Leidenschaft (Hld 2 8-13)

Den Kopf nach vorn beugen
auf die eigenen Füße sehen
den nächsten Schritt sehen
aber nicht wirklich weiter
Was kann der Mensch tun
wenn der andere den Kopf hängen lässt
was kann man bieten
dass der Blick nach vorn sich wieder lohnt?

Advent: Erlösung in Sicht
Bewahrung dieser Sehnsucht
ist Blick in den offenen Himmel Gottes

Seht auf und erhebt eure Häupter,
weil sich eure Erlösung naht.
Lukas 21,28
***
In der Stuttgarter Erklärungsbibel kann man lesen:
… „eine Sammlung von Liebesliedern, in der die beiden Liebenden ihre Empfindungen mit viel Poesie und ohne falsche Scham ausdrücken… mitten in der Bibel zu finden hat schon immer Erstaunen verursacht, und auch heute noch fühlen sich viele Leser merkwürdig berührt.“

Die Rede ist vom Hohelied Salomos.
„Merkwürdig berührt“ sind viele Bibellesende tatsächlich, und sie sind es immer und immer wieder.
Denn sie fragen sich, wie diese Liebespoesie es überhaupt geschafft hat, seit ungefähr zweitausend Jahren ihren festen Platz in der hebräischen Bibel zu bekommen.

Neben diese vielen toternsten Texte voller Gebote und Regeln, menschlichen Großtaten und menschlichem Versagen, voller brillanter Theologie und frommen Psalmen plötzlich Liebeslieder, leidenschaftlich, erotisch, fröhlich.

Ich kann natürlich auch nicht genau wissen, welche Gründe die Mütter und Väter des alttestamentlichen Kanons damals wirklich hatten, das Hohelied in die Bibel aufzunehmen.
Aber ich kann mir zumindest zwei Gründe dafür vorstellen.

Da ist zunächst ein „äußerer“ Grund. Das Buch heißt wie sein erster Vers, der wie eine Überschrift da steht: „Das Hohelied Salomos“ (1,1). Und vom großen König Salomo ist im ersten Buch der Könige (5) folgendes zu lesen:

9 Und Gott gab Salomo sehr große Weisheit und Verstand und einen Geist, so weit, wie Sand am Ufer des Meeres liegt,
10 dass die Weisheit Salomos größer war als die Weisheit von allen, die im Osten wohnen, und als alle Weisheit Ägyptens… 12 Und er dichtete dreitausend Sprüche und tausendundfünf Lieder.

Da konnte man natürlich diese Liedsammlung eines so großen und weisen Königs nicht einfach „links liegen lassen“, auch wenn ihre Überschrift kein Beweis der Verfasserschaft Salomos ist.

Denn dazu kommt noch ein „innerer“ Grund:
„Hoheslied“ bedeutet wörtlich übersetzt „Lied der Lieder“, beschreibt es also als bedeutend und wichtig. Denn es singt schließlich über die Liebe, und man kann es auch auf die Liebe zwischen Gott und seinen Menschen hin hören.

Liebe: Dieses Thema hat ja bis heute nichts von seiner Bedeutung verloren. Lieder über die Liebe stehen durch die Jahrtausende hindurch bis heute bei den Menschen hoch im Kurs, weil die Liebe in ihrem hoch im Kurs steht.

Egal, welchen Radiosender mit populärer Musik man heute hört: Mindestens jedes zweite Lied dort handelt von der Liebe.

Und wenn der Evangelist Johannes Recht hat, dass Gott die Liebe ist, und Paulus, dass Gottes Liebe unüberbietbar und allumfassend ist: Dann gehören selbst Lieder über die Liebe zweier MENSCHEN in die Bibel.

Die unendliche Liebe des ewigen Gottes: Man kann doch nur erahnen, wie groß sie ist, wenn man ALLES, was Liebe zwischen Menschen bedeutet, mitdenkt.

Rein mathematisch gesehen ist die Liebe unter den Menschen eine Teilmenge der Liebe Gottes. So wie das Gemüse in einer Suppe. Nichts, was Menschen zur Liebe denken und fühlen, kann Gott so gesehen fremd sein. Es ist ein TEIL seiner Liebe.

Und darum ist es wohl Teil der Bibel geworden, darum ist es Teil der „Festrollen“, die eine zentrale Bedeutung im jüdischen Festkalender haben: Das Hohelied gehört zum Passafest wie bei uns die Weihnachtsgeschichte nach Lukas zum Heiligen Abend oder der Besuch der Könige nach Matthäus zum Weihnachtsfest.

Warum ich das alles erzähle:
Mit der neuen Predigttextreihe in der Evangelischen Kirche, die ja seit 2018 gilt, ist das Hohelied nun auch zwei Mal empfohlener Predigttext geworden – am 20. Sonntag nach Trinitatis in Reihe 4 und am 2. Advent in Reihe 5 – zum ersten Mal im Advent also heute (zwei Mal am zwanzigsten und zweiten…)

Ich lese jetzt aus Kapitel 2 die Verse 8-13:

8 Da ist die Stimme meines Freundes!
Siehe, er kommt und hüpft über die Berge
und springt über die Hügel.
9 Mein Freund gleicht einer Gazelle
oder einem jungen Hirsch.
Siehe, er steht hinter unsrer Wand
und sieht durchs Fenster und blickt durchs Gitter.
10 Mein Freund antwortet und spricht zu mir:
Steh auf, meine Freundin, meine Schöne,
und komm her!
11 Denn siehe, der Winter ist vergangen,
der Regen ist vorbei und dahin.
12 Die Blumen sind hervorgekommen im Lande,
der Lenz ist herbeigekommen,
und die Turteltaube lässt sich hören in unserm Lande.
13 Der Feigenbaum lässt Früchte reifen,
und die Weinstöcke blühen und duften.
Steh auf, meine Freundin, und komm, meine Schöne,
komm her!

Frühlingsgefühle im gerade immer kälter werdenden Dezember. Zwei Liebende wollen zueinander kommen.
Zunächst hört sie nur seine Stimme. Er ist draußen, sie drinnen. Die Liebe macht ihn froh, alles fällt ihm leicht:
Wie eine Gazelle oder ein junger Hirsch springen können, so hüpft und springt er.
Er tanzt förmlich über die Hügel.

Die beiden trennen nun nur noch das Fenstergitter.
Glas hatten ja nur die ganz Reichen.
Die Blüten des Frühlings öffnen sich
wie die Herzen der beiden Verliebten.

Der Winter ist vergangen! Der Regen ist vorbei und dahin! Steh auf, meine Freundin, meine Schöne, und komm her!
Ihre Liebe ist stark, sie verleiht den beiden Flügel, eines der großen Geschenke des Lebens auf dieser Erde.
Eine Szene, die berührt.
Doch wie ist sie auf den Advent hin zu deuten?

Vielleicht so:
ZUNÄCHST nimmt sie das Motiv des Frühlings auf.
Genau so, wie Jesus vorhin in der Lesung aus dem Lukasevangelium (Lk 21, 29ff):

Seht den Feigenbaum und alle Bäume an: wenn sie jetzt ausschlagen und ihr seht es, so wisst ihr selber, dass der Sommer schon nahe ist. So auch ihr: Wenn ihr seht, dass dies alles geschieht, so wisst, dass das Reich Gottes nahe ist.

Oder das Wochenlied, da hieß es doch (EG 7,3):
O Erd, schlag aus, schlag aus, o Erd,/ dass Berg und Tal grün alles werd./ O Erd, herfür dies Blümlein bring,/ o Heiland, aus der Erden spring.

Die Hoffnung auf das Reich Gottes ist die Hoffnung auf das Kommen Gottes, der alle Dunkelheit, alle Kälte, alles Leid hinwegnehmen wird.
Wie der Frühling die Dunkelheit und Kälte des Winters beendet.

DANN die Beschreibung dieser großen Liebe:
Die beiden werden sich begegnen. Sie sind sich räumlich bereits nahe, im Herzen sind sie schon eins.

Doch es braucht noch einen paar Schritte, um sich zu sehen – von Angesicht zu Angesicht.
Im Moment trennen sie noch Wand und Gitter.
Aber sie hören sich, sehen sich, wollen zueinander.

Meine Schwestern, meine Brüder:

Das ist doch ein treffliches Bild für das,
was der zweite Advent sagt:

Gott sucht die Menschen auf.
Er tut dies durch Jesus Christus, unseren Herrn. Die Menschen hören schon seine Stimme, die sagt: Seht auf und erhebt eure Häupter, weil sich eure Erlösung naht!
Gott tritt an unser Lebenshaus, steht vor unseren Wänden, schaut durch unsere Gitter.

Eure Erlösung naht!
Das ist ein Umbruch wie im Frühling.
Der Winter ist vorbei, Schnee und Eis ziehen sich zurück. Wir Menschen sind ihm räumlich nahe, viele sind im Herzen bereits eins mit ihm. Das frierende Herz taut auf und beginnt neu zu leben. Nicht irgendwann. Sehr schnell.

Bei Wikipedia kann man lesen:
„Alle Gazellen sind schnelle Läufer, die über längere Zeit Geschwindigkeiten von 50 km/h durchhalten können. Von der Thomson-Gazelle sind sogar Spitzengeschwindigkeiten von 80 km/h bekannt.“
Schnell wie die Gazelle kommt Gottes Liebe zu uns.
Nicht langsam wie eine Schnecke.

Gott stürmt heran, er lässt nicht lange auf sich warten.
Er kommt, um Menschen zu erlösen aus Unfreiheit, Lieblosigkeit und selbstgemachten Zwängen und Erwartungen.

Das ist kein sachlich-trockenen juristisch formulierter Freispruch nach zähen Verhandlungen vor Gericht.
Hier entsteht eine Beziehung.
Ein Akt voller Liebe und Leidenschaft.

Erlösung ist neues Leben wie im Frühling.
Aufblühen. Mit den Vögeln singen.
Nicht irgendWELCHE Lieder: Liebeslieder werden es sein.

Ernesto Cardenal meint, dass Gott zwar den Menschen nicht brauche, um glücklich zu sein, aber doch den Menschen SO liebe, als ob er ohne ihn ewig unglücklich wäre.

Vielleicht hat Cardenal ja recht?
Vielleicht braucht es ja gerade diese Rede von Frühlingsgefühlen im Winter, von Leidenschaft in der Froststarre, damit wir fähig werden, Gottes Liebe zu erwidern. Nicht nur durchs Gitter sehen, sondern vor die Tür unseres Lebenshauses zu treten. Mit gleicher Leidenschaft wie Gott.

Doch mit dieser Leidenschaft haben es viele mehr als schwer. Vielleicht, weil sie zu verkopft sind und übergroße Gefühlsäußerungen da nicht angezeigt erscheinen.
Oder weil das Leben ihnen die Leidenschaft ausgetrieben hat, ihre Liebe zu oft enttäuscht wurde.

Wie leidenschaftlich Liebe ist, davon singt uns das Hohelied. Und wem das zu alt und viel zu lange her ist, dem hilft vielleicht Herr Bach, Johann Sebastian mit Vornamen. Der hat eine berühmte Arie in sein Weihnachtsoratorium geschrieben, deren Melodie wohl jeder kennt und mitsingen könnte. Und das für viele heute zur Adventzeit gehört wie der Weihnachtsbaum zu Weihnachten,

Aber der Text! Der Text?
Ich habe ja selbst das „W-O“ schon im Chor mitgesungen, aber vom Text fielen mir nur die ersten Worte ein: Bereite dich, Zion…

Aber damit ist der Text dieser Arie noch nicht zu ende:

„Bereite dich, Zion,
mit zärtlichen Trieben,
Den Schönsten, den Liebsten
bald bei dir zu sehn!
Deine Wangen
Müssen heut viel schöner prangen,
Eile, den Bräutigam sehnlichst zu lieben!“

Hat Bach das im Hohelied abgeschrieben?
„Eile, den Bräutigam sehnlichst zu lieben!“?

Ja: Die Liebe des Bräutigams, die Gnade unseres Herrn Jesus Christus und die Gemeinschaft des Heiligen Geistes kommen,

sie sind der Frühling unseres Lebens.
Egal wie alt wir auch werden.
AMEN

MUSIK: Voice – bereite dich Zion

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