Ein Fest des Denkens II ( 2 Kor 8 7-9)

Unser Gottesdienst vom 2. Weihnachtsfeiertag ist für vierzehn Tage hier zum Nachhören zu finden.

Martin Luther:
Wir fassen keinen andern Gott
als den,
der in jenem Menschen ist,
der vom Himmel kam.
Ich fange bei der Krippe an.

Das Wort ward Fleisch und wohnte unter uns,
und wir sahen seine Herrlichkeit.
Johannes 1,14a
***
Er wachte auf, ziemlich gerädert. Er hatte wohl gestern zu spät zu viel gegessen und darum mies geschlafen. Ein Blick aus dem Schlafzimmerfenster ließ ihn mit einem Schlag noch schlechtere Laune bekommen: Es regnete immer noch, wie schon seit Wochen. Und die Zweige der Robinie bogen sich im Wind.

Weiße Weihnacht – er wusste es schon immer, weiße Weihnacht war ein Phantom, ein Fünfer im Lotto. Mindestens, vielleicht sogar ein Sechser mit Zusatzzahl. Da half es auch nicht, wenn seine Freunde aus dem Rheinland immer sagten, er würde im Sibirien Deutschlands wohnen. Brandenburg war eben noch nicht Sibirien genug. Brandenburg war bestenfalls das neue Ostpreußen.

Lust zum Aufstehen hatte er keine. Seine Gedanken kehrten zum Abend gestern zurück. Er war in die Christvesper gegangen. Eigentlich machte er das ja in jedem Jahr, wenn er frei hatte. Aber in diesem Jahr war es ihm besonders schwer gefallen, sich auf den Weg zu machen, weil so gar keine Weihnachtsstimmung in ihm war.

Aber da, in der Christvesper, da war ihm eingefallen, was Friedrich gesagt hatte. Friedrich, einer der Senioren in der Einrichtung für geistig Behinderte, in der er arbeitete. Der hatte neulich gesagt, als er ihn gefragt hatte, was Denken denn eigentlich sei: Denken ist wundervolles Dasein.

Ja, dachte er: Der Friedrich hat mit seinen 68 Lebensjahren doch mehr Lebenserfahrung, als ich ihm zugetraut hätte. Dieser Satz hatte es wirklich in sich: Denken ist wundervolles Dasein.

Gestern hatte er darum immer wieder über das Denken nachgedacht. Dass in Gedanken Dinge möglich wurden, die er eigentlich für unmöglich gehalten hätte. Dass nicht nur die Gedanken frei SIND, sondern dass sie sogar in der Lage sind, DEN Menschen frei zu machen, der Freiheit denkt.

Ihm war das ja gestern irgendwie auch passiert. Von den Mächten der Welt befreit zu werden, wie es gestern aus dem Galaterbrief verlesen worden war. Gestern hatte er begriffen, dass das tatsächlich passieren kann. Beim Denken.

Ja, einfach war Denken zwar nicht, doch es hatte ihn gestern nicht nur angestrengt, sondern ihm eine Überraschung beschert: Es war für ihn tatsächlich Weihnachten geworden. Etwas, womit der in diesem Jahr nun überhaupt nicht mehr gerechnet hatte. Ein schönes Gefühl.

(Wer neugierig ist, wie das Denken am Heiligen Abend von ihm Besitz ergriffen hat, der muss einfach in der Predigt von vorgestern nachlesen, ich verrate am Ausgang auch gerne, wo man die findet.)

Aber nun lag er im Bett und hatte immer noch keine Lust zum Aufstehen. Also dachte er einfach weiter, das geht ja auch im Liegen. Merkwürdig, dieses Weihnachten. Als er davor zum letzten Mal im Gottesdienst war, das war wohl am Erntedanktag, da waren vielleicht fünfzig Leute in der Kirche.

Doch gestern hätte er gar keinen Sitzplatz mehr bekommen, wenn er erst fünf Minuten vorher dagewesen wäre. Von Kirchenaustrittswelle keine Spur. In ihm keimte plötzlich ein Verdacht: Ob auch Ausgetretene gestern in der Kirche waren? War es vielleicht deshalb in der Kirche so voll gewesen?

Irgendwie war es wie beim ausverkauften Konzert von Helene Fischer in der Mercedes Benz Arena im Mai. Aber da wusste er, warum er hingegangen war: Er wollte selbst die perfekte Show miterleben, die versprochen worden war. Und dieses Versprechen war eingehalten worden, wirklich. Er hatte also bekommen, wofür er gezahlt hatte. GUT gezahlt, immerhin 249 € für die Karte, weil er es sich zu spät überlegt hatte, hinzugehen. Die Stehplätze für 79 € waren da schon lange weg…

Warum er aber in die Christvesper gegangen war? Gute Frage. Warum waren all die anderen hingegangen? An einer perfekten Show konnte es jedenfalls nicht gelegen haben. 50 € hatte es ihn trotzdem gekostet. Naja, gekostet war eigentlich der falsche Ausdruck: Er hätte ja nicht so viel in die Kollektendose am Ausgang stecken müssen, aber „Brot für die Welt“ war es ihm wert.

Warum also waren da gestern so viele Leute gewesen? Keine perfekte Helene Fischer Show, kein schwedisches Königs-Schloss mit Kronprinzessin Victoria, kein Dumbledore mit Harry Potter. Stattdessen der alte, verstaubte Lukas mit Maria und Joseph, dem Kind in der Krippe, den Hirten und den Engeln. Keine Siegergeschichten, kein Glanz und Glamour, alles wie aus der Zeit gefallen, nichts, was für den Mainstream taugt. Warum also waren da gestern so viele Leute gewesen? Er wusste es wirklich nicht.

Zumal Paulus, um den es gestern ja in der Predigt gegangen war, genau genommen noch verstaubter war als Lukas. Er hatte gestern Abend vor dem Schlafengehen extra noch gegoogelt: Es gab nicht wenige Experten, die davon ausgingen, dass Lukas ein junger Mitarbeiter aus dem Stab des Paulus gewesen sei. Da hätte es ja der Schüler mal wieder weiter gebracht als der Lehrer. Zumindest am Heiligen Abend stand Schüler Lukas auf Platz 1 der Hitliste. Weit vor Paulus.

Aber das Nachdenken – das Denken über das Denken sowie das Denken selber – das hatte Freude bereitet und es für ihn Weihnacht werden lassen. Ja, immer noch keine weiße, sondern nasse, aber doch Weihnacht. Oh, ein paar Sonnenstrahlen – vielleicht sollte er jetzt doch ein wenig spazieren gehen…

Er stand auf, aß etwas und ging raus. Auch die Weihnachts-Deko in den Fenstern und auf der Straße sagten ihm: Weihnachten ist gesellschaftlich relevant. DAS sagten sie. Nur nicht, warum. War es das Fremde, was es so anziehend machte? Ein Säugling in einem Futtertrog konnte es jedenfalls nicht sein. So etwas gab es doch heute noch auf den Flüchtlingsrouten dieser Welt.

Aber alles, was gestern gesungen und geredet worden, war im Grunde fremd: Fremd für diese Leistungsgesellschaft, in der er lebte. Ja, vielleicht war es das, was faszinierte: Das Fremde.

Das Wetter jetzt war ihm allerdings nicht fremd. Die Sonne war weg, und es regnete schon wieder. Und er fasste einen Entschluss: Morgen würde er noch einmal in den Gottesdienst gehen.

Es musste ja nicht zur Regel werden. Aber er hatte gerade Freude am Denken. Also konnte er morgen auch weiterdenken, schließlich war der zweite Weihnachtsfeiertag eben das: Ein Feiertag, arbeitsfrei, jedenfalls für die meisten anderen. Aber er hatte in diesem Jahr auch keine Dienst, also: Auf zum Gottesdienst. Denn Denken ist wundervolles Dasein.
Danke, Friedrich.

Das hatte er schon befürchtet. Während er vorgestern in der Masse anonym bleiben konnte, fiel er heute auf wie ein bunter Hund – kein Wunder bei dreißig Leuten. Aber immerhin erkannte er ein paar Gesichter. Und Lektor und Pfarrer waren auch dieselben wie vorgestern.

Diesmal hatte er seine Bibel mitgenommen. Die alte Senfkornbibel zwar nur, aber seine Augen waren ja noch gut. So konnte er mitlesen, das hatte er schon mal in Schweden in einem Gottesdienst gemacht, da standen die Bibeltexte zum Sonntag ganz hinten im Gesangbuch.

Heute konnte er auch mitlesen: Die Weihnachtsgeschichte nach Matthäus, nicht nach Lukas. Das war ja eine ganz andere Hausnummer. Keine Krippe, keine Hirten… Ach, HIER tauchten sie später auf, die Weisen aus dem Morgenland! Die hatte er nämlich bei Lukas, als er vorgestern noch nachgelesen hatte, gar nicht finden können. Hm, musste er nun seine Weihnachtskrippe umbauen und die drei Könige von dort wegräumen?

Oh, schon wieder Paulus als Predigttext.
Drängelte der sich wieder in den Vordergrund, der alte Lehrer des Lukas. Aus 2. Kor 8, und dann ging es auch noch ums Geld.

Daran hatte er ja nun gerade zu Weihnachten überhaupt nicht mehr denken wollen. Obwohl, hatte er ja schon, zumindest gestern waren ihm die 249 € für Helene Fischer im Kopf rumgespukt. Vielleicht dachte er doch öfter über Geld nach als ihm selbst lieb war?

Eine Liedstrophe fiel ihm ein: „Geld ist nicht wichtig, es beruhigt nur die Nerven, doch man muss es auch besitzen ums zum Fenster rauszuwerfen. Wenn ich das große Los zieh, geb’ ich nicht gleich alles aus, mach’ an der nächsten Ecke eine Lottobude auf…“ Rio Reiser war das, glaubte er.

Ja, überall im Leben ging es um Geld. Dabei war es genau genommen nichts weiter als ein Hilfsmittel zum Tauschen. Damit man nicht mit Autoersatzteilen in den Supermarkt gehen musste, um Brot und Butter einzutauschen.

Aber für viele Leute war Geld vom Tauschmittel zum einem Lebensinhalt geworden. Ach, nicht nur EIN Lebens-INHALT, gleich zum Lebenssinn. Darum hörte bei Geld auch für Viele, die er kannte, die Freundschaft auf.

Mit diesem Sprichwort konnte er eigentlich nichts anfangen. Was war eine Freundschaft wert, wenn sie am Geld scheiterte? Sicher, man konnte kein Geld weggeben, was man nicht hatte. Doch es deshalb gleich sammeln und krampfhaft für sich selbst festhalten?

Andere Leute sammelten ja lieber wertvolle Vasen oder Gemälde oder Briefmarken… Doch was hatte dieses ganze Sammeln überhaupt für einen Sinn? Dass man ein Haus nach dem anderen an die ohnehin schon großen Museen in Berlin oder New York anbauen musste, nur weil man Lagerräume brauchte?

Dass man Sicherheit im Alter hatte? Geld konnte gestohlen werden, Inflation konnte seinen Wert schmälern oder gar nehmen, Häuser konnten abbrennen… Nichts war sicher auf dieser Welt, gar nichts. Kein Konto, keine Rente, kein Haus. Also wofür diese Sammelwut? Gab es keine wirklichen Schätze?

Der Satz aus dem Predigttext, der bei ihm hängen geblieben war, lautete:
„Ihr kennt die Gnade unseres Herrn Jesus Christus: Obwohl er reich ist, wurde er doch arm um euretwillen, auf dass ihr durch seine Armut reich würdet.“ (V 9)

Dieser Vers war doch irgendwie weihnachtlich. Denn ärmer als ein Kind in einem Futtertrog – ärmer ging es wohl nicht. Und gab es da nicht auch die Geschichte vom Kindermord des Herodes? Dann konnte es auf der Mittelmeerroute für Flüchtlinge auch nicht gefährlicher sein. Arm und bedroht, dieser Gott.

Und wenn er weiter nachdachte: Wenn der unendliche und allmächtige Gott ein endlicher und ohnmächtiger Säugling wurde, dann konnte es eigentlich schlimmer für ihn nicht kommen. Wie sollte es dann aber funktionieren, dass die Menschen dadurch reich würden? Also auch er selbst?

Klagen konnte und wollte er nicht. Sein Geld reichte ja nicht nur für sein geliebtes Motorrad, sondern auch für Helene Fischer UND Brot für die Welt. Aber reich? Waren das nicht die Elon Musks dieser Welt? Der allein hatte angeblich 2021 320 Milliarden Dollar besessen, und das sein Vermögen 2023 auf 254 Milliarden „geschrumpft“ war, zeigte doch dreierlei:

Wie schnell Geld auch wieder weg sein konnte und dass Musk noch immer der reichste Mensch der Welt war. Und drittens: Wenn man allen Superreichen das Geld wegnehmen und es an alle Menschen auf der Welt gleichmäßig verteilen würde – selbst das würde doch nicht alle Menschen „reich“ machen.

Ihm dämmerte: Durch Gottes Armut reich werden – dass musste anders gemeint sein. Sicher hatte das etwas mit dem gesamten Wirken des Christus zu tun. Denn egal ob Stall oder Schädelstätte, Krippe oder Kreuz – ging es nicht nur um das Ziel? Das gleiche Ziel wie vorgestern: Dass der Mensch frei würde von den Zwängen dieses Erden – Lebens? Frei würde zu einem Leben, das diesen Namen verdiente? Und konnte man so ein Leben nicht finden, indem man sich an das Leben von Jesus Christus hielt?

Eigentlich, dachte er, hat sich die Welt nicht verändert in den letzten 2023 Jahren, jedenfalls nicht grundsätzlich. Es geht wie immer und scheinbar ewig um Geld und damit und Macht und um Einfluss. Doch Friedrich würde recht behalten:
Denken ist wundervolles Dasein.
Dieses Dasein wollte er. Also HATTE Weihnachten etwas verändert: Es hatte IHN verändert.

Und überhaupt: Die drei Könige aus seiner Krippe wegzuräumen – das war nun wirklich Blödsinn. Denn es kam letztlich überhaupt nicht darauf an, ob Lukas mit seiner Geschichte nun richtig lag oder nicht. Lukas war schließlich bei der Geburt Jesu, wie sagte man doch so nett: Ein Käse im Schaufenster.

Lukas war einfach der Geniestreich gelungen, alle Quintessenz des Lebens Jesu bereits in der Geschichte vom Krippenkind zu verstecken. Das war es wohl, was seine Story zum Bestseller machte.

Um eine Kollektensammlung war es im da im Korintherbrief gegangen? Was, und nur gute 500 € in der Kollektensammlung vorgestern? Dann musste sein 50 € Schein wohl der größte gewesen sein. Vielleicht waren die anderen einfach nur cleverer als er und überwiesen ihr „Brot für die Welt“. Da gab es dann eine Spendenquittung für die Steuer.

Ach, schon wieder das „liebe“ Geld. Dabei war ihm das Geld gar nicht „lieb“. Lieb waren ihm freundliche Mitmenschen, das Einstehen füreinander, wenn Gnade vor Recht erging, wenn bei Geld die Freundschaft erst so richtig anfing und Liebe nicht geheuchelt wurde.
Vielleicht WAR er es ja schon? WIRKLICH reich?
Er ging nach der schönen Orgelmusik froh nach Hause.

Die Liebe Gottes, die Gnade Jesu Christi
und die Gemeinschaft des Heiligen Geistes

MACHTEN sein Leben reich.
Und nicht nur seines. AMEN.

 

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