Warum lebe ich?
Was trägt mich?
Wozu bin ich hier?
Wie fülle ich meine Tage?
Was kann lohnendes Ziel meines Lebens sein?
Wie gelange ich dorthin?
Du bist getauft:
Du gehörst jetzt schon
IHM.
Denn der Herr aller Zeiten
und Schöpfer aller Welten
hat dich erwählt.
So spricht der Herr, der dich geschaffen hat:
Fürchte dich nicht, denn ich habe dich erlöst;
ich habe dich bei deinem Namen gerufen;
du bist mein!
Jesaja 43,1
***
Jeder, der schon einmal bei guter Sicht in den Bergen war,
will regelmäßig wieder dorthin. Diese Weite, ähnlich wie am Strand des Meeres, das einzigartige Gefühl, ein kleiner Teil dieser überwältigenden Welt zu sein, das überdeutliche Gespür für Sonne und Himmel, Wind und Regen.
In den Bergen erlebt man den Raum, die Zeit und die Natur auf kaum zu übertreffende Weise. Viele verbringen ihren Urlaub selbst bei schlechtem Wetter darum lieber in den Bergen als anderswo.
Die Berge als Bild für das Leben:
Auch das Leben kennt Höhen und Tiefen, Enge und Weite, Nebel und messerscharfe Sicht bis zum Horizont.
Unsere Wege scheinen meist bergauf zu führen.
Nichts geht ohne Widerstand, Steinchen und Steine liegen einem im Weg, und wenn es zu steil wird, fällt einem irgendwann das Weiterlaufen schwer.
Wenn es dann zum Überfluss noch kalt ist und regnet, fühlt man sich todmüde und verlassen.
Bergab erscheint es dann leichter zu gehen:
Das Marschgepäck drückt nicht so, die Lunge arbeitet leichter, alles geht schneller. Man erholt sich, auch wenn man den Muskelkater nicht in den Oberschenkeln, sondern in den Waden bekommt.
Kommt man beim Wandern an eine Gabelung, muss man sich entscheiden: Entscheiden zwischen links oder rechts, meist auch zwischen Bergauf und Bergab.
Ist man guter Dinge, entscheidet man sich lieber für den Weg bergauf: Denn die Erfahrung hat gelehrt, dass jeder Weg bergauf irgendwann wieder bergab führt. Geht man gleich bergauf, kann man hoffen, wieder bergab laufen zu können, wenn die Kräfte nachlassen.
Spätestens, wenn man zu lange im Tal unterwegs war, zieht es einen wieder hinauf auf den Berg. Hat man den Aufstieg geschafft und spielt das Wetter mit, sind sie plötzlich wie weggeblasen: Die Enge des Alltags, die beschränkte Sicht. Das Gefühl, irgendwie eingeklemmt zu sein.
Das Gipfelerlebnis stellt sich ein: Man fühlt sich nicht unten, sondern oben, gewissermaßen auf dem Dach der Welt. Der Himmel ist zum Greifen nah, ja man ist zum Teil schon im Himmel, und die Sorgen der Welt irgendwo weg, weit unten im Tal. Genauso klein wie die Bäume, Häuser und Tiere da unten.
Die Sonne klärt die Richtung: Man weiß wieder, wo Norden oder Süden, Westen oder Osten sind. Der Überblick, der abhanden zu kommen drohte, stellt sich wieder ein.
Mir fällt ein Lied von Reinhard Mey dazu ein: Über den Wolken muss die Freiheit wohl grenzenlos sein – alle Ängste, alle Sorgen, sagt man, blieben darunter verborgen, und dann wird alles, was uns groß und wichtig erscheint, plötzlich nichtig und klein…
Natürlich weiß ich, dass das Lied eigentlich vom Fliegen handelt. Und natürlich fällt es mir nur deshalb hierzu ein, weil ich GERN fliege. Über den Wolken zu fliegen – das ist schon der Gipfel.
Aber ich finde trotzdem, dass es auch auf den Berg-Gipfel passt: Zumindest bei gutem Wetter.
Gipfelerlebnisse – sie durchziehen die ganze Bibel.
Isaaks Opfergeschichte geschieht auf einem Berg, Mose begegnet Gott auf einem Berg und empfängt dort die zehn Gebote; von einem Berg aus wird er das gelobte Land sehen können, das er selbst nie erreicht. Auf Berg – Gipfeln spielen sich entscheidende Momente der Geschichte zwischen Mensch und Gott ab; hier scheint Gott näher zu sein als anderswo.
Die Berge als Bild für das Leben in der Nähe Gottes:
Auch der Evangelist Matthäus hat es meisterhaft verstanden, dieses Bild zu nutzen.
Gipfelerlebnisse durchziehen sein Evangelium vom Anfang bis zum Schluss.
Jesu Versuchung findet ihren Höhepunkt auf einem hohen Berg. Höher als die höchsten Zinnen des Tempels. Von hier aus sind sie zu sehen, die Reiche dieser Welt.
Von hier aus meint man, sie beherrschen zu können.
Jesus weiß es besser. Zum Glück für uns.
Das wichtigste, was Jesus zu sagen hat, predigt er seinen Jüngern auf einem Berg. Irgendwann heißt diese Predigt dann Bergpredigt. Die kennt jeder, selbst in der Politik. Dass ihre Parallele beim Evangelisten Lukas Feldrede heißt, weiß heutzutage kaum ein Mensch.
Auf einem Berg betet Jesus und wird die Nähe zu Gott so stark erfahren, dass er voller Energie zu seinen Jüngern zurückkehren und über den See zu ihrem vom Sturm bedrohten Boot über das Wasser laufen kann.
Auf dem Gipfel eines hohen Berges wird Jesus vor Petrus, Jakobus und Johannes von himmlischem Licht umgeben. Seine Jünger geraten dort in völlige Verzückung. Der Berg der Verklärung Jesu wird sprichwörtlich für die Erkenntnis der Herrlichkeit Gottes.
Die Kreuzigung Jesu geschieht auf dem Berg Golgatha vor den Toren Jerusalems. So, dass sie jeder sehen muss, diese zum Himmel schreiende Ungerechtigkeit der Hinrichtung eines Gerechten.
Und auch das Ziel seines Evangeliums führt die Leser auf einen Berg in Galiläa, dem Ort der Oster-Begegnung zwischen Jüngern und Auferstandenem.
Hier, auf dem Berg Matthäi am Letzten, stehen elf Jünger. Sie sind eine verletzte, zerrüttete Gemeinschaft. Es ist noch nicht lange her, da waren sie zwölf.
Zwölf – das Symbol der Gemeinschaft Gottes, die alle Stämme Israels umfassen wollte – es aber nicht vermochte. Einer von ihnen fehlt. Ihn hat die Beziehung zu Jesus in die Verzweiflung getrieben.
Die verbliebenen Elf verbindet, dass ihr Lebensziel zerbrochen ist.
Sie haben die Richtung verloren. Die Jünger befinden sich auf dem Rückzug: Aus der Hauptstadt in die Provinz, aus dem Machtzentrum in die politische Bedeutungslosigkeit. Es hat den Anschein, als suchten sie in Jesu alter Heimat Galiläa eine Nische, um möglichst ungestört weiterleben zu können.
Hier ist kein Glanz, sondern Schwund.
Kein Aufbruch, sondern Abbruch der Hoffnungen.
Die Gründung der Kirche geschieht nicht mit einer Jesuselite, die Elf sind weder Heilige noch geistliche Heroen.
Was sie hierher treibt, ist das merkwürdige Gerede der Frauen:
Wir haben den Auferstandenen gesehen! Geht nach Galiläa: Da werdet auch ihr ihn sehen!
Nun wollen die Elf wissen, was an diesem Gerede dran ist.
Ich lese die letzten Verse des Matthäusevangeliums aus der Zürcher Bibel:
16 Die elf Jünger aber gingen nach Galiläa, auf den Berg, wohin Jesus sie befohlen hatte.
17 Und als sie ihn sahen, warfen sie sich nieder; einige aber zweifelten.
18 Und Jesus trat zu ihnen und sprach: Mir ist alle Macht gegeben im Himmel und auf Erden.
19 Geht nun hin und macht alle Völker zu Jüngern: Tauft sie auf den Namen des Vaters und des Sohnes und des heiligen Geistes,
20 und lehrt sie alles halten, was ich euch geboten habe. Und seid gewiss: Ich bin bei euch alle Tage bis an der Welt Ende.
Wir, liebe Gemeinde, wir wissen immer schon, wie die Geschichte ausgeht.
Wenn wir Karfreitag in den Gottesdienst gehen, hören wir die Einladung zu den Ostergottesdiensten. Kein Kreuzgedenken, ohne dass wir in Gedanken schon Ostereier suchen.
Das war schon so, als unsere Urgroßeltern noch Kinder waren und noch viel länger.
Die Wunden der Elf aber sind frisch, nicht vernarbt. Sie sind tief, keine einfachen Schrammen, die übermorgen vergessen sind.
Das Dunkel des Grabes, in das sie ihren Herrn legen mussten, hat ihr Leben mit einem finsteren Schatten belegt.
Das staatliche Macht- und Gewaltmonopol der Römer, verbunden mit Angst und Missgunst der Menschen um sie herum, haben das Leben Jesu zu Ende und den Lebenswillen der Elf auf den absoluten Nullpunkt gebracht.
Nun fliehen sie und treffen auf ihrer Flucht ihre blank liegenden Nerven: Sie sehen auf dem Gipfel eines Berges den, den sie doch nicht sehen können dürften. Den Gefolterten und Gehenkten, den, den sie in das Grab des Joseph von Arimathäa gelegt hatten.
Einige aber zweifelten – ein wahres Wunder, dass das nicht alle taten.
Jesus aber geht auf sie zu. Der Tote kommt ihnen immer näher, denn er lebt. Sie hören:
Mir ist gegeben alle Gewalt im Himmel und auf Erden.
Alle Missgunst im Volk, alle Siegessicherheit der hochgerüsteten Römer, alle Lebensangst angesichts des Todes haben für die Elf ein plötzliches Ende:
Er, der Auferstandene, hat alle Macht. Und damit auch Macht über alle Gewalt, wie die Lutherbibel übersetzt und wie es viele von uns noch auswendig gelernt haben.
Geht nun hin und macht alle Völker zu Jüngern. Aber das hat ja nicht einmal Jesus geschafft: Und der konnte predigen, der konnte heilen, der hätte Berge versetzen können: Wie sollten sie das schaffen?
Aber Jesus sagt auch, wie genau er das meint: Tauft sie auf den Namen des Vaters und des Sohnes und des Heiligen Geistes. Zeigt ihnen, dass der Gott Israels JA zu ihnen sagt. Lasst sie sehen und spüren, dass Gottes Liebe keine Grenzen kennt, auch nicht die von Schuld und Tod.
Und dann sagt ihnen, wie sie leben sollen: Als Gemeinschaft der Jüngerschaft Jesu Christi. Die auf dieser Welt so zu leben versuchen, wie er gelebt hat: Lehret sie alles halten, was ich euch geboten habe.
Hier, beim letzten Gipfelerlebnis des Matthäus, begreifen seine Jünger: Jesus ist wirklich Gottes Sohn. Ihre Entscheidung, für ihn alles stehen und liegen zu lassen, war richtig. Das, wofür sie in den letzten Jahren lebten und arbeiteten, erweist sich in dieser schweren Krise als tragfähig. Weil die Gemeinschaft mit Gott alles zu tragen vermag.
Und diese Gemeinschaft wird halten. Nicht nur für die Jünger und ihre Kinder, auch für unsere Urenkel und deren Ur- Ur- Enkel. Gott lässt diese Welt nicht allein. Jesus Christus bleibt uns Menschen so nahe, dass wir Menschen Gott nahe kommen können. Durch das Wort Gottes und seine Präsenz in der Taufe und im Abendmahl. Bis an der Welt –
ENDE.
In riesiger Schrift erscheint das Wort auf der Kino- Leinwand. Die Liebenden haben sich bekommen, im letzten Augenblick und gegen allen Widerstand der Welt um sie herum. Das scheinbar Unmögliche ist doch möglich. Am Ende siegt das Gute. Die Zuschauer bleiben sitzen, lassen dieses Gut-Gefühl auf sich wirken, hören, wie die Schlussmusik den Raum erfüllt. Dieser Moment ist es, der zählt.
Ende, meine Schwestern und Brüder,
das ist auch das letzte Wort des Matthäus. Die Liebenden haben sich bekommen, im letzten Augenblick und gegen allen Widerstand der Welt. Das Unmögliche ist möglich geworden: Die Macht der Liebe siegt über die Gewalt des Todes.
Wir hören diese Worte, wissen um unser Geschenk der Taufe, erleben die Gotteskraft im Abendmahl. Irgendwann, eher gleich als später, werden wir wieder nach draußen gehen, der Alltag wird uns wiederbekommen.
Die kleinen und großen Mächtigen werden weiter versuchen, Menschen in Angst und Schrecken versetzen. Die Zustände in Kirche und Gemeinde werden auch weiter nicht wenige unter uns zweifeln lassen. Pandemien, Tod und Gewalt werden auch weiter Sicherheiten aufbrechen und Leben zerstören.
Wir aber waren heute auf einem Berg in Galiläa. Auf dem Gipfel des Matthäus konnten wir weiter sehen: Das Unmögliche ist die Möglichkeit.
Wir haben vom Gipfel sehen können:
Die Liebe Gottes, die Gnade unseres Herrn Jesus Christus und die Gemeinschaft des Heiligen Geistes
werden bei uns sein
bis an
UNSER
Ende.
AMEN.