Menschen in unsere Kirche als in die Gottesdienste.

Kommt dieses Thema mal irgendwo zur Sprache, sind sich viele schnell einig: Der Sozialismus habe mit seiner kirchenfeindlichen Politik dafür gesorgt, dass die Kirchen es heute so schwer haben. Alle, nicht nur unsere. Und der Nationalsozialismus vorher habe dafür schon den Grundstein gelegt. Über ein halbes Jahrhundert Diktatur hinterließe eben Spuren, die man auch mit der Rolle der Kirchen in der Wendezeit vor dreißig Jahren nicht wettmachen könne.

Aber wir, die wir heute hier sitzen, hat das doch auch nicht aus der Kirche treiben können. Warum wollen also die anderen nicht hören, was ihnen hier zu Ohren kommen könnte?

Mir fällt dazu ein Satz aus der Erzählung vom reichen Mann und armen Lazarus ein. Ihr erinnert euch sicher: Der reiche Mann bittet Vater Abraham, seine noch lebenden fünf Brüder warnen lassen. Er denkt: Wenn Lazarus seinen Brüdern erschiene und ihnen berichten würde, wie ihr verstorbener Bruder in der Hölle schmoren muss, dann würden sie von ihren falschen Lebens-Wegen umkehren.

Aber: Vater Abraham lässt sich nicht erweichen. Denn er weiß, dass dieses Unternehmen ein unnützes Unterfangen wäre. Und Abraham sagt: Hören sie Mose und die Propheten nicht, so werden sie sich selbst dann nicht überzeugen lassen, wenn jemand von den Toten auferstünde.

Jesus erzählt diese Geschichte und nimmt damit sein eigenes Schicksal schon vorweg: Wem nicht wichtig ist, was Mose und die Propheten sagen, dem wird auch die Auferstehung Jesu zu Ostern nie wichtig werden können. Auf die Bedeutung von Kirche bezogen hieße das wohl: Was den Menschen wichtig ist, darum kümmern sie sich auch. Aber Mose und die Propheten sind ihnen gerade wenig wichtig.

„Mose und die Propheten“: Eine Formel für das Glaubensbekenntnis Israels. „Mose und die Propheten“ sind Zentrum des ersten Teils unserer Bibel. Für Jesus und seine Zeitgenossen also der KERN der Heiligen Schrift, IHR Glaubensbekenntnis. „Höre Israel“- Schima Jisrael. Das kommt aus der Abschiedsrede des Mose, die das Volk hört, bevor es das gelobte Land betritt, um es in Besitz zu nehmen. Schima Jisrael- der Predigttext für heute, ich lese aus 5. Mose 6 die Verse 4-9 (Zürcher Bibel):

4 Höre, Israel: Der HERR, unser Gott, ist der einzige HERR.
5 Und du sollst den HERRN, deinen Gott, lieben, von ganzem Herzen, von ganzer Seele und mit deiner ganzen Kraft.
6 Und diese Worte, die ich dir heute gebiete, sollen in deinem Herzen bleiben,
7 und du sollst sie deinen Kindern einschärfen, und du sollst davon reden, wenn du in deinem Haus sitzt und wenn du auf dem Weg gehst, wenn du dich niederlegst und wenn du dich erhebst.
8 Du sollst sie als Zeichen auf deine Hand binden und sie als Merkzeichen auf der Stirn tragen,
9 und du sollst sie auf die Türpfosten deines Hauses schreiben und an deine Tore.

Worte der Erinnerung sind es, die Mose an sein Volk richtet. Keine Erinnerung an einen Fahneneid, sondern an eine große Liebe. Die Liebe zwischen Gott und Mensch. Gottes Wort ist es, das sich einst das Herz seines Volkes erobert hat.

Diese große Liebe soll erinnert werden, den Kindern und Kindeskindern weitergesagt sein. Gottes Wort soll jede einzelne Stunde des Lebens bestimmen.
Darum: „Höre, Israel!“ Schima Jisrael!

„Höre, Israel, der Herr, unser Gott, ist der einzige Herr.“ Fremd ist dieser Satz auch uns wirklich nicht. „Ich bin der Herr, dein Gott, der ich DICH aus Ägyptenland, aus der Knechtschaft, geführt habe. Du sollst keine anderen Götter haben neben mir.

Die Erinnerung an Gott, der das Seufzen seines Volkes, der MEIN Seufzen gehört hat und hört. Der den Schwachen zu ihrem Recht hilft und die Starken in die Schranken weist. Die Erinnerung an Gott, der seinen Menschen Leben und Zukunft schenkt.

Diese Worte soll das Volk in Erinnerung zu behalten. Diese Worte sollen es an Kinder und Enkel weitergeben. An diese Worte soll es sich erinnern lassen. Bis heute binden fromme Juden beim Beten die Tefillim, die Gebetskapseln an ihren linken Oberarm und zwischen die Augen.

Bis heute steht dieser biblische Text in einer Kapsel oder einfach mit seinem Anfangsbuchstaben an jeder jüdischen Eingangstür. Zeichen der Erinnerung sind das. Merkhilfen, wie unser Glaubensbekenntnis oder der Heidelberger oder der kleine Katechismus. Erinnerung an die große Liebe, die andauert bis heute.

„Höre Israel!“ Kein Haus sollen mehr betreten werden ohne diese Erinnerung: Gott ist und bleibt das große Gegenüber, der einzige Herr des Lebens. Einschärfen soll man sich diese Worte. Sich, seinen Kindern und Kindes – Kindern. Über sie reden, egal ob zu Hause oder unterwegs. Sie sich zu Herzen nehmen.

Der Glaube an diesen Gott ist kein Projekt für einen Tag pro Woche. Keine große Liebe ist das. Sie durchdringt und prägt jede Stunde des Lebens. DAS bedeutet „Mose und die Propheten“. Das erinnert das „Schima Jisrael“.

Meine Schwestern, meine Brüder,

was geht uns das heute an? Sollen wir unser Glaubensbekenntnis oder das Unservater gegen das Schima Jisrael eintauschen?

Ich denke, ihr habt es gemerkt: Da ist nichts einzutauschen. Denn „Mose und die Propheten“ gehören genau so zu uns wie sie zu Jesus gehört haben. Und darum trifft der Satz Jesu eben auch jeden von uns: Hören sie Mose und die Propheten nicht, so werden sie sich selbst dann nicht überzeugen lassen, wenn jemand von den Toten auferstünde.

Damit ist aber klar: Es gibt für uns ausreichend „Luft nach oben“. Genauso wie die Israeliten damals oder die Christen vor 502 Jahren brauchen wir auch heute noch die Erinnerung an den Kern unseres Glaubens: Die große Liebe zwischen Gott und Mensch, und die unendliche Freiheit zum Leben mit Gott, die daraus wächst. Und an die uns die Verse aus dem Galaterbrief (5, 1-6) heute erinnert haben.

Liebe und Freiheit sind nun eben aber KEIN Projekt für nur einen Tag pro Woche. Unseren Glauben in jedem Moment unseres Lebens zu leben, egal ob zuhause oder unterwegs, egal ob am Tag oder in der Nacht: Darauf kommt es an.

Liebe und Freiheit KANN man auch gar nicht für sich behalten, dann funktionieren die nämlich nicht. In der Familie nicht, im Beruf nicht, in der Freizeit nicht.

Darum erinnert schon Mose sein Volk wie ein Paar an seine Liebe erinnert wird, wenn es silberne oder goldene Hochzeit feiert: Lass die Hauptsache deines Lebens den Gott der Liebe und der Freiheit sein – Gott morgens, mittags und abends, Gott auf der Arbeit, im Urlaub und zuhause, Gott innen, außen am Haus und innen im Herzen.

Und Hand aufs Herz: Hier IST Luft nach oben, für jede und jeden von uns. Und diese stete Erinnerung an den eigenen Glauben fordert Reformations-Mühen heute. Auch die Mühe um die Formen, durch die wir unseren Glauben für uns selbst und andere im Gespräch und damit lebendig halten.

Dass Sonntagsgottesdienste dabei nicht die einzige Möglichkeit sind, dürfte allen klar sein. Gemeindenachmittage oder Bibelstunden, Lektorenkurse oder Konzerte, Erzählcafés oder Geburtstagsrunden SIND ja unsere Versuche, unserem Glauben nicht nur zum Sonntagsgottesdienst eine vernehmbare Stimme zu geben.

Ich persönlich kenne zwar keine bessere Form, Gottes Wort zu hören und es sich zu Herzen gehen zu lassen als diesen Sonntags- Gottesdienst. Hier kann man dem Zuspruch UND dem Anspruch Gottes begegnen und mit in seinen Alltag und seine Familie nehmen.

Aber nur weil MIR keine besser Form einfällt muss das ja nicht bedeuten, dass es diese bessere Form nicht gibt. Also lasst euch das mal durch den Kopf gehen, und wenn ihr eine Idee habt, dann lasst sie uns gemeinsam angehen.

Das wird dann zwar eine zusätzliche Anstrengung werden. So wie beispielsweise schon heute das Erstellen des Gemeindebriefes oder das Sprengelfest, der Höfetag oder die Erzählcafés zusätzliche Anstrengungen bedeuten.

Aber ohne diese Anstrengungen, ohne reformatorische Mühen unsererseits werden wir weder für uns selbst noch für andere Menschen als Christen erkennbar bleiben. Und diese Mühen müsste uns die Liebe unseres Lebens doch wert sein.

Auch wenn das jetzt nach viel Arbeit klingt:
Wir haben eigentlich nicht mehr zu tun als zu hören. Schima Jisrael, höre auf den einzigen Gott, deinen Herrn.

Die Liebe Gottes,
die Gnade unseres Herrn Jesus Christus
und die Gemeinschaft des Heiligen Geistes-

sie sind es doch,
die den Himmel in unser Leben bringen.
AMEN

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