Den Kopf nach vorn beugen
auf die eigenen Füße sehen
den nächsten Schritt sehen
aber nicht wirklich weiter
Was kann der Mensch tun
wenn der andere den Kopf hängen lässt
was kann man bieten
dass der Blick nach vorn sich wieder lohnt?
Advent: Die Erlösung kommt in Sicht
der Himmel Gottes ist offen
Seht auf und erhebt eure Häupter,
weil sich eure Erlösung naht.
Lukas 21,28
***
Als ich heute Morgen die zweite Kerze am Adventskranz angezündet habe, habe ich mich – wieder einmal – gewundert, wie schnell eine Woche vorbei sein kann. Ich glaube, dass euch das auch so geht. Wenigstens manchmal. Das man sich wundert, wie schnell ein Tag, eine Woche oder auch ein Jahr herum ist.
Als ich Kind war, habe ich irgendwann für mich entdeckt, dass nur die Zeit schnell vergeht, die mir Spaß macht, die andere mir aber doppelt so lang erscheint wie sie in Wirklichkeit ist. Die Zeit bis Weihnachten zum Beispiel dehnte sich lang und länger, und der Heilige Abend selbst war die Folter schlechthin.
Denn bevor es endlich zu den Geschenken unter dem Weihnachtsbaum ging, musste ich erst warten, bis mein Vater von seinen manchmal sechs Christvespern wieder nach Hause kam. Das war nie vor 19 Uhr. Und nicht, dass es dann losgehen konnte – nein: Man musste erst noch ordentlich gemeinsam Abendbrot essen. Dann war es mindestens 20 Uhr. Also: So ein Heiliger Abend im Pfarrhaus Koopmann war nichts für ungeduldige Kinder.
Heute ist mir diese Art von Ungeduld völlig abhanden gekommen. Die Zeit bis Weihnachten vergeht im Gegenteil viel zu schnell. Da lohnt es sich für mich gar nicht mehr, in schöne oder unangenehme Zeit zu unterscheiden.
Ehe ich mich’s versehe, wird die Zeit für die Vorbereitung der Gottesdienste zwischen dem vierten Advent und dem zweiten Weihnachtstag knapp, und irgendwelche Weihnachtsgeschenke fehlen am Ende auch immer, weil die Advents-Zeit irgendwie nicht gereicht hat, sondern von Jahr zu Jahr kürzer zu werden scheint. Bin ich etwa geduldiger geworden oder einfach nur älter und damit langsamer?
So erwischt mich der Predigttext für heute aus dem 5. Kapitel des Jakobusbriefes zunächst auf dem falschen Fuß, zumindest was seinen Anfang betrifft. Ich lese ab Vers 7 (NGÜ):
7 Haltet nun also geduldig aus, Geschwister, bis der Herr wiederkommt! Denkt an den Bauern, der darauf wartet, dass auf seinem Land die kostbare Ernte heranreift. Ihretwegen fasst er sich in Geduld, bis der Herbstregen und der Frühjahrsregen auf das Land gefallen sind.
8 Fasst auch ihr euch in Geduld und stärkt eure Herzen ´im Glauben`, denn das Kommen des Herrn steht nahe bevor.
9 Klagt und jammert nicht übereinander, Geschwister, damit Gott euch nicht verurteilen muss. Denkt daran: Der Richter steht schon vor der Tür!
10 Geschwister, wenn es darum geht, im Leiden Geduld zu beweisen, nehmt euch die Propheten, die im Namen des Herrn geredet haben, zum Vorbild.
11 Schließlich ist es doch so, dass wir die glücklich preisen, die ´in der Prüfung` standhaft geblieben sind. Ihr habt von der Standhaftigkeit Hiobs gehört und wisst, dass der Herr bei ihm alles zu einem guten Ende geführt hat, denn der Herr ist zutiefst barmherzig und voll Mitgefühl.
Ein Loblied auf die Geduld. Dabei weiß ich doch genauso gut wie ein Bauer, dass es keinen Zweck hat, Dinge beschleunigen zu wollen, die man nicht beschleunigen kann. Wer sein Apfelbäumchen gepflanzt hat, der gießt es fleißig. Aber ungeduldig daran zu ziehen, damit es schneller wächst und früher Äpfel gibt, das würde doch wohl niemandem von uns einfallen.
Oder wenn man auf den letzten Drücker auf dem Bahnsteig angekommen ist, nur um dann aus den Lautsprechern zu hören, dass sich der Zug – leider leider – um eine halbe Stunde verspäten wird: Da hat es keinen Sinn, sich den Regen oder den Wind wegzuwünschen oder dem Zug entgegenzulaufen. Man wird einfach warten MÜSSEN.
Oder wenn man auf das Infektionsgeschehen der Corona-Pandemie sieht und die Gewissheit immer größer wird, dass Weihnachten, Silvester oder Urlaub in diesem Jahr ganz sicher nicht das werden, was man sich gewünscht hat: Was soll man denn MACHEN, außer auf bessere Zeiten zu warten?
Der Ruf des Jakobus, ich solle geduldig sein, rennt bei mir offene Türen ein. Auch, wenn ich es sein soll, „bis der Herr wiederkommt“. Wie war es vorhin im Tagesevangelium zu lesen? „Und es werden Zeichen geschehen an Sonne und Mond und Sternen, und auf Erden wird den Völkern bange sein, und sie werden verzagen vor dem Brausen und Wogen des Meeres, und die Menschen werden vergehen vor Furcht und in Erwartung der Dinge, die kommen sollen über die ganze Erde; denn die Kräfte der Himmel werden ins Wanken kommen. Und alsdann werden sie sehen den Menschensohn kommen in einer Wolke mit großer Kraft und Herrlichkeit…“ (Lk 21, 25ff)
Also das kann durchaus warten, finde ich. So schlecht finde ich es auf dieser Welt nicht, nicht einmal mit Kontaktbeschränkungen, Urlaubssperre und Quarantäne auf einmal. Ja, ich habe im Studium gelernt, dass es in der frühen Christenheit einmal die Hoffnung gegeben haben soll, dass die Wiederkunft Christi sich schnell ereignen möge.
Aber erstens kann man fast zweitausend Jahre nach dem Tod Jesu mit Recht feststellen, dass sich diese Hoffnung nicht erfüllt hat.
Und zweitens habe ich nie wirklich verstanden, warum man das Ende dieser Welt herbeisehnen sollte. Denn bei all ihren Mängeln, schlechten Seiten und dauerhaften Ungerechtigkeiten gilt doch, was die Bibel schon in der Schöpfungsgeschichte festhält: Und siehe, es war gut.
Etwas besseres als diese Erde, etwas schöneres als dieses Leben könnten wir uns vielleicht VORSTELLEN. Aber KENNEN – kennen tun wir es nicht. Ja, ich hoffe, dass das Reich Gottes mehr ist als diese Welt, in der ich lebe. Ich hoffe, dass es neben Gott all das nicht mehr geben wird, dass das Leben auf dieser Erde unerträglich und traurig macht. Aber dennoch hoffe ich auch, noch viele Tage auf dieser Erde zu haben.
Gut – es wird Menschen geben, die das anders empfinden. Menschen, die leiden müssen: Unter der Willkür anderer Menschen, unter Katastrophen, unter Krankheiten.
Menschen, die unglücklich sind, weil sie ihre Lebensträume nicht erfüllen: Weil sie keinen Partner finden, der ihre Liebe erwidert. Ihr Arbeitsleben mit Tätigkeiten ausfüllen müssen, die sie nie machen wollten. Oder weil sie mit Beeinträchtigungen leben, die ihnen jeden Tag schwer und schwerer werden lassen.
Aber hilft es dann, zu sagen: Seid geduldig? Auch mir würde das nicht helfen, wenn ich doch einmal die Geduld verliere. Wenn ich zum Beispiel in den Winter-Urlaub will und der nun ausfallen muss: Hilft es da, wenn jemand sagt: Auch im nächsten Jahr wird es wieder einen Winter geben, und da kannst du es neu versuchen?
Und überhaupt: Kann man Geduld tatsächlich erlernen, wenn man sie nicht hat? Ich traue den Ratgebern, von denen der Markt überfließt, da nicht wirklich über den Weg. Die mir einreden wollen, ich könnte den Stau besser überstehen, wenn ich mir vorstelle, dass ich mich endlich am Ziel angekommen mit etwas Schönem belohnen würde…
Schließlich die Beispiele, die Jakobus nutzt. Als ich die Worte „Geduld“ oder „geduldig“ in den Prophetenbüchern gesucht habe, bin ich nicht fündig geworden. Und die Rede eines Jesaja ist oft eher von Ungeduld gezeichnet als dass er seinem Volk geduldig und damit doch einfühlsam ins Gewissen geredet hätte. Gewiss, er hat nie damit aufgehört. Aber kann man ihn deshalb als „geduldig“ bezeichnen? „Standhaft“ ja, aber auch „gelassen“?
Und Hiob redet ein einziges Mal von Geduld, und zwar in Kapitel 6 so: „Was ist meine Kraft, dass ich ausharren könnte; und welches Ende wartet auf mich, dass ich geduldig sein sollte? Ist doch meine Kraft nicht aus Stein und mein Fleisch nicht aus Erz“ (11f). Und das heißt nichts weniger als: Meine Geduld ist am Ende!
Ihr merkt schon, dass Jakobus und ich nicht einer Meinung sind, wenn es um die Geduld geht. Vielleicht sogar, dass ich mich über ihn ärgere. Aber das hat Jakobus Herrn Dr. Luther vor mir ja auch schon.
Und damit habe ich noch gar nicht über die Sicht des Jakobus auf das Gericht gesprochen. Wenn ich über jemanden klage: Warum sollte mir Gott dann nicht zuhören? Vielleicht klage ich ja zurecht! Und wenn nicht: Sollte Gott mich dann nicht überzeugen, neu ausrichten können? Würde er mich dann tatsächlich „verurteilen“? So ein Richter: Könnte ich auf den denn noch hoffen oder müsste ich den nicht ausschließlich fürchten?
Zurück zur Geduld: Vielleicht tue ich Jakobus ja auch Unrecht. Denn das Wort „Geduld“ kommt, wenn ich den Sprachforschern folge, vom urgermanischen „gathuldis“. Das Wort gibt es im Griechischen so also gar nicht.
Vielleicht meint Jakobus einfach nur: Versucht, mit ungestillten Wünschen zu leben, ohne daran zu zerbrechen. Darauf könnte ich mich mit ihm einigen: VERSUCHEN würde auch ich das immer neu im Leben. Denn ich weiß doch, dass es keinem Menschen gegeben ist, all seine Wünsche erfüllt zu bekommen.
Und Jakobus hat dafür ja auch ein gutes Argument mitgebracht. Wenn der Landwirt diesen Versuch nicht immer wieder neu wagen würde, wäre er nach der ersten Missernte völlig am Boden zerschlagen und auf Dauer Fehl am Platze. Der Landwirt MUSS mit der Unsicherheit der Ernte leben können, sonst KANN er kein Landwirt sein.
Also MUSS auch ICH damit leben, dass vieles in meinem Leben anders läuft als ich mir das wünsche. Zumindest muss ich versuchen, das zu lernen, denn sonst würde ich zutiefst unzufrieden und undankbar werden, und so würde mein Leben in dieser Welt zur Hölle.
Außerdem tritt Jakobus für den Perspektivwechsel ein: Sieh dir die Geschichten von ihrem Ende her an! Wenn die Propheten nicht so beharrlich geblieben wäre: Würden wir sie dann heute noch als Vorbilder betrachten?
Oder zu Hiob: Auch wenn er zwischenzeitlich alle Kraft zum Leben verloren und resigniert hatte: Hat Gott ihn denn fallen gelassen? Hat er ihn nicht vielmehr ins Leben zurückgeführt und neues Glück finden lassen?
Meine Schwestern, meine Brüder:
Genau hier wird Jakobus adventlich. Indem er nämlich so daran erinnert, WER „ankommen“ wird: Der „Herr“ wird es sein. Jakobus macht hier keinen Unterschied zwischen „Gott“ und „Christus“; er nutzt nur das Wort „Herr“. Die Neue Genfer Übersetzung irrt hier, wenn sie in Vers 9 das Wort „Gott“ einfügt – das steht da im Griechischen nicht.
Und so, wie Jakobus in seinem Brief das Wort „Herr“ gebraucht, macht er klar, woran er glaubt:
Gott selbst ist in Christus auf diese Welt gekommen,
ER ist der HERR,
und am letzten Tag wird es dieser HERR sein,
der wiederkommen wird: Gott in Christus.
ER wird sich als der Herr erweisen, der in der Zeit der Welt niemanden fallen ließ. Er hat seine Propheten nicht ins Unrecht gesetzt und Hiob nicht zuschanden werden lassen.
Gegen alle Ungerechtigkeit der Menschen wird ER es sein, der seine Schöpfung auch weiter erhält: TROTZ Kriegen, Katastrophen oder Corona-Pandemien.
Und dieser Herr wird sich auch NACH unserer Zeit
als Herr der EWIGKEIT erweisen,
in der alles, was lebt und je gelebt hat, erkennen wird, dass Gottes Wort Wahrheit ist.
In der niemand und nichts zuschanden wird,
sondern von diesem Herrn zu neuem Glück geführt wird.
In der alles und alle „gerichtet“, auf den Willen des HERRN ausgerichtet sein werden.
Hier wird alles Unrecht und Leid, alle Klage und alles Geschrei keinen Platz mehr haben, denn der HERR hat’s gesagt.
Dieser HERR in Zeit und Ewigkeit wird es sein,
der wiederkommen wird:
Die Liebe Gottes, die Gnade unseres Herrn Jesus Christus
und die Gemeinschaft des Heiligen Geistes
sind es, auf die zu warten sich lohnt.
AMEN