Am dritten Tag nach den Anschlägen in Paris
kann es niemand mehr übersehen,
der denken kann:
Kein Tag in dieser Welt ohne Terror oder Krieg
Kein Tag in unserem Land ohne Gewalt und frühem Tod
Kein Tag in unserem Leben ohne Feindseligkeit und Überheblichkeit
Machtlos, das zu beenden
hilflos, weil wir Frieden nicht erzwingen können
treten wir vor Gott, den Allmächtigen
und stimmen ein in das Lob
unserer Mütter und Väter
Gott ist unsre Zuversicht und Stärke, eine Hilfe in den großen Nöten, die uns getroffen haben, darum fürchten wir uns nicht.
Psalm 46,2-3a
In der Mitte der Friedensdekade feiern wir diesen Gottesdienst.
Der Predigttext:
38 »Ihr wisst, dass es heißt: ›Auge um Auge, Zahn um Zahn.‹ 39 Ich aber sage euch: Setzt euch nicht zur Wehr gegen den, der euch etwas Böses antut. Im Gegenteil: Wenn dich jemand auf die rechte Backe schlägt, dann halt ihm auch die linke hin. 40 Wenn einer mit dir vor Gericht gehen will, um zu erreichen, dass er dein Hemd bekommt, dann lass ihm auch den Mantel. 41 Und wenn jemand von dir verlangt, eine Meile mit ihm zu gehen, dann geh zwei mit ihm. 42 Gib dem, der dich bittet, und weise den nicht ab, der etwas von dir ausleihen möchte.«
So Jesus in der Bergpredigt, nur kurz nach den Seligpreisungen, die am letzten Sonntag Predigttext waren (Mt 5, ab Vers 38).
Auge um Auge, Zahn um Zahn: Damit kennen wir uns aus. Darum sind diese Worte zum Sprichwort geworden – es wird kaum jemanden geben, der „Auge um Auge“ nicht kennt oder nicht schon selbst ausgesprochen hat. Und da ist es egal, ob er eine Synagoge oder Kirche je von innen gesehen hat oder nicht. Auge um Auge, Zahn um Zahn: Das steht schon in der Bibel. Das lernt jeder irgendwann in seinem Leben.
Was aber nicht allen klar sein dürfte, die so zitieren: Diese Worte reden vom rechten Maßhalten. Sie wollen Schaden eingrenzen, ihn nicht zu groß werden lassen. Darum sagen sie: Strafe muss sein. Aber nicht in jedem Maß.
Wir heute würden sagen: Die Verhältnismäßigkeit muss gewahrt bleiben. Alles muss ein gesundes Maß behalten. Anderenfalls nämlich eskaliert die Gewalt. Wird aus „Auge um Auge“ ein „Auge um Leben“. Kann aus dem Fehlverhalten Einzelner noch viel größeres Unrecht werden, können aus einer Krise zwischen zwei Menschen bürgerkriegsähnliche Zustände erwachsen, die ganze Städte oder gar Länder ergreifen.
Dann nehmen völlig Unbeteiligte Schaden an Seele oder Leib. Dann müssen sie auf die Flucht, damit das Leben eine Chance hat.
„Ermattet kauern sie in den Gängen des Schiffes, auf Matratzen. Die Luft ist stickig, es riecht nach Kot, nach Urin. Sie sitzen und dösen und warten. Nach wochenlanger Flucht durch knietiefen Schnee bei Temperaturen um Minus 20 Grad, bei Hunger und unter körperlichen Strapazen, glauben sie sich gerettet. Nur noch über die See, von Gotenhafen (Gdingen) nach Swinemünde, dann werden sie der Roten Armee entkommen sein. Es ist der 30. Januar 1945. Der Abend, an dem der sowjetische U-Boot-Kapitän Alexander Marinesko zum Volkshelden wird. Zugleich ist es der Abend, an dem über 9000 Menschen im eisigen, nur zwei Grad kalten Wasser der Ostsee sterben werden. Erst einmal ist es aber der 12. Jahrestag der sogenannten „Machtergreifung“, zu deren Andenken die Stimme des Führers aus den Volksempfängern schallt. Auch an Bord der Gustloff ertönen die Durchhalteparolen aus den Bordlautsprechern. Zum Schluss erklingt die Nationalhymne, dann ist es still.“ (Focus online)
Diese größten Schiffs-Katastrophe der Geschichte war nicht die erste ihrer Art und wird nicht die letzte sein. Das Bild des toten Jungen auf den Armen eines Helfers am Mittelmeer brennt sich in unsere Seelen. Schlauchboote auf hoher See, Schwangere in Matsch und Schnee, Fieberkranke im kalten Regen, vom Schmerz gezeichnete, sprachlose Menschen in Paris.
Das kann doch niemand wollen. Also besser „Auge um Auge, Zahn um Zahn“: Mehr als einer ausgeteilt hat, soll er nicht einstecken müssen. Gewalt soll nicht zur Katastrophe werden. Auge um Auge, mehr nicht. Ungestraft aber soll er auch nicht bleiben. Zahn um Zahn, weniger nicht. Das ist zwar nicht schön, aber doch immerhin nachvollziehbar und sogar nachprüfbar. Gerecht, zumindest dem Augenschein nach. Man kann doch die Attentäter von Paris und ihre Hintermänner nicht laufen lassen!?
Aber was soll das, was Jesus hier verlangt? Sehr realitätsbezogen hört sich das nicht an. Und plausibel ist es auch nicht. Was, um des Himmels willen, sollte mich veranlassen, einem, der mich auf die rechte Wange schlägt, auch noch die linke hinzuhalten?
Und wenn ich schon gezwungen bin, einem anderen etwas geben zu müssen: Warum soll ich dann unverhältnismäßig viel mehr geben als er fordert? Aber bitte, Herr Räuber, nicht nur die Bargeldkassette – sie haben den Familienschmuck da unten im Kleiderschrank übersehen!?
Und dann die Sache mit dem Weggeleit: Zu Jesu Zeiten ging es dabei ja nicht um einen netten Waldspaziergang. Römische Soldaten hatten das Recht, sich von Einheimischen eine bestimmte Wegstrecke begleiten zu lassen. Militärs heute würden von einem zivilem Schutzschild in gefährlicher Umgebung sprechen, eine effektive Verteidigung gegen Terroristen. Warum also sollte ich also so lebensmüde sein, jemandem mehr Weggeleit geben, als er von mir fordern darf?
Plausibel scheint das nicht. Eher ohne Sinn und Verstand. Und wohin diese Strategie geführt hat, kann man in der Passionsgeschichte nachlesen. Petrus steckt sein Schwert zurück in die Scheide – genau so, wie Jesus es von ihm will. Jesus kümmert sich sogar noch um das abgeschlagene Ohr des von Petrus Angegriffenen. Und wird schließlich doch grausam gefoltert und am Römergalgen in aller Öffentlichkeit zum Sterben aufgestellt. Warum also sollte man also so etwas tun?
Noch etwas kommt dazu. Heute ist der vorletzte Sonntag im Kirchenjahr, der das letzte Gericht zum Thema hat. Er ist auch der „Volkstrauertag“, der an die unsäglich vielen Opfer von Kriegen und Gewaltherrschaft erinnert.
Siebzig Jahre nach Kriegsende sind wir Deutsche doch froh über jeden, der versucht hat, dem Wahnsinn des Nationalsozialismus entgegenzutreten. Stolz über jeden, der es unternommen hat, Widerstand zu leisten, dem Rad in die Speichen zu greifen- auch und gerade mit Gewalt.
Aber jetzt: Soll das nun falsch gewesen sein? War es wirklich nicht im Sinne Jesu, wenigstens zu versuchen, das Böse aufzuhalten? Auch mit der Bombe in der Manteltasche? „Ich aber sage euch, dass ihr nicht widerstreben sollt dem Übel“?!
Kürzlich meinte eine Frau in einem Gesprächskreis, das Christentum entwickle sich für sie mehr und mehr zu einer Überforderungsreligion: Spannt dir die beste Freundin den Ehemann aus, darfst du in dir nicht einmal GEDANKEN an Rache haben. Wirst du auf der Arbeit Tag für Tag kleingemacht, sollst du deine Feinde lieben. Hast du Angst vor dem Tod, singen sie: Christ ist erstanden von der Marter alle. Da stelle sich Jesus auf einen Berg, um von oben herab dem Volk zu verkünden, was Gott ab jetzt alles von ihnen erwarten würde. Für sie sei gerade diese Berg- Predigt ein stetig hochgehaltener Spiegel ihrer Unzulänglichkeit, mit Sicherheit aber eines nicht: Ein Trost.
Aber halt: Vielleicht beginnt schon hier ein großes Missverständnis. Wie beginnt sie doch, die „Bergpredigt“ nach Matthäus?
„Große Menschenmengen folgten ihm aus Galiläa und dem Zehnstädtegebiet, aus Jerusalem und Judäa und aus der Gegend jenseits des Jordans. Als Jesus die Menschenmenge sah, stieg er auf einen Berg. Er setzte (!) sich, seine Jünger versammelten sich um ihn, und er begann sie zu lehren.“ (Mt 4, 25- 5,1) So die „Neue Genfer Übersetzung“, aber auch die anderen übersetzen ähnlich. Die Szenerie nach Matthäus ist also eine andere. Hier steht nicht der Feldherr auf dem Feldherrenhügel, weil er von da eine bessere Übersicht über seine Soldaten hat und die ihn besser sehen und hören können, wenn er mit lauter Stimme oder besser noch durch ein Megaphon oder eine ganze Lautsprecheranlage seinen Tagesbefehl bekannt gibt.
Jesus sieht die Menschenmenge. Er weiß, warum sie ihm folgt. Viele sehen in ihm den großen Heiler. Sie bringen Menschen mit allen möglichen Krankheiten zu ihm, und Jesus heilt sie.
Aber es geht ihm doch um etwas anderes, es geht ihm um mehr. Er möchte die Herzen der Menschen erreichen. Er will ihnen Gott nahe bringen. Ihr Leben verändern. Will, dass sie glücklich werden. Aber allein durch körperliche Gesundheit findet man kein Glück. Selig zu sein bedeutet mehr, viel mehr.
Darum ruft er seine Jünger zusammen. Zieht sich mit ihnen zurück, geht auf einen Berg. Er steigt nicht auf die Kanzel, damit alle ihn besser sehen und hören können. Nein, er setzt sich. Verbreitet so Einhalt, Ruhe, Konzentration. Seine Jünger spüren, dass er ihnen etwas Wichtiges zu sagen hat. Sie sammeln sich vor ihm.
Dann spricht Jesus. Er ruft nicht mit donnernder Stimme über die Köpfe der Menge, er redet ruhig, erklärt. Hört mir zu, worum es wirklich geht. Verrennt euch nicht. Denkt darüber nach, was ich euch jetzt sage. Was das Leben zu einem seligen Leben macht. Wie es wirklich anders, wirklich besser werden kann. So, wie Gott es für euch will. Es funktioniert so ganz anders, als diese Welt um euch herum funktioniert.
Jesu Rede ist nicht kurz. Im Gegenteil. Sie ist lang, vielleicht hat er auch Zwischenfragen beantwortet. Und am Ende der Rede Jesu auf dem Berg saß Jesus nicht mehr allein im Kreis seiner Jünger. Offenbar hatten sich mehr und mehr Menschen zu ihnen auf den Berg begeben und zuhört, denn Matthäus schließt (7, 28f): „Als Jesus seine Rede beendet hatte, war die Menge von seiner Lehre tief beeindruckt, denn er lehrte sie nicht wie ihre Schriftgelehrten, sondern mit Vollmacht.“
Weil Matthäus nirgends erklärt, warum plötzlich die Menge von Jesus beindruckt ist, obwohl er doch nur im kleinen Kreis begonnen hat, streiten sich viele, was denn nun stimme: Der Anfang oder der Schluss der Bergpredigt.
Aber dieser Streit lohnt sich nicht. Denn es ist egal, ob die Bergpredigt nun nur den Jüngern oder der ganzen Menge gegolten hat. Es bleibt am Ende: Alle waren tief beeindruckt. Denn Jesus hatte etwas zu sagen. Er lehrte mit Vollmacht. Anders als die Ideologen seiner Tage.
Meine Schwestern, meine Brüder:
In der Bergpredigt geht es nicht um Forderungen, die Gott an die Menschen stellt. Sie wird gesprochen, um große Wahrheiten über das Leben an die Frauen und Männer weiterzugeben, die Jesus folgen. Bei ihnen Bewegung zu erzeugen, so dass sie über die Änderung ihres eigenen Lebens nachdenken. Dass sie losgehen und weitersagen, wie sehr und warum Gottes Wort sie beeindruckt. Vielleicht würde man heute sagen: Die Bergpredigt ist eine Weiterbildung für Missionare.
Und die nennt die Schwächen der alten Maßstäbe beim Namen und zeigt Alternativen auf, die faszinieren. Und selbst nach fast zweitausend Jahren hat Jesu Rede nichts von ihrer Faszination für ihre Leser verloren.
Denn die Ideologen unserer Tage predigen immer noch ihr Gegenteil. Nur ein Beispiel. Im vergangenen Jahrhundert war es Mao Tse Tung, der Massen mobilisierte. Er sagte über die Feindesliebe:
„Erst nach der Aufhebung der Klassen wird sich die Liebe zur ganzen Menschheit einstellen. Gegenwärtig gibt es eine solche Liebe aber noch nicht. Wir können die Feinde nicht lieben, können die widerwärtigen Ereignisse in der Gesellschaft nicht lieben“.
An den Folgen dieser oder ähnlicher Sprüche leiden Menschen bis heute. Nicht nur in China. Wir brauchen nur nach nebenan in Erstaufnahmelager oder Flüchtlingsheime zu gehen und hören auf das, was Menschen dort berichten von der Folge von solcher Ideologie überall auf unserer Welt.
Jesus würde sich heute sicher auch setzen und dann vielleicht sagen: Kommt her, hört mir zu. Ideologien- das sind gefährliche Vereinfachungen der komplizierten menschlichen Realität. Die Wege, die die Ideologen weisen, gehen auch viele. Aber ihre Ergebnisse könnt ihr doch sehen. Friedlicher ist diese Welt durch sie nicht geworden. Gott aber will Frieden. Darum setzt er die Liebe unter euch. Sie allein kann das Leben zum Frieden wenden. Eures zuerst, aber auch das aller anderen.
Sagt den Menschen: Es mag sein, dass diese Welt, solange sie sich dreht, Polizei und Militär braucht, um die Schwachen zu schützen und die Starken in Schach zu halten. Es mag auch sein, dass jemand von euch den Ruf hört und ihm folgt, euch selbst an friedenserzwingenden Maßnahmen zu beteiligen.
Vielleicht endet so die schlimmste Gewalt. Vielleicht verhindert man so den einen oder anderen Terroranschlag. Aber ganz sicher wird so kein FRIEDE. Denn hier handeln allein Menschen. Und wo nur sie allein handeln, missbrauchen Menschen, irren Menschen, scheitern Menschen.
Friede braucht mehr. Friede braucht euer Leben mit Gott. Friede braucht euch, euren Einsatz, eure Herzen. Darum, meine Freunde, ihr versucht so zu leben, wie Gott euer Leben will: Voller Liebe, die keine Grenzen kennt oder akzeptiert. Für jeden, der euch kennt oder dem ihr begegnet, wird es wahr werden:
Die Liebe Gottes, die Gnade unseres Herrn Jesus Christus und die Gemeinschaft des Heiligen Geistes wird euch selig machen, weil sie euch Frieden gibt. Amen.