Karfreitag:
Der Tod greift in das Leben
ein Tag wie so unendlich viele
Menschen opfern Menschen
für ihr Leben
oder das, was sie dafür halten
Und doch
KEIN Tag wie irgend-ein anderer
Menschen greifen das Leben an
Gott leidet aus Liebe
der Tod seines Sohnes
seine Tat für die Menschen
aller Zeiten
So sehr
hat Gott die Welt geliebt,
dass er seinen eingeborenen Sohn
gab,
damit alle, die an ihn glauben,
nicht verloren werden,
sondern das ewige Leben haben.
***
Aus dem Evangelium nach Johannes, Kapitel 19
16 Da überantwortete Pilatus ihnen Jesus, dass er gekreuzigt würde. Sie nahmen ihn aber, 17 und er trug selber das Kreuz und ging hinaus zur Stätte, die da heißt Schädelstätte, auf Hebräisch Golgatha. 18 Dort kreuzigten sie ihn und mit ihm zwei andere zu beiden Seiten, Jesus aber in der Mitte.
19 Pilatus aber schrieb eine Aufschrift und setzte sie auf das Kreuz; und es war geschrieben: Jesus von Nazareth, der Juden König. 20 Diese Aufschrift lasen viele Juden, denn die Stätte, wo Jesus gekreuzigt wurde, war nahe bei der Stadt. Und es war geschrieben in hebräischer, lateinischer und griechischer Sprache. 21 Da sprachen die Hohenpriester der Juden zu Pilatus: Schreibe nicht: Der Juden König, sondern dass er gesagt hat: Ich bin der Juden König. 22 Pilatus antwortete: Was ich geschrieben habe, das habe ich geschrieben.
23 Die Soldaten aber, da sie Jesus gekreuzigt hatten, nahmen seine Kleider und machten vier Teile, für jeden Soldaten einen Teil, dazu auch den Rock. Der aber war ungenäht, von oben an gewebt in einem Stück. 24 Da sprachen sie untereinander: Lasst uns den nicht zerteilen, sondern darum losen, wem er gehören soll. So sollte die Schrift erfüllt werden, die sagt (Psalm 22,19): »Sie haben meine Kleider unter sich geteilt und haben über mein Gewand das Los geworfen.« Das taten die Soldaten.
25 Es standen aber bei dem Kreuz Jesu seine Mutter und seiner Mutter Schwester, Maria, die Frau des Klopas, und Maria Magdalena. 26 Als nun Jesus seine Mutter sah und bei ihr den Jünger, den er lieb hatte, spricht er zu seiner Mutter: Frau, siehe, das ist dein Sohn! 27 Danach spricht er zu dem Jünger: Siehe, das ist deine Mutter! Und von der Stunde an nahm sie der Jünger zu sich.
28 Danach, als Jesus wusste, dass schon alles vollbracht war, spricht er, damit die Schrift erfüllt würde: Mich dürstet. 29 Da stand ein Gefäß voll Essig. Sie aber füllten einen Schwamm mit Essig und legten ihn um einen Ysop und hielten ihm den an den Mund. 30 Da nun Jesus den Essig genommen hatte, sprach er: Es ist vollbracht. Und neigte das Haupt und verschied.
Ein Brand zerstört den Dachstuhl von Notre Dame, fassungslos stehen Menschen vor der Ruine der wohl berühmtesten Kirche Frankreichs in Paris. Ein Bus stürzt bei einer Fahrt über enge Straßen in einen Abgrund, für 29 Menschen war dies der letzte Urlaubsausflug ihres Lebens. Ethnische Unruhen und Überfälle extremistischer Terroristen erzwingen den Rücktritt der Regierung in Mali.
Das sind nur drei Nachrichten dieser Woche, die uns mehr als deutlich vor Augen führen: Eine Welt, in der Menschen ohne Leid und Trauer leben können, wird es nicht geben. Egal auf welchem Kontinent, egal wie groß der Wohlstand ist.
Welchen Sinn hat das Leid? Eine Frage, sicher so alt wie die Menschheit. Mancher wird sogar seine Antwort auf diese Frage gefunden haben. Wie immer sie aber lautet: Für die meisten Menschen bleibt Leid etwas, dass sie selbst nicht erleben wollen.
Karfreitag: Feiertag anlässlich des Leides. Drei Menschen werden hingerichtet. Ihre Angehörigen lässt man hilflos dastehen, ihre Seelen der Vernichtung preisgegeben. Die Schaulustigen finden das Schauen lustig. Drei Kreuze stehen auf Golgatha.
Die Kreuzigung: Öffentliche Hinrichtungsmethode der Römer.
Der Verurteilte wird mit einer Peitsche, an der an mehreren Lederstriemen Bleistücke aufgezogen sind, ausgepeitscht.
Anschließend schleppt er das Kreuz, bestehend aus einem übermannslangen senkrechten und einem kürzeren, oben aufgelegtem Querbalken selbst zum Hinrichtungsplatz. Wenn er das nicht mehr schaffen sollte, hilft man ihm dabei, dass er es schafft. Aber nicht mehr, als unbedingt nötig.
Liegend wird er dann unter den Handwurzeln und an den Füßen auf das Kreuz genagelt. Dabei wird darauf geachtet, dass die Nägel kein größeres Blutgefäß verletzen und auch nicht ausreißen können.
Dann wird das Kreuz aufgerichtet. Wenn der Gekreuzigte nicht mehr an den Nägeln in den Handwurzeln hängen kann, stellt er sich auf die Füße. Kann er nicht mehr stehen, hängt er wieder an den Händen.
Sterben wird er nicht am Blutverlust, der bleibt gering. Sterben wird er an Erschöpfung. Das kann Tage dauern. Wird es den Wächtern zu lang, brechen sie dem Verurteilten die Oberschenkel. Dann geht es vielleicht schneller.
Die Zuschauer, freiwillige und unfreiwillige, schwanken zwischen blankem Entsetzen und höhnischer Zustimmung. Heute würden viele ihre Smartphones in die Höhe recken.
– Die Stadtkirche St. Marien in Kirchhain. Eine wirklich schöne Kirche, MEHR als einen Besuch wert. Wer sie durch den Turmeingang betritt, erblickt schnell zwei große Kreuzigungsdarstellungen.
Eine hoch oben, über dem letzten Bogen vor dem Altarraum. Sie stammt aus der gotischen Zeit dieser Kirche. Folterung und Schmerz des Christus sind an Kopf, Armen und Körper unübersehbar. Maria kreuzt die Arme und schützt ihr Herz. Der Jünger mit der Bibel in der Hand zur anderen Seite des Kreuzes wird nicht schweigen über das, was geschah.
Die ganz ANDERE Kreuzigungsdarstellung bildet den Mittelpunkt des barocken Altars. Das Leuchten des übergroßen, fast weißen Kreuzes kann man nicht übersehen, schon am Eingang der Kirche nicht. Der starke, muskulöse Christus zeigt kaum Spuren der Folter, Blutspuren am Körper sind eher Schrammen als ernstere Wunden.
Rings um dieses Kreuz versinkt alles in Dunkelheit, die Landschaft, die Stadt im Hintergrund auf dem Berg, der Himmel. Das leuchtende Kreuz aber überragt alles, selbst den Berg im Hintergrund. Es wird klar: Den Hinrichtenden bleibt der Sieg über Jesus versagt.
Zwei Darstellungen. Christus, der leidet – Christus, der dennoch den Sieg davon trägt. Zwei Bildpredigten sehr unterschiedlicher Art.
Siebzig, vielleicht achtzig Jahre nach der Hinrichtung Jesu entsteht das Evangelium nach Johannes. Weit weg vom ursprünglichen Ort des Geschehens, in einem Zentrum damaliger Gelehrsamkeit, vielleicht im heutigen Griechenland.
Der Tod des Menschen Jesus vor Jerusalem geht vielen Menschen besonders nahe. Und die Frage nach dem Sinn eines Sterbens, die grausamer kaum sein könnte, nach dem Sinn der Hinrichtung eines Unschuldigen zieht sich durch die Zeit. Gibt es einen? Es braucht Zeit, um einen zu finden.
Johannes versucht, das Geschehen um Jesus von Nazareth auf seine, ganz eigene Art zu deuten. Ein Evangelium entsteht, das sich von den ersten dreien in unserer Bibel in vielem unterscheidet.
Hier geht es weniger um das, was historisch geschah, als vielmehr um die Frage, wie man es verstehen kann. Wenig Platz für Erzählungen. Großer Raum für Dialoge und Predigten. Nicht eine einfache Sicht der Dinge, sondern ein stetes, immer neu ansetzendes Nachdenken, das durch häufigen Wechsel der Perspektive immer neue Gedanken erwachen lässt.
Prägnante Worte und Geschehen, über die die Leser immer und immer wieder neu nachdenken können. Beim Weinwunder auf der Hochzeit zu Kana, beim Dialog mit Nikodemus, bei den sieben großen „Ich-bin“ Worten, bei der Fußwaschung gestern am Gründonnerstag.
Es geht um Meditation, nicht um Geschehen.
Es geht um Erkenntnis, nicht um Wissen.
Großartige Texte der Weltliteratur, die bis heute Menschen in ihrem Bann ziehen.
Auch bei der Deutung des Todes Jesu am Kreuz geht das Johannes- Evangelium eigene Wege. Es zeichnet im Gegensatz zum leidenden, nach Gott schreienden den hoheitsvollen Jesus.
Nach der Geißelung trägt er sein Kreuz still zum Hinrichtungsort. Hilfe dazu hat er nicht nötig. Er lässt die Kreuzigung zwischen zwei Verbrechern geschehen und sieht von oben herab dem Treiben zu, das sich rund um diese Hinrichtung entfaltet.
Zuerst ist da die Tafel mit dem Text des Hinrichtungsgrundes und der Streit, der darum entsteht. Bei den übrigen Evangelisten wird die Kreuzesaufschrift lediglich zur Kenntnis genommen. Hier ist sie Ursache für einen Disput zwischen religiösen Volksführern und Pilatus.
Erstere wollen die Sicht des Pilatus nicht einfach hinnehmen, dass Jesus ihr König sei. Nein, ihr König ist dieser Jesus nie und nimmer. Selbst zum König gemacht hat er sich. Und so soll das auch deutlich zu lesen sein.
Pilatus aber lässt nicht mit sich verhandeln. Was ich geschrieben habe, habe ich geschrieben. Und damit es für jedermann zu erkennen ist, lässt Pilatus es dreisprachig anschreiben. Neben der Landessprache Hebräisch auch in der damaligen Gelehrten -Weltsprache Griechisch und der römischen Verwaltungssprache Latein. I N R I sind die lateinischen Kürzel für: Jesus Nazarenus Rex Judaeorum – Jesus Christus, König der Juden.
– Niemand hat größere Liebe als die, dass er sein Leben lässt für seine Freunde (15,13). Kein Spruch auf einem Kriegerdenkmal. Ein Satz Jesu, früher gesprochen, der seinen Jüngern in den Ohren klingen könnte. Gerade jetzt, unter dem Kreuz. Die Liebe des Königs der Könige, die Liebe Gottes ist in Jesus erschienen.
So wird das Kreuz zum leuchtenden Zeichen der größten Liebe, die sich für die Freunde hingibt. Jesus verzichtet grundsätzlich auf körperliche oder gar bewaffnete Gegenwehr ebenso wie auf Attacken in Wort oder Geste. Alles, was um das Kreuz herum passiert, geschieht, damit die Schrift Erfüllung findet: Das Leiden des Gerechten, das Aufteilen der Kleider durch das Los, schließlich die Tränkung mit Essig. Nichts ist Zufall, alles ist Plan.
Gott nimmt den Menschen ihren Plan einfach aus der Hand uns setzt seinen durch.
Der in stiller Größe leidende Erfüller des göttlichen Willens ist der liebende Freund der Seinen. Gottheit und Menschheit fallen nicht auseinander – nicht einmal in dem tiefsten Tal dieses grausamen Versagens aller Menschlichkeit.
Die Frauen stehen nicht „von ferne“ wie z.B. bei Lukas, sondern sind bei Johannes bis unter das Kreuz gefolgt. Und erleben, wie Jesus in seinem Sterben neue Beziehungen begründet.
„Als nun Jesus seine Mutter sah und bei ihr den Jünger, den er lieb hatte, spricht er zu seiner Mutter: Frau, siehe, das ist dein Sohn! Danach spricht er zu dem Jünger: Siehe, das ist deine Mutter! Und von der Stunde an nahm sie der Jünger zu sich.“
Das ist nicht einfach diakonische Fürsorge, die die Jüngeren den Älteren angedeihen lassen sollen. Es geht hier weder um eine Alters- oder Pflegeversicherung, auch nicht um einen Platz im Pflegeheim für Senioren.
Maria, Jesu Mutter, hatte ja ihre Familie. Jesus war zwar ihr ältester Sohn, aber ganz sicher nicht ihr einziges Kind. Sie fiel nicht in das große Loch der Verlassenheit derer, die niemanden mehr haben auf der Welt.
Jesus stiftet hier unter dem Kreuz eine neue Gemeinschaft zwischen Männern und Frauen. Eine Gemeinschaft wie zwischen einer Mutter und einem Sohn. Eine Gemeinschaft der Liebe, vielleicht der beständigsten Form der Liebe, wie sie Menschen sich vorstellen können: Wie sie eben gerade zwischen Mutter und Sohn, vielleicht auch Vater und Tochter lebenslang sein kann. Unerschütterlich, voller Freundlichkeit, Wohlwollen,
und emotionaler Verbindlichkeit. Der Prototyp liebevollen Füreinanderdaseins.
Die Karfreitagspredigt des Johannes kommt der Kreuzesdarstellung am barocken Altar der Kirche in Kirchhain sehr nahe. Die Hinrichtung der Römer versenkt alles Menschsein in Dunkelheit, die Landschaft, die Stadt im Hintergrund auf dem Berg, selbst die Sonne wird durch dunkle Wolken verdeckt.
Die Menschlichkeit stirbt am Kreuz. Über dem Kreuz aber reißt der Himmel auf, das Auge Gottes darüber sieht auf die Erfüllung des Heils – Planes. Das Kreuz leuchtet darum, jeder sieht das, denn es überragt selbst die Berge. Es leuchtet wie das goldene Altarkreuz in Notre Dame über den verkohlten Dachbalken, die vor dem Altar wie Streichhölzer verstreut herumliegen.
Meine Schwestern, meine Brüder:
Der Blick auf die Geschichte der Menschen scheint zu bestätigen, dass Gott den Menschen das Leiden nicht ersparen will. Dass das Leid, so grausam und sinnlos es uns auch erscheinen mag, eine Seite des Menschseins bleibt.
Vielleicht die Schattenseite des Daseins, die die Sonnenseiten des Lebens erst zu Strahlen bringt. Vielleicht.
In jedem Fall aber lässt die Passion des Sohnes Gottes am Kreuz der Römer uns Menschen sehen, dass Gott selbst durch das düstere Tal der Sinnlosigkeit gegangen ist, uns darin also nicht allein lässt.
Und die Passion nach Johannes nimmt uns mit in Gottes übergroße Liebe, die vom Kreuz herab eine fantastische Gemeinschaft stiftet.
Keine Gemeinschaft der Rache, der Gewalt und des Sterbens, keine Gemeinschaft der Ellenbogen und Schaulust. Sondern eine, in der Menschen – Mütter und Söhne, Väter und Töchter – miteinander leben, indem sie füreinander da sind. Lebenslang und voller Freundlichkeit und Wohlwollen. Verbindlich und verlässlich steht Gottes Liebe zu den Menschen, damit die Menschen verbindlich und verlässlich in Liebe zueinander stehen.
Nicht nur auf dem Altarbild in Kirchhain oder im goldenen Kreuz über den Trümmern von Notre Dame: Das Kreuz wird vom düsteren Todes- Galgen der Römer zum leuchtenden Lebens- Zeichen der Liebe Gottes, die der Sinn unseres Lebens ist.
Das Kreuz Jesu stiftet diese Gemeinde, in der die Liebe Gottes, die Gnade unseres Herrn Jesus Christus und die Gemeinschaft des Heiligen Geistes uns Menschen wahrhaft miteinander leben und sterben lässt.
AMEN