Unseren Gottesdienst am 9. Sonntag nach Trinitatis zum Nachhören finden Sie für vier Wochen hier.
Was ist wichtig in meinem Leben,
was nicht?
Was ist wirklich wertvoll,
wo scheint es nur so?
Wie halte ich es mit dem,
was ich habe oder was ich kann?
Besitze ich, als wenn es mir GEHÖRTE
oder habe ich, so dass ich es VERWALTE?
BESITZE ich die Liebe Gottes
oder VERWALTE ich sie als treuer Knecht?
Wem viel gegeben ist,
bei dem wird man viel suchen;
und wem viel anvertraut ist,
von dem wird man um so mehr fordern.
Lukas 12,48
***
starb / alt / und / lebenssatt
Es gibt Bilder der Bibel, die mich begleiten, seit ich denken kann.
Eines dieser Bilder ist:
starb / alt / und / lebenssatt
Als Kind hat mich begeistert, wie alt die Menschen einmal geworden sein sollen. Isaak zum Beispiel, der hundertachtzig Jahre war und dann starb – alt und lebenssatt (Gen 35,28f). Oder Abraham (Gen 25,7f) oder König Jojada (2. Chronik 24,15). Oder König David oder Hiob. starb / alt / und / lebenssatt
Inzwischen sind mir dies hundertachtzig Lebensjahre nur noch ein Rätsel. Denn mir ist klar, was wohl jedem irgendwann klar ist – so alt wurde damals und wird jetzt kein Mensch. Wozu also diese offensichtliche Übertreibung bei den Erzvätern? Soll mir das imponieren oder mich das Fürchten lehren?
starb / alt / und / lebenssatt
Heute berührt mich dieses Bild immmer noch, aber ganz anders.
Ich denke oft darüber nach, wie ich einmal sterben muss
und wie ich gern sterben würde.
Sterben, alt und lebenssatt:
Wird es so sein? Wünsche ich mir das für mich?
Mich hat mein Leben gelehrt, mir die Dinge möglichst gründlich anzusehen, die mich berühren, nicht nur beim ersten Augenschein zu verbleiben. Also nicht nur von einer Seite, sondern von mehreren Seiten zu schauen, öfter einmal die Perspektive zu wechseln. Dann sehe, erkenne ich oft Unerwartetes, Neues.
ALT sterben. Früher wollte ich das unbedingt. Am besten wollte ich hundert Jahre alt werden, jedenfalls aber älter als meine Großmutter mütterlicherseits, die mit gut siebzig für mich viel zu jung gestorben war, weil sie auf dem Weg zum Briefkasten von einem Moped angefahren worden war. Ich wollte möglichst viel von der Welt sehen, möglichst viel vom Leben haben.
ALT werden ist nichts für Feiglinge, sagte meine Mutter irgendwann, als sie sich ohne Hilfe nicht mehr allein in ihren Rollstuhl setzen konnte. Niemand hat sagen können, warum das so war. Kein Arzt hatte eine nachvollziehbare Diagnose für die Ärztin.
Spätestens da war mir die Kehrseite vom Altwerden deutlich. Alt werden will jeder, alt sein keiner: Auch in diesem Wort steckt Wahrheit. Wie alt möchte ich nun wirklich werden?
LEBENSSATT.
Satt bin ich schneller als dass ich keinen Appetit mehr hätte. Das hat mir schon Probleme eingebracht: Wenn ich mich irgendwo in ein Buffet eingekauft habe und zu viele leckere Sachen aufgebaut waren als dass ich sie alle hätte probieren können. Da ist es dann schon passiert, dass ich deutlich mehr gegessen und getrunken habe als mit gut tat.
Was würde ich auf mein Leben übertragen aber tun, wenn ich satt bin, aber noch Appetit habe? Würde es reichen, die Vernunft bestimmen zu lassen und zu sagen: Malte, du bist satt, also lass es gut sein, wer weiß, wo du einen Boonekamp herbekommst, wenn dir schlecht wird!?
Und was würde ich machen, wenn ich eher satt als alt bin? Das denke ich mit zunehmendem Alter immer öfter. Meine jugendlichen Lebenshoffnungen scheinen sich zu zerschlagen:
Dass ich dazu beitragen könnte, dass diese Welt sich bessert. Dass die Menschheit Kriege verhindern lernt, ihren Wohlstand besser verteilt, eher auf sachliche Argumente als auf populistische Parolen setzt, der Schutz von Tieren und Umwelt wichtiger würde als der eigene wirtschaftliche Vorteil.
Dass zumindest unter den Menschen um mich herum Liebe und Herzlichkeit Arroganz, Überheblichkeit und offene Ablehnung verdrängen könnten. Dass ich in meinem Beruf als Pfarrer mehr und mehr Menschen mit dem anstecken könnte, was ich über die Schönheiten unseres dreifaltigen Gottes entdeckt habe, und dass meine Kirche mit ihrem Schatz zu wuchern beginnt: Mit der Botschaft von der Herrlichkeit und Gnade Gottes für alle Menschen.
Immer öfter kommen sie, die Tage, an denen ich befürchte, eher von diesem Leben satt, pappe satt zu sein, ja zu viel gegessen zu haben, bevor ich wirklich alt geworden bin.
Paulus ist im letzten Teil seines Lebens angekommen, als er seinem engen Mitarbeiter Timotheus den Brief an die Gemeinde in Philippi diktiert. Manches spricht dafür, dass er ihn in seinen letzten Lebensmonaten verfasst.
Fünf oder zehn Jahre nach Christus geboren ist Paulus im Gefängnis, wahrscheinlich zu Beginn der 60er Jahre. Wirklich alt ist er da mit Mitte Fünfzig nicht.
Wenn er auch den Philemonbrief aus der gleichen Haft schreibt, wofür ebenfalls manches spricht, sieht er sich selbst allerdings als „alten Mann“ (Phlm 1,9) und wird wenig später in Rom sterben, sehr wahrscheinlich hingerichtet.
Das ahnt Paulus offenbar, wenn er zu Beginn des Philipper-Briefes schreibt: „Christus ist mein Leben, und Sterben ist mein Gewinn“ (1,21).
Zur Gemeinde in Philippi hat Paulus ein erkennbar enges und herzliches Verhältnis. So finde ich in diesem Brief von Paulus
deutlich mehr Gefühl als geschliffene Theologie, wie man sie sonst bei ihm zu lesen bekommt.
Das kann man auch spüren, wenn man auf den Bibeltext für heute sieht, ich lese ihn aus der Elberfelder Bibel Kap. 3 ab V 4:
4b Wenn irgendein anderer meint, auf Fleisch vertrauen <zu können> — ich noch mehr:
5 Beschnitten am achten Tag, vom Geschlecht Israel, vom Stamm Benjamin Hebräer von Hebräern; dem Gesetz nach ein Pharisäer;
6 dem Eifer nach ein Verfolger der Gemeinde; der Gerechtigkeit nach, die im Gesetz ist, untadelig geworden.
7 Aber was auch immer mir Gewinn war, das habe ich um Christi willen für Verlust gehalten;
8 ja wirklich, ich halte auch alles für Verlust um der unübertrefflichen Größe der Erkenntnis Christi Jesu,
meines Herrn, willen, um dessentwillen ich alles eingebüßt habe und es für Dreck halte, damit ich Christus gewinne
9 und in ihm gefunden werde — indem ich nicht MEINE Gerechtigkeit habe, die aus dem Gesetz ist, sondern die durch den Glauben an CHRISTUS, die Gerechtigkeit aus Gott aufgrund des Glaubens —,
10 um ihn und die Kraft seiner Auferstehung und die Gemeinschaft seiner Leiden zu erkennen, indem ich seinem Tod gleich werde,
11 ob ich irgendwie hingelangen möge zur Auferstehung aus den Toten.
12 Nicht, dass ich (das Ziel) schon ergriffen habe oder schon vollendet bin; ich jage <ihm> aber nach, ob ich es AUCH ergreifen möge, weil ICH auch von Christus Jesus ergriffen bin.
13 Brüder, ich denke von mir selbst nicht, <es> ergriffen zu haben; eines aber <tue ich>:
Ich vergesse, was dahinten,
strecke mich aber aus nach dem, was vorn ist,
14 und jage auf das Ziel zu, hin zu dem Kampfpreis der Berufung Gottes nach oben in Christus Jesus.
Für mich wird aus diesen Versen deutlich: Paulus erlebt eine Krise seiner Existenz. Endlichkeit und Gefahr kriechen ihm in seiner Zelle unter die Haut. Sie machen ihm deutlich, dass all das, was er bisher in seinem Leben erreicht hat – sei es vor oder nach seiner Berufung zum „Sklaven Christi Jesu“ (1,1)- ihm in dieser bedrohlichen Zeit seines Lebens nicht helfen können.
Sein Beschnittensein nicht, sein Pharisäersein nicht, seine Gesetzestreue nicht. Die spielen vielleicht eine Rolle, solange er die Fäden seines Handelns selbst in der Hand hält. Sie sind vielleicht wichtig, wenn es um seine Positionierung gegenüber anderen Menschen geht. Wenn er anderen zeigen will, wofür er im Leben steht.
Doch die Gewinn-Verlust-Rechnung in seiner Gefangenschaft zeigt ihm unerbittlich: Wenn es um das Leben bei Gott, um die Zuwendung Jesu Christi zu ihm, Paulus, geht, ist das alles nichts, es ist „Dreck“.
Genau das ist kein theologischer Terminus. Wörtlich ist „Dreck“ auch mit „Kot“ zu übersetzen. Ja, Paulus hätte heute „Scheiße“ gesagt. Das ist wirklich mehr Emotion als hohe Theologie. Das ist „Stuhlgang der Seele“, wie meine Vikariatsmutter Linde Grüber zu sagen pflegte.
Und um die Seele GEHT es hier.
Um seine, des Paulus‘ Seele. Wie kann er sie retten? Wie kann er sterben, ohne Angst um sie zu haben?
Er kann nicht:
Erarbeiten, greifen, halten.
Er kann nur:
Ergriffen sein, sich ausstrecken, einem Ziel nachjagen.
Alles, was er geleistet oder nicht geleistet hat, kann er nur vergessen, er kann nur einem zustreben: Gott in Christus, von dem er ergriffen ist, der ihm Gerechtigkeit vor Gott durch Glauben in Christus verspricht.
Paulus sieht: Sein Tod ist nicht nur unvermeidlich, sondern vielleicht sogar Bedingung, um letztlich zu fassen, WELCHE Kraft in Karfreitag und Ostern stecken. Das ist alles, was er jetzt noch will: Seinen Anteil an Karfreitag und Ostern geschenkt zu bekommen, „ob ich irgendwie hingelangen möge zur Auferstehen aus den Toten“ (11).
Hinter diesen Worte spüre ich auch Angst. Denn sie machen deutlich, dass er es nicht für unmöglich hält, NICHT an seinem Ziel anzukommen. Doch AUCH diese Angst ZWINGT Paulus geradezu in das Zutrauen zu Christus. Denn Paulus weiß, dass er dieses Ziel nicht selbst erreichen, dass er es „ergreifen“ kann, jetzt nicht und solange er lebt nicht.
Doch er ist von Jesus ganz ergriffen, und so bleibt ihm nur, Christus zu vertrauen, also darauf, dass sein Ergriffensein, sein Glaube nicht umsonst geschehen ist. Das ist für ihn das einzige Lebensziel, dass ihm bleibt und das für ihn den Lebenskampf lohnt, der einzige Preis, der einen Wert für ihn hat:
Die Berufung Gottes „nach oben“, ein neues Leben in Christus, die Auferstehung aus den Toten gleich ihm: Das Geschenk, die Gerechtigkeit Gottes zu schauen, auf die er in seinem Leben alles gesetzt hat, was er hat oder ist.
Liebe Schwestern, liebe Brüder,
Paulus hält keine sozialen öder ökonomischen Problem-Lösungen für die existenzielle Bedrohung des Lebens bereit; die hat er nicht einmal für sein eigenes. Er vertröstet auch nicht auf das Jenseits nach dem Motto: Gerechtigkeit gibt es auf dieser Welt sowieso nie, die gibt es nur nach diesem Leben bei Gott. Paulus schreibt auch nicht: Macht es so oder so, auch nicht: Macht es einfach genau wie ich.
Nein, er redet von sich.
Er schreibt aus seiner Lebensperspektive neu, was schon unser Wochenpsalm schrieb: „Gott, du bist mein Gott, den ich suche. Es dürstet meine Seele nach dir, mein Leib verlangt nach dir aus trockenem, dürrem Land, wo kein Wasser ist“ (63,2).
Er buchstabiert für sich neu, was es bedeutet, bereit zu sein, ALLES für den Schatz im Acker oder die kostbare Perle zu geben (Mt 13, 44-46)
Paulus hält keinen theologischen Vortrag, er gibt keine Ratschläge, auch keine gut gemeinten Tipps. Er redet von sich, und das macht es mir leicht, mit ihm zu denken, mit ihm zu fühlen. Und aus diesem Mitdenken und Mitfühlen noch einmal darüber nachzudenken:
Will ich alt und lebenssatt sterben?
Ich weiß es immer noch nicht, bin mir eher unsicher, obwohl dieses Bild immer noch eine große Anziehung und Zufriedenheit für mich ausstrahlt. Was ich aber weiß: Dass ich das gleiche Ziel erreichen möchte wie Paulus.
„Für mich bedeutet Christus das Leben“, so steht es auf einer Karte, die auf meinem Schreibtisch steht. Unsere gerade verstorbene Presbyterin Christine Schmechta hat sie mir zu meinem Geburtstag in diesem Jahr geschrieben.
Und in diesem Glauben ist sie gestorben. Ich bin dankbar, dass ich solche Menschen in meiner Gemeinde hatte und habe, die MIT MIR diesen Glauben und dieses Ziel haben. Die mich spüren lassen, dass es sich lohnt, sich von Christus ergreifen zu lassen und aus und für ihn zu leben:
Alles, was hinter mir liegt, zu vergessen;
mich auszustrecken nach diesem Ziel, das sich wirklich lohnt;
zu leben in der Zeit, die Gott mir schenkt,
zu sterben in der Hoffnung, dass Gott sie mich am letzten Ende wirklich finden lässt:
Die Liebe Gottes,
die Gnade meines Herrn Jesus Christus
und die Gemeinschaft des Heiligen Geistes.
Sie verschenken barmherzig
die Kraft von Karfreitag und Ostern
an jede und jeden von uns.
AMEN
EG 354:
3. Wir sollen nicht verloren werden,
Gott will, uns soll geholfen sein;
deswegen kam der Sohn auf Erden
und nahm hernach den Himmel ein,
deswegen klopft er für und für
so stark an unsers Herzens Tür.
4. O Abgrund, welcher alle Sünden
durch Christi Tod verschlungen hat!
Das heißt die Wunde recht verbinden,
da findet kein Verdammen statt,
weil Christi Blut beständig schreit:
Barmherzigkeit, Barmherzigkeit!
5. Darein will ich mich gläubig senken,
dem will ich mich getrost vertraun
und, wenn mich meine Sünden kränken,
nur bald nach Gottes Herzen schaun;
da findet sich zu aller Zeit
unendliche Barmherzigkeit.