DER TOD greift das Leben an
ein Tag wie so unendlich viele
Menschen opfern Menschen
für ihr Leben
oder das, was sie dafür halten
Tag für Tag neu
Karfreitag
KEIN Tag wie irgend-ein anderer
MENSCHEN greifen das Leben an
Gott leidet aus Liebe
der Tod seines Sohnes
seine Tat für seine Menschen
So sehr
hat Gott die Welt geliebt,
dass er seinen eingeborenen Sohn
gab,
damit alle, die an ihn glauben,
nicht verloren werden,
sondern das ewige Leben haben.
(Joh 3,16)
***
Vor fast zweitausend Jahren:
Die römische Justiz verhängt über einen Unschuldigen ein Todesurteil und vollstreckt es in großer Öffentlichkeit. So etwas ist sowohl vorher als auch nachher immer wieder geschehen. Und doch ist gerade der Fall „Jesus Nazarenus Rex Judaeorum“ – „Jesus aus Nazareth König der Juden“, kurz „INRI“ – besonders.
Hat er doch letztlich zu dem geführt, was man heute mit „christliche Kirche“ bezeichnet, mit vielen Folgen für die Menschen auf dieser Welt bis heute. Auch auf den Kalender, der heute „Karfreitag“ anzeigt. Für uns Deutsche sogar ein gesetzlich geschützter Feiertag.
„Kar“ kommt aus dem Althochdeutschen und bedeutet soviel wie „Trauer“. Im Englischen heißt dieser Tag hingegen „Good Friday“, also guter Freitag. Ob das beides zusammenpasst, also was an Trauer eine gute Nachricht sein kann, darüber denken Christen seit fast zwei Jahrtausenden nach.
Wir tun es heute aus der Perspektive der Hinrichtungserzählung aus dem Evangelium nach Lukas 23, die wir vorhin schon gehört haben. Gerade heute sollten wir uns Zeit nehmen, noch einmal zu hören:
33 Und als sie kamen an die Stätte, die da heißt Schädelstätte, kreuzigten sie ihn dort und die Übeltäter mit ihm, einen zur Rechten und einen zur Linken.
34 Jesus aber sprach: Vater, vergib ihnen; denn sie wissen nicht, was sie tun! Und sie verteilten seine Kleider und warfen das Los darum. 35 Und das Volk stand da und sah zu. Aber die Oberen spotteten und sprachen: Er hat andern geholfen; er helfe sich selber, ist er der Christus, der Auserwählte Gottes.
36 Es verspotteten ihn auch die Soldaten, traten herzu und brachten ihm Essig 37 und sprachen: Bist du der Juden König, so hilf dir selber!
38 Es war aber über ihm auch eine Aufschrift: Dies ist der Juden König.
39 Aber einer der Übeltäter, die am Kreuz hingen, lästerte ihn und sprach: Bist du nicht der Christus? Hilf dir selbst und uns! 40 Da antwortete der andere, wies ihn zurecht und sprach: Fürchtest du nicht einmal Gott, der du doch in gleicher Verdammnis bist? 41 Wir sind es zwar mit Recht, denn wir empfangen, was unsre Taten verdienen; dieser aber hat nichts Unrechtes getan.
42 Und er sprach: Jesus, gedenke an mich, wenn du in dein Reich kommst!
43 Und Jesus sprach zu ihm: Wahrlich, ich sage dir: Heute wirst du mit mir im Paradies sein.
44 Und es war schon um die sechste Stunde, und es kam eine Finsternis über das ganze Land bis zur neunten Stunde, 45 und die Sonne verlor ihren Schein, und der Vorhang des Tempels riss mitten entzwei.
46 Und Jesus rief laut: Vater, ich befehle meinen Geist in deine Hände! Und als er das gesagt hatte, verschied er.
47 Als aber der Hauptmann sah, was da geschah, pries er Gott und sprach: Fürwahr, dieser Mensch ist ein Gerechter gewesen!
48 Und als alles Volk, das dabei war und zuschaute, sah, was da geschah, schlugen sie sich an ihre Brust und kehrten wieder um. 49 Es standen aber alle seine Bekannten von ferne, auch die Frauen, die ihm aus Galiläa nachgefolgt waren, und sahen das alles.
Bei Lukas scheint alles auf den Vers 47 zuzulaufen, wo der Befehlshaber des Hinrichtungskommandos, ein römischer Hauptmann, in den Blick kommt: „Als das aber der Hauptmann sah, was da geschah, pries er Gott und sprach: Fürwahr, dieser Mensch ist ein Gerechter gewesen!“
Wieso preist er Gott? Welchen eigentlich, die Römer hatten doch so viele? Und was bedeutet, Jesus sei „ein Gerechter“ gewesen?
Beginnen wir damit, also gewissermaßen von hinten.
Luther selbst hat hier ursprünglich einmal anders übersetzt: Dieser ist ein frommer Mensch gewesen. Offensichtlich war ihm „gerecht“ nicht aussagekräftig genug. Und zu Luthers Zeiten haben das wahrscheinlich auch die meisten Menschen noch verstanden.
Heute müssen die meisten für das Wort „fromm“ schon ein Wörterbuch bemühen. Da kann man dann für „fromm“ außer gerecht die Bedeutungen rechtschaffen, tapfer, ehrfurchtsvoll oder auch tüchtig finden. Und „fromm“ trifft dann wohl tatsächlich eher das, was Lukas uns nahebringen will.
Fromm: Ehrfürchtig, voller Ehrfurcht Gott gegenüber.
Kein Wort des Vorwurfs den Soldaten gegenüber, die ihn ans Kreuz genagelt hatten und jetzt um seine Kleider würfelten. Im Gegenteil:
Vater, vergib ihnen, denn sie wissen nicht, was sie tun.
Fromm: Rechtschaffen. Er bleibt seiner Sendung treu bis zuletzt. Anders als Matthäus und Markus berichtet er von dem Wortwechsel der beiden Verbrecher, die mit ihm gekreuzigt wurden. Und er bleibt dem, der seine Hilfe erbittet, seelsorgerlichen Beistand nicht schuldig: „Wahrlich, ich sage dir: Heute wirst du mit mir im Paradies sein.“
Fromm: Tapfer und ehrfürchtig.
Nicht einmal Klagepsalm 22 kommt ihm über die Lippen: „Mein Gott, mein Gott, warum hast Du mich verlassen?“ – von diesem Schrei weiß Lukas nichts. Im Gegenteil, könnte man fast sagen: Bis zu seinem Tod ist Jesus als der zu erkennen, der sich in Gott aufgehoben und geborgen fühlt. „Vater, ich befehle meinen Geist in deine Hände!“ Auch ein Psalmzitat, hier aber ist es Psalm 31.
Fromm: Wahrhaftig gerecht, in allem aus-gerichtet auf Gott. Ehrfürchtig, tapfer, rechtschaffen. So erlebt der römische Hauptmann den Sterbenden.
Und hier trifft Lukas wohl auch die geschichtliche Realität genauer. Bei Matthäus und Markus wird der Hauptmann sagen: Dieser ist wahrhaftig Gottes Sohn gewesen. Das aber ist ganz klar die Sicht der nachösterlichen Jüngerschaft. Jesus als Sohn Gottes – das sind Worte von Jüngern, nicht von theologischen Laien.
Der Hauptmann hier bei Lukas aber sieht, was ein Römer am Kreuz Jesu wirklich zu sehen vermag: Den Tod eines Frommen. Und gewissermaßen als Unterschrift unter diese reale Sicht ist bei Lukas noch ein besonderer Vers eingefügt: „Und als alles Volk, das dabei war und zuschaute, sah, was da geschah, schlugen sie sich an ihre Brust und kehrten wieder um.“
Was dieses „sich an ihre Brust“- Schlagen für Lukas bedeutet, wird klar, wenn man sich an den Pharisäer und den Zöllner im Tempel erinnert. Während der Pharisäer hier der ist, der mit stolzschwellender Brust einherredet, ist der Zöllner der, der sich an die Brust schlägt und zur Umkehr bereit ist: „Der Zöllner aber stand ferne, wollte auch die Augen nicht aufheben zum Himmel, sondern schlug an seine Brust und sprach: Gott, sei mir Sünder gnädig!“
Hier, nach dem Tod Jesu, ist es die Menge derer, die Zeugen dieser Hinrichtung geworden waren. Sie sehen, was der Hauptmann sah, und fühlten, was er fühlte: Hier war jemand gestorben, der so nicht hätte sterben dürfen. „Und als alles Volk, das dabei war und zuschaute, sah, was da geschah, schlugen sie sich an ihre Brust und kehrten wieder um.“
Lukas schildert Kreuzigung und Tod als das Sterben des Frommen. Und anders als Matthäus und Markus sind die Soldaten und Schaulustigen von dieser Szene erschüttert. Und für ihn ist wichtig, dass die Jüngerinnen und Jünger diese Szene nicht nur von weitem mit ansahen. Sie „sahen das alles“ – als nicht nur den Tod des Frommen, Gerechten, sondern auch die Erschütterung der Soldaten und der Schaulustigen. Diese Erschütterung verleiht der Kreuzigung ein ganz besonderes Gewicht.
Vor diesem Hintergrund kann auch der Satz „Als aber der Hauptmann sah, was da geschah, pries er Gott“ verstanden werden. Diese große Erschütterung unter dem Kreuz, die alle ergreift, kann tatsächlich dazu geführt haben, dass der römische Zenturio Gott begegnet ist.
Dass er vielleicht zum ersten Mal in seinem Leben ahnte, wer der Gott Israels war, den Jesus da als „Vater“ nannte. IN diesem Moment, FÜR diesen Moment. Gott hat sich für den Römer sehen lassen – hier unter dem Kreuz. Als Vater Jesu, der ihn durch dieses Martyrium trug. Hindurch und weiter.
Meine Schwestern, meine Brüder:
Kar-Freitag, also „Trauer-Freitag“: Hinrichtung eines Frommen, Gerechten, der das Leben seiner Freunde so vollkommen verändert und zum Guten gewendet hatte. Hier muss nicht mehr erklärt werden, denn das fühlen wir bis heute.
Good Friday, „guter Freitag“:
Lukas lässt uns eine mögliche Deutung dieses guten Freitags sehen. Die Menschen, die dieser Hinrichtung beiwohnten, erkennen in Jesu Sterben am Kreuz nicht die Hinrichtung eines Verbrechers, sondern den Tod eines Frommen.
Es ist erschütternd, dass nicht nur ein Unschuldiger stirbt, sondern einer, der bis zu seinem Tod seine Lebensrichtung nicht verliert. Der ausgerichtet bleibt auf Gott, den er Vater nennen kann. Ein Gerechter. Diese Erschütterung des alten Lebens aber wirkt über die Grenzen von Glauben und Religion hinaus.
Wer einmal die jüdische Gedenkstätte Yad Vashem in Israel gesehen hat, kennt dort die „Straße der Gerechten“. An dieser Straße sind Bäumen für Gerechte gepflanzt. Daneben stehen ihre Namen. Diese Gerechten sind Menschen, die Juden in Nazi-Deutschland vor der Vernichtung unter Einsatz ihres Lebens gerettet haben.
Die Überlebenden haben diesen Gerechten hier ein Denkmal gesetzt. Um den Besuchern zu zeigen: Jeder hat die Möglichkeit, zum Gerechten zu werden. Zu einem Menschen, der aus der Erschütterung seines alten Lebens heraus gerecht wird, also sein Handeln auf den Willen Gott ausrichtet – vielleicht auch ohne es selbst zu wissen oder zu begreifen.
Ein Freund stand während einer Israel-Reise an dem Baum für Oskar Schindler. Mancher unter euch erinnert sich sicher an den Film „Schindlers Liste“. Und mein Freund hat erzählt, dass er zum ersten Mal in seinem Leben DORT begriffen hat, was ein „Gerechter“ ist. Denn Schindler war nicht sein ganzes Leben „edel, hilfreich und gut“, sondern geschäftstüchtig, auch gerissen und lebte nicht selten an Recht und Gesetz vorbei.
Aber dann gab es den Moment der Erschütterung seines Lebens, in dem ihm deutlich wurde, dass er handeln musste, wenn er seinem Gewissen treu bleiben wollte. Dass Gott von ihm erwartete, alles zu tun, was in seiner Macht stand, um Juden, für die er verantwortlich war, vor der Gaskammer zu retten.
Da wurde Schindler zum GERECHTEN.
Nicht zum „Heiligen“.
Und dass dieser Schindler FRÜHER einmal „gerecht“ wurde, also sein altes Leben neu ausrichtete, dadurch fühlte sich mein Freund JETZT getröstet. Dass er als Deutscher durch diese Gedenkstätte gehen konnte und wusste, dass es damals unter Deutschen Menschen gab, die sich nicht davon abbringen ließen, der Stimme Gottes zu folgen. Gerechte eben.
Good Friday: Der gekreuzigte Jesus aus Nazareth wird der Welt die Richtung zu Gott weisen, in die Leben sich lohnt. Das ist das Zeugnis des Lukas.
Und wer Lukas wann immer auch begegnet, erkennt im Kreuzestod des Jesus von Nazareth den Tod eines Frommen, eines Gerechten. Der selbst unter größten Qualen, die Menschen ihm zufügten, nicht von Gott, unserem Vater, abließ.
Von der Liebe Gottes, der seine Menschheit trotz des Kreuzes nicht aufgibt,
von der Gnade Jesu Christi, die auch den Verbrecher neben ihm den Himmel aufschließt,
und von der Gemeinschaft des Heiligen Geistes,
die niemanden von uns jemals aufgeben wird.
AMEN