Unser Gottesdienst am 2. Sonntag nach Epiphanias zum Nachhören ist für vierzehn Tage hier zu finden.
Woher kommt Ordnung
Woher Gerechtigkeit
Woher Gelassenheit
Woher Hoffnung und Heil
Das Wort Gottes
ist uns alles
das himmlische Jerusalem
ist durch Jesus Christus
Von seiner Fülle haben wir alle genommen
Gnade um Gnade.
WSp Joh 1,16
***
Herr Koopmann, willkommen in ihrer mündlichen Examensprüfung im Fach „Neues Testament“. Schlagen sie bitte auf: Brief an die Hebräer Kapitel 12 und übersetzen sie zunächst die Verse 12 – 25.
Mir wird schwarz vor Augen, das war der GAU, also der größte anzunehmende Unfall. Nein, das war der Super-GAU. Die griechischen Buchstaben tanzen wild vor meinen Augen herum und wollen sich nicht zu Wörtern zusammenfügen lassen, erst recht nicht zu ganzen Sätzen, die irgend einen Sinn ergeben.
„Worst case Szenario“ würde man heute wohl neudeutsch sagen, was „der schlechteste Fall“ bedeutet:
Das war es dann, das ist die totale Pleite im Examen.
Ich wache schweißnass auf. Ein Alptraum. Als ich wieder zu mir komme, fällt mir ein: Ich hatte im echten Examen mehr Glück als Verstand.
Ich kam mit einem Abschnitt aus der Apostelgeschichte dran. Da waren ziemlich viele unangenehme griechische Zahlen drin, aber zu meinem mehr-Glück-als-Verstand hatte ich exakt diesen Abschnitt zufällig zuhause am Vorabend übersetzt. So lief die Übersetzung ordentlich und auch der Rest des Prüfungsgespräches.
Doch dieser „Brief an die Hebräer“ hat es in sich, und das gleich doppelt.
Zuerst: Er schreibt das sicher schwerste Griechisch, das im Neuen Testament zu finden ist.
Und zweitens: Selbst, wenn ich ihn auf Deutsch lese, fällt es mir sehr schwer, ihn zu verstehen.
Unser Predigtabschnitt für heute ist genau der aus meinem Alptraum, und damit ihr es ein wenig leichter habt,
lese ich ihn lieber nicht griechisch,
sondern aus der Neuen Genfer Übersetzung:
12 Darum stärkt eure müden Hände und eure zitternden Knie
13 und lenkt eure Schritte entschlossen in die richtige Richtung! Denn die lahm gewordenen Glieder dürfen sich nicht auch noch ausrenken, sondern sollen wieder heil werden.
14 Bemüht euch mit ganzer Kraft um Frieden mit jedermann und richtet euch in allem nach Gottes Willen aus! Denn ohne ein geheiligtes Leben wird niemand den Herrn sehen.
15 Achtet darauf, dass niemand sich selbst von Gottes Gnade ausschließt! Lasst nicht zu, dass aus einer bitteren Wurzel eine Giftpflanze hervorwächst, die Unheil anrichtet; sonst wird am Ende noch die ganze Gemeinde in Mitleidenschaft gezogen.
16 Achtet auch darauf, dass niemand ein unmoralisches Leben führt oder mit heiligen Dingen so geringschätzig umgeht wie Esau, der sein Erstgeburtsrecht für eine einzige Mahlzeit verkaufte. 17 Ihr wisst, wie es ihm später erging: Als er den Segen bekommen wollte, der ihm als dem Erstgeborenen zustand, musste er erfahren, dass Gott ihn verworfen hatte. Er fand keine Möglichkeit mehr, ´das Geschehene` rückgängig zu machen, so sehr er sich auch unter Tränen darum bemühte.
18 Nun habt ihr Gott ja auf ganz andere Weise kennen gelernt als die Israeliten damals am Sinai. Der Berg, zu dem sie kamen, war ein irdischer Berg. Er stand in Flammen und war in dunkle Wolken gehüllt. Es herrschte Finsternis, ein Sturm tobte,
19 Posaunenschall ertönte, und eine Stimme sprach zu ihnen, ´vor der sie sich so fürchteten, dass` sie inständig baten, kein weiteres Wort mehr hören zu müssen.
20 Denn schon zuvor, als es hieß, alle müssten gesteinigt werden, die dem Berg zu nahe kämen – gleich, ob Menschen oder Tiere -, hatten Angst und Schrecken sie befallen.
21 Das ganze Geschehen, das sich vor ihren Augen abspielte, war so Furcht erregend, dass selbst Mose bekannte, er zittere vor Angst.
22 Ihr hingegen seid zum Berg Zion gekommen, zur Stadt des lebendigen Gottes, zu dem Jerusalem, das im Himmel ist.
Ihr seid zu der festlichen Versammlung einer unzählbar großen Schar von Engeln gekommen
23 und zu der Gemeinde von Gottes Erstgeborenen, deren Namen im Himmel aufgeschrieben sind.
Ihr seid zu Gott selbst gekommen, dem Richter, vor dem sich alle verantworten müssen, und zu den Gerechten, die bereits vollendet sind und deren Geist bei Gott ist.
24 Und ihr seid zu dem Vermittler des neuen Bundes gekommen, zu Jesus, und seid mit seinem Blut besprengt worden – mit dem Blut, das noch viel nachdrücklicher redet als das Blut Abels.
25 Hütet euch also davor, den abzuweisen, der zu euch spricht!
Ja, selbst jetzt, wo das Ende meines Berufslebens in Sicht kommt, erscheint mir die Theologie des Hebräerbriefes immer noch wesentlich komplizierter zu sein als die des Römerbriefes.
Als wir beim Bibeln den kompletten Römerbrief lasen, kamen wir in der Stunde am Freitagabend oft nicht über zwei Verse hinaus, manchmal war es sogar nur einer. Mit dem Hebräerbrief würde es wohl eher noch langsamer vorangehen.
Da hilft es mir auch nicht, dass mein Konfirmator mir einen Vers aus dem Hebräerbrief auf meine Konfirmationsurkunde schreiben ließ. Wobei mir dieser Vers inzwischen aber so nahe ist, dass ich ihn gern mag und immer wieder einmal bedenke.
Aber Gotteswort und Menschenwort voneinander zu trennen – das empfinde ich beim „Hebräer“ als besonders schwer, und für alle die, die ihre Bibel eher selten lesen, wird er sicher ein „Buch mit sieben Siegeln“ sein – eher noch als die Offenbarung des Johannes, in dem man diese sieben Siegel beschrieben findet.
Dabei war es beim Römerbrieflesen auch immer neu Thema, wie der schriftgelehrte Paulus seine Bibel verstanden hat, die heute unser „Altes Testament“ ist. Der „Hebräer“ hat eine Sicht auf die hebräische Bibel, die für mich deutlich schlechter nachzuvollziehen ist.
Hier lässt er uns zum Beispiel hören:
Geht aufrecht in die richtige Richtung – dabei gebraucht er die Vokabel orthas, die in unserer „Orthopädie“ steckt, also richtet eure Glieder! Sucht Frieden und ein Leben in Heiligung und wiederholt nicht den alten Fehler wie Esau, der das Heilige gering schätzte und für ein Linsengericht eintauschte. Oder wie die Israeliten und Mose am Sinai und die dort so erschreckt gewesen seien, dass sie kein Ohr für Gottes Stimme gehabt hätten.
Und dann zählt er auf, was die Gemeinde gewonnen hat und zu verlieren droht: Den Zion, das himmlische Jerusalem, die Rechte der Erstgeborenen auf das Gotteserbe, den einzig gerechten Richter, den Anteil auf den neuen Bund im Blute Christi, das im Vergleich zum Blute Abels eine deutlichere Sprache spräche. Und man sich darum davor hüten solle, die Stimme Gottes zu überhören.
Was der „Hebräer“ da macht, machen selbst heute noch viele, selbst Christen untereinander. Während Paulus keinen Zweifel an der GOTTESBERUFUNG Israels entstehen lässt und seinen SCHMERZ über die Trennung von Israel spüren lässt, von der er hofft, dass sie überwunden werden kann, gehen DIE einen anderen Weg: Sie machen den eigenen Glauben groß, indem sie den Glauben anderer schelten und klein machen.
Und dabei auch noch irren. Denn die gemeinsame Geschichte Jakobs und Esaus endet nicht mit dem Linsengericht, sondern mit der Versöhnung zwischen Jakob und Esau. Und die Gottesbegegnung am Sinai endet nicht in Furcht und Schrecken, sondern damit, dass das Volk die „zehn Worte“ empfängt, die wir heute noch als Grundlage gelingenden Lebens ehren.
Den Glauben anderer schlecht reden: Ich merke doch, wie sehr es mich SELBST trifft, wenn beispielsweise Kernaussagen meines apostolischen Glaubensbekenntnisses von anderen geringschätzig kommentiert werden. Oder wenn andere Christen mir zu erklären versuchen, wie ein echtes Christsein auszusehen hätte, vor allem aber anders als meines. Oder dass es kein Wunder sei, dass den alten Kirchen die Leute wegliefen, weil alte Kirche einfach nicht verstehen würde, was die neuen Menschen heute bräuchten.
Solche Argumentationen empfinde ich nicht als Klärung, sondern als Last: Auch und gerade als Last im zwischenmenschlichen Zusammenleben. Ich weiß doch, dass man Menschen nicht für Christus gewinnt, indem man über andere schlecht redet – nicht einmal dann, wenn man in gewisser Weise recht haben sollte. Solche Übergriffigkeit führt zu nichts Gutem.
Auf der anderen Seite aber kann ich die SORGE des „Hebräers“ um die Ermüdung in seiner Gemeinde gut nachvollziehen. Sie begleitet mich selbst schon lange, eigentlich seit Jugendzeiten. Ich bin in Brandenburg großgeworden. Das ist zwar keine richtige Großstadt, hatte damals aber fast 100 000 Einwohner. Drei schöne, große gotische Kirchen und einige neuere – eine Kirchengemeinde an der anderen mit etlichen Pfarrstellen.
Wenn man da in seiner Gemeinde nicht findet, was man sucht, geht man einfach in eine andere. Wo man Kirchensteuer bezahlt, ist schließlich egal. Das habe auch ich ganz schnell mitbekommen.
Das erste Jahr in meiner Heimat – Jungen Gemeinde war so öde, dass ich mir schnell etwas anderes suchte. Gleich beim ersten Versuch wurde ich fündig: Eine große Gruppe mit über 40 Leuten, die sich mehrmals die Woche trafen, sangen und diskutierten, aber auch miteinander aßen und tranken und gemeinsam wegfuhren.
Die Themen waren heiß, nicht nur die Köpfe rauchten oft, hier fanden viele ihren Platz in der Enge des sozialistischen Schulsystems und echte Freunde, die man anderswo vergeblich suchte.
Eigentlich eine ideale Jugendarbeit. Aber schon mein Bruder, der knapp 7 Jahre jünger ist als ich, fand diese Jugendgruppe nicht mehr vor. Und das sicher nicht nur, weil die Älteren zu alt geworden waren und sich Anderes gesucht hatten. An den Mitarbeitern konnte es auch nicht liegen, denn die waren noch die gleichen.
Seither werde ich das Grundgefühl nicht mehr los, das meine Mitchristen müde und immer müder werden. Nachdem das Feindbild Staat wie die Mauer gefallen ist, sogar noch schneller als früher.
Auch den ZORN des „Hebräers“ kenne ich in mir. Das Suchen nach Ursachen für das Kleiner werden der Kirchen in Deutschland erscheint mir nicht selten panisch, der Glaube an Statistiken und die zu reformierenden alten Formen des Gottesdienstes oft größer als an das Evangelium.
Sind wir als Kirche denn wirklich dafür da, Eigentum zu verwalten und Events zu gestalten? Sind Verkündigung des Evangeliums, Feier von Taufe und Abendmahl, Seelsorge oder biblische Bildung so unwichtig geworden, dass sie nur noch so wenige Schlagzeilen wert sind, sogar in der Kirchenzeitung?
Dieses „Grundrauschen“, so möchte ich es einmal nennen, scheint inzwischen in aller Ohren zu sein. Allen müsste doch klar sein, dass Menschen, die der Kirche in Massen den Rücken zukehren, nur einzeln wieder zurück geholt werden können. Es müsste klar sein, dass es an der BOTSCHAFT Christi nicht nur im eigenen Kopf, sondern auch im täglichen Leben liegt, die sichtbar und hörbar werden muss.
Doch mir scheint: Immer mehr Menschen in den Gemeinden scheinen sich selbst genug zu sein, immer weniger engagieren sich bei Gemeindeveranstaltungen, Gottesdiensten und in der Leitung, immer mehr ärgern sich laut über „die Kirche“, die die Antworten auf die Fragen der Zeit nicht mehr geben könne und vergessen, dass sie SELBST genau das sind: „Die Kirche“.
Die Frage: Wer kommt nach uns in dieser Gemeinde, wenn wir nicht mehr da sind? ist laut. Aber die Frage: WAS kommt, worauf leben wir zu, aus welcher Hoffnung leben wir? wird immer leiser. Aber genau um die geht es doch: Es geht darum, WAS kommt, und das KÖNNEN wir wissen, weil Gott das Leben der Menschen durch sein Wort schafft und begleitet. ER spricht doch über das WAS mit uns!
Diese Frage nach dem Was aber, meine Schwestern und Brüder,
beantwortet der „Hebräer“, indem er das Bild vom „himmlischen Jerusalem“ in allen Farben ausmalt, die er finden kann. Er sagt damit:
Die Hoffnung der Menschen Gottes lebt eben NICHT aus dieser Welt.
Sie lebt aus dem HIMMEL Gottes.
Sie lebt aus der Gewissheit, dass trotz aller Wehklage Jerusalems Gott UNTER UNS ist, wie wir eingangs schon aus dem Propheten Jeremia hörten (14,2-9).
Sie lebt aus der Gewissheit, dass wir Menschen, jede und jeder für sich, Gottes „Erstgeborene“ sind, also die unbestrittenen Erben seines Reiches.
Sie lebt aus der Gewissheit, dass die Namen der Hoffenden nie vergessen, sondern im Himmel aufgeschrieben sind.
Dass sie aus der nie endenden Ungerechtigkeit dieser Welt in die Gerechtigkeit Gottes kommen werden.
Dass sie Jesus Christus kennen und lieben lernen durften, der ihnen den Weg zum Berg Zion öffnet und offen hält, der sein Leben für sie gegeben hat und gibt, für heute und immer im Brot und Wein seines heiligen Mahles.
Wenn ich diese Begeisterung des „Hebräers“ für seinen Glauben lese, werden Sorge und Zorn um meine Kirche in mir klein, und je länger ich über das himmlische Jerusalem nachdenke, verschwinden sie tatsächlich ganz.
Dann weiß ich es wieder:
Die Liebe Gottes, die Gnade unseres Herrn Jesus Christus und die Gemeinschaft des Heiligen Geistes:
SIE werden unsere Leiber und Seelen
im himmlischen Jerusalem bewahren.
Eine größere Hoffnung werden wir nicht finden.
AMEN