Ein Fest des Denkens (Gal 4 3-7)

Unsere Christvesper mit Krippenspiel zum Nachhören ist für vierzehn Tage hier zu finden.

In diesen dunkelsten Tagen des JAHRES
entzünden wir ein Lichtermeer.
Denn selbst in die dunkelste Zeit eines LEBENS
trägt Gott das Licht,
seinen Sohn Jesus Christus,
in unsere Welt.

Das Wort ward Fleisch
und wohnte unter uns,
und wir sahen seine Herrlichkeit.
Johannes 1,14a
***
Ob es wohl in diesem Jahr überhaupt Weihnachten wird?
Dieses tagelange, nein wochenlange Mistwetter ging ihm gehörig auf die Nerven. Es regnete so viel und so lange, dass die Türen anfingen zu klemmen, weil sie sich mit Wasser vollgesogen hatten. Nicht mal die Weihnachtsbeleuchtung in seiner Stadt funktionierte ordentlich: In seiner Straße war sie zur Hälfte ausgefallen, niemand kümmerte sich darum.

Egal, dachte er – das passte ohnehin zu seiner Stimmung. Noch ein Weihnachten mit Krieg in der Ukraine, der Terror der Hamas hatte einen neuen Krieg in Israel-Palästina vom Zaun gebrochen, ein Ende war nicht in Sicht. Ein Tag vor Heilig Abend ein Anti-Terror-Einsatz vor dem Kölner Dom. War diese Welt noch zu retten? Er hatte seine Zweifel.

Und diese großen Weltzweifel wurden auch in ihm groß und größer. Der Glanz der Adventsbeleuchtung, die Weihnachtsmärkte, die Weihnachtsmusik aus den Lautsprechern, die Jagd nach Geschenken und den Zutaten für die Festessen erreichten ihn von Jahr zu Jahr weniger. Von der Weihnachtsfreude seiner Kinderzeit war wenig geblieben. In diesem Jahr irgendwie sogar nichts.

Ob es wohl in diesem Jahr überhaupt Weihnachten wird?
Dachte er noch einmal. Doch es für sich ausfallen zu lassen – das ging auch nicht. Er lebte ja nicht irgendwo im tiefen schwedischen Wald, wo das nächste Haus so weit entfernt war, dass seine Weihnachtsdeko nicht zu sehen gewesen wäre. Er seufzte tief und fasste den Beschluss, wenigstens in den Gottesdienst zu gehen.

Wie alle Jahre wieder. Auch wenn er wusste, dass die glücklichen Familien dort, die sich selbst zu genügen schienen, die alten Weihnachtslieder und die ewig gleichen Geschichten ihn kaum würden erreichen können. „Es begab sich aber zu der Zeit“ – er kannte sie auswendig, diese alte Geschichte nach Lukas, die stand schon in seiner Kinderbibel.

Und selbst wenn er sie nicht gekannt hätte – keine Christvesper käme ohne sie aus. Auch kein Krippenspiel. Doch deswegen zuhause bleiben? Das würde nichts besser machen, und so würde er wenigstens auf andere Gedanken kommen. Also zog er sich die warmen Sachen an, setzte seinen wasserdichten Hut auf und ging in die Kirche und setzte sich dort weit nach hinten. Da hatte man den Rücken frei und einen guten Überblick. Es musste ja auch zu etwas gut sein, 1,93 m groß zu sein.

Das Krippenspiel überraschte ihn dann. Ein Stern erzählte, wie er die alte Lukasgeschichte von oben gesehen hätte. Seit wann könne Sterne reden? dachte er. Und dann aber: Bei Gott ist alles möglich. Zum Glück. Sonst wäre er ja nicht Gott, also wenn ihm etwas unmöglich wäre.

Dann noch eine Überraschung: Es wurde nicht über die Weihnachtsgeschichte geredet. Wurde nicht eigentlich immer über die Weihnachtsgeschichte gepredigt? Er war sich nicht sicher. Egal, das hier war ein Paulustext aus dem Galaterbrief (4, 3f):

Als wir unmündig waren, waren wir geknechtet unter die Mächte der Welt. 4 Als aber die Zeit erfüllt war, sandte Gott seinen Sohn, geboren von einer Frau und unter das Gesetz getan…

Unmündig, geknechtet. Ja, genau so fühlte er sich. Mit den „Mächten der Welt“ konnte er zunächst nicht so viel anfangen. Aber ja, der Prediger hatte irgendwie recht: Selbst Krieg schien irgendwie ein Naturgesetz zu sein.

Alle Menschen, die er kannte, behaupteten, sich nach Frieden zu sehnen. Er ja auch. Wohnten alle anderen in Russland oder Palästina? Das konnte ja wohl nicht sein, er kannte ja schließlich sowohl Russen als auch Palästinenser persönlich, und die sehnten sich auch nach Frieden.

Und doch gab es ihn, den Krieg. Jetzt und wohl schon immer, seit Menschen sich die Welt untertan machen wollten. Die Menschen Gottes wollten sich die Welt Gottes untertan machen. Da lag der Fehler. Ja, Gott wollte das wohl so, würde er es sonst zulassen? Doch ER fühlte sich ohnmächtig. Den Mächten dieser Welt ausgeliefert.

Denn so, wie es in der großen Politik war, sah es auch in ihm selbst aus. So lange er lebte, hatte er versucht, seine Sache ordentlich zu machen. Einen ordentlichen Schulabschluss, ein ordentliches Examen, ordentliche Arbeit. Auch wenn er dort vieles anders machen würde, wenn er könnte. Aber er war ja nicht Chef. Ja, ein kleiner Chef war er wohl. Aber nicht der große. Gab es ihn nicht immer, den großen Chef, der lieber alles besser wusste als ein Mal mit ihm zu reden, ein Mal auf seine Meinung zu hören?

Ja, er wollte seine Sache ordentlich machen. Oft genug wurde er dabei vom Chef gehindert. Und selbst da, wo es ihm gelang, kamen ihm dann andere Dinge in die Quere. Wie zum Beispiel dieser ewige Regen….

Nun hatte einer seiner besten Freunde auch noch einen schweren Herzinfarkt gehabt. Noch nicht einmal 50 war der. Das war doch nun wirklich kein Alter für sowas. Irgendwie hatte er – wie sagt man doch? – irgendwie hatte er die Nase voll. „Als die Zeit erfüllt war“ – ja, das war sie. Reif. Reif für Veränderungen. Wirkliche Veränderungen, nicht nur die auf der Wetter App, die sowieso nicht mehr zuverlässig war. Doch wie sollte das gehen, Veränderung, um die er selbst sich doch sein Leben lang mühte?

Jetzt wurde gesungen. Ein altes Weihnachtslied, über 450 Jahre alt: Lobt Gott, ihr Christen alle gleich EG 27: 1-4

1. Lobt Gott, ihr Christen alle gleich,
in seinem höchsten Thron,
der heut schließt auf sein Himmelreich
und schenkt uns seinen Sohn,
und schenkt uns seinen Sohn.
2. Er kommt aus seines Vaters Schoß
und wird ein Kindlein klein,
er liegt dort elend, nackt und bloß
in einem Krippelein,
in einem Krippelein.
3. Er äußert sich all seiner G’walt,
wird niedrig und gering
und nimmt an eines Knechts Gestalt,
der Schöpfer aller Ding,
der Schöpfer aller Ding.
4. Er wechselt mit uns wunderlich:
Fleisch und Blut nimmt er an
und gibt uns in seins Vaters Reich
die klare Gottheit dran,
die klare Gottheit dran.

Er wechselt mit uns wunderlich: „Wunderlich“ – wie man früher so geredet hat. Und war es denn das wirklich: Ein Wechsel?

Gut, das Kind in der Krippe war Gottes Sohn, also irgendwie Gott selber. Das hatte er akzeptiert. Da musste auch etwas dran sein, denn sonst würden die Leute ja nicht Weihnachten feiern. Vor allem nicht 2023 Jahre danach. Wer feiert schon einen 2023. Geburtstag, wenn nicht etwas göttliches daran wäre?

Also ja, Gott wechselt mit den Menschen, wird selbst Mensch. Die Macht dazu hat er ja, er KANN ja tun, was er will, wer sonst. Doch sind wir Menschen darum Gott? Ja, Gott SEIN wollten viele. Aber das führt doch zu nichts Gutem, Stammtischweisheiten führten noch nie zu etwas Gutem. Wie sollte das also gemeint sein?

Der Text aus dem Galaterbrief ging ja noch weiter:

…geboren von einer Frau und unter das Gesetz getan,
5 auf dass er die, die unter dem Gesetz waren, loskaufte, damit wir die Kindschaft empfingen.
6 Weil ihr nun Kinder seid, hat Gott den Geist seines Sohnes gesandt in unsre Herzen, der da ruft: Abba, lieber Vater!
7 So bist du nun nicht mehr Knecht, sondern Kind; wenn aber Kind, dann auch Erbe durch Gott.

Er konnte sich noch gut an einen seiner letzten Schultage in der 10. Klasse erinnern. Nach den Ferien würde er sein Abi machen und in eine Lehre gehen. Dieser Schule würde er keine Träne nachweinen. Ja, ein, zwei Lehrer würde er vermissen. Seine alte Deutschlehrerin vor allem, aber die würde jetzt eh in Rente gehen, wäre also sowieso nicht mehr da.

Die anderen waren so drauf wie der Geschichtspauker, der gerade noch getönt hatte: Ihr werdet euch noch nach der Schule zurücksehnen! Er hatte schon damals gewusst, dass das nicht stimmen würde. Und in den über 40 Jahren danach hatte es nicht einen einzigen Tag gegeben, an dem er sich nach der Schule zurückgesehnt hätte.

Überhaupt hatte er sich niemals zurückgesehnt. Was sollte das auch? Vergangenheit war eben das: Vergangen. Nichts kam zurück, nichts war zu ändern, die Zukunft war auch keine einfache Folge der Vergangenheit, sie hatte viel zu viel Unbekanntes, Unberechenbares, Zufälliges. Warum wünschten sich also einige, das Rad der Zeit einmal rückwärts drehen zu können?

Dachten sie wirklich, das Andersstellen einer Weiche in der Vergangenheit würde zu etwas Großem, Richtigen führen? Und jetzt sollte er die Kindschaft empfangen? „Abba, lieber Vater“ rufen? Pappilein!! Dachte jemand, er sei jetzt am Nachmittag schon nicht mehr nüchtern?

Doch der Pfarrer fand einfache Worte der Erklärung:
Zuerst: Sich endlich eingestehen, dass man immer Kind bleibe. Zuerst Kind seiner Eltern. „Pass mir auf meinen Jungen auf“, das hatte neulich ein fast 90 jähriger zu ihm gesagt, und sein „Junge“ war fast 60. Kind seiner Eltern bleibt man, selbst wenn die Eltern irgendwann gestorben sind: In Gedanken unterhält er sich immer noch mit seiner Mutter. Oder seinem Vater, je nachdem, um welches Thema es geht.

Wieviel mehr, meinte nun der Pfarrer, würde er Gottes Kind sein, und das würde auch bleiben. Ja, auch mit Gott konnte er reden, dann und wann sogar besser als mit seinen Eltern, das wusste er von sich. Auch wenn er sich immer wieder mal daran erinnern musste. Gerade wenn Funkstille war zwischen ihm und Gott.

Wobei er sich nicht sicher war, ob diese Funkstille nicht vor allem an ihm selbst lag. Weil ihm das Nachdenken manchmal einfach zu anstrengend war. Und mit Gott zu reden ohne nachzudenken – das war nicht sein Ding. Das mochten die machen, die meinten, mit Lobpreisliedern und erhobenen Armen beim Singen auf der richtigen Seite zu sein. Er meinte das nicht.

Und dann, meinte der Pfarrer: Dann müsse man begreifen, dass der Status „Kind“ genau das sei, was man zum Glück brauche. „Knechte“ und „Kinder“ seien in der Zeit des Paulus ja vor allem eines gewesen: Unmündig. Also waren sie sich eigentlich gleich: Kinder waren wie die Knechte ihrer Eltern. Sklaven sagte man damals sogar, glaubte er einmal gehört zu haben.

Doch dann, meinte der Pfarrer, gäbe es einen wichtigen Unterschied: Kinder würden einmal erben, Knechte nicht. Jedenfalls nicht ohne ein anders bestimmendes Testament. Ja, dachte er, tatsächlich: Warum war ihm das noch nie aufgefallen?

Auch über die Folgen eines solchen Status „Kind“ hatte er noch nicht nachgedacht. Er selber hatte von seinen Eltern auch geerbt, und wenn er jetzt genauer darüber nachdachte, fiel ihm selbst etwas Wichtiges ein, so ganz ohne dass der Pfarrer darüber geredet hätte:

Er wusste ja, WAS er erben würde. Wenigstens so ungefähr. Und irgendwie hatte er sich immer auf sein Erbe gefreut. Aber als er es dann angetreten hatte, war es mit einem großen Teil der Freude über das Erbe vorbei. Nun war er Vollwaise, wie er manchmal scherzhaft sagte, und musste sich um noch mehr kümmern als früher: Jetzt auch noch um das Erbe, und das forderte Einsatz, Entscheidung, auch Risiko.

Und ja, das wäre es wirklich: Der Status als Kind für immer. Wenn die wichtigsten Entscheidungen nicht an einem selber hängen bleiben. Wenn allein die Aussicht auf ein Erbe einen ruhiger leben lässt, weil da ja noch etwas ist für die Not, was man nicht selbst heranschaffen muss.

Ja, als Kind musste er viel weniger „schaffen“ und konnte sich viel mehr schenken lassen. Er machte sich auch viel weniger Sorgen, schon weil er noch nicht wissen konnte, was das Leben einem noch so alles als Steine in den Weg legen würde. Wenn das überhaupt geht, dass einem die Sache „das Leben“ ihm etwas, als „Steine“ auf seinen Weg legen konnte. Das Tischbein war ja auch nicht wirklich blöde, nur weil er sich die Hausschuhe nicht angezogen hatte und sich daran den Zeh blau geschlagen hatte. Das schmerzte, auch jetzt in den warmen Winterschuhen.

Aber was nutzt dieser „Kinderstatus“ aus dem Paulusbrief? Er ist doch nur Gedankenspiel. Ja, die Gedanken sind frei, das weiß schon das Volkslied. Aber machen sie darum auch den Menschen frei? Gehört man zu denen, die „unter dem Gesetz“ standen und frei gekauft wurden, nur weil man das denkt?

Da kam ihm Friedrich in den Sinn. Friedrich, einer der Senioren in seiner Einrichtung für geistig Behinderte, in der er arbeitete. Friedrich war schon 68 – also Friedrich hatte neulich gesagt, er müsse jetzt erst einmal denken. Denken musst du? hatte er ihn gefragt. Was ist denn das eigentlich?

Die Antwort von Friedrich hatte ihn wirklich überrascht: Denken ist wundervolles Dasein. Innerlich blieb ihm der Mund offen stehen. Ja, dachte er jetzt: Denken ist tatsächlich wundervolles Dasein. In meinem Denken über die Freiheit ist sie schon, die Freiheit. Nicht die große für alle und jeden. Aber doch für mich. Da bin ich kein Knecht, da bin ich Herr. Da kann es ruhig kommen, dieses Weihnachten.

Lobt Gott, ihr Christen alle gleich EG 27: 5.6
5. Er wird ein Knecht und ich ein Herr;
das mag ein Wechsel sein!
Wie könnt es doch sein freundlicher,
das herze Jesulein,
das herze Jesulein!
6. Heut schließt er wieder auf die Tür
zum schönen Paradeis;
der Cherub steht nicht mehr dafür.
Gott sei Lob, Ehr und Preis,
Gott sei Lob, Ehr und Preis!

Die Liebe Gottes, die Gnade unseres Herrn Jesus Christus
und die Gemeinschaft des Heiligen Geistes
werden dieses Weihnachtsfest
zum Fest des Denkens für uns werden lassen.
AMEN

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