Wurzeln (Jer 7 1-11)

Tränen
Jesus weint über Jerusalem
Es erkennt die Zeichen der Zeit nicht
Wird zerstört
Trauer
Israel und die Jünger des Jesus von Nazareth
Verlieren den gemeinsamen Glauben
Tränen
Wer weint sie heute
Wird hier und heute Schmerz gelitten
Angesichts der Not eines Volkes
Das Wort des Herrn aber bleibt ewig:

Wohl dem Volk, dessen Gott der HERR ist,
dem Volk, das er zum Erbe erwählt hat.
(Psalm 33,12)
***

Na, habt ihr eure Hausaufgaben von letztem Sonntag erledigt und das Buch Jeremia gelesen? würde der Lehrer jetzt fragen. Ich mache das natürlich nicht. Heute wird vielmehr eine zweite Portion Jeremia geboten.

Nicht nur dazu, um Lust zu machen, dieses Prophetenbuch zu lesen. Sondern natürlich auch, um unser Tagesthema zu beleuchten: Unser Verhältnis zum Judentum. Juden und Christen haben gemeinsame Wurzeln, so wie Orthodoxe, Katholiken und Evangelische ihre gemeinsamen Wurzeln haben.

Dass man trotz gemeinsamer Wurzeln verschiedene Lebenswege geht, ist eine Erfahrung, die jede Familie, jede Freundschaft macht. Ob diese verschiedenen Lebenswege Wege des Streites bis hin zum Krieg oder Wege des Friedens bis hin zur Erkenntnis der Wahrheit sind, ist die Schicksalsfrage. Auch das gilt für Familie, Freundschaft und Glauben gleichermaßen.

Darum zu Beginn eine Episode aus der Geschichte unseres Volkes, die ich gerade gelesen habe:
„Der Stürmer“ stand in großen Lettern auf dem Schaukasten, kein Aushang für die besten Fußballstürmer, aber einer für die Zeitung gleichen Namens, die man später „Hetzzeitschrift“ nannte.

„Mariechen!“ So nannte er sie, der Kleinhändler, der immer im gewohnten zeitlichen Abstand seine Kunden auf den Dörfern zu Hause aufsuchte und ihnen verkaufte, was sie brauchten, darunter auch die kleinen Messer, die von den Käufern liebevoll „Abrämchen“ genannt wurden und die bis heute dort so heißen. Eigentlich „Abrahämchen“, denn der Verkäufer war Jude.

„Mariechen, kaufe, was du brauchst. Ich weiß nicht, ob ich noch einmal komme!“ Er kam nie wieder und sie hat ihn nie wieder gesehen, genauso wenig wie ihren jüdischen Hausarzt, der jahrelang zu ihrer Familie ins Haus gekommen war.

Dafür fand sich Mariechen mit ihrer Tochter im „Stürmerkasten“ wieder: „Marie und Mathilde … lassen sich mit Juden ein und handeln mit ihnen“, stand da für alle zu lesen. Jetzt redeten viele über Marie und Mathilde, im Offenen wie hinter dem Rücken. Marie und Mathilde mussten gebrandmarkt weiterleben. Der kleine Händler und der Arzt aber durften gar nicht mehr weiterleben.

Eine kleine Begebenheit. Eine Randnotiz in der langen Geschichte der Verfolgung von Menschen anderen Glaubens, anderer Herkunft und anderer Meinung.

„Die Geschichte lehrt dauernd, aber sie findet keine Schüler!“ so Schriftstellerin Ingeborg Bachmann. Und wenn ich in unsere Gegenwart schaue, denke ich oft, dass sich Geschichte wiederholt, weil Menschen aus ihrer Geschichte das wichtigste offenbar nicht lernen können, die Parallelen nicht sehen. Dass Politik gemacht wird, im Kleinen und im Großen, zum Leid von Andersdenkenden. Denkt und handelt einer anders als andere, landet er in irgend einem „Stürmerkasten“, wie vor knapp 90 Jahren.

Daran habe ich denken müssen, als ich die Tempelrede des Propheten Jeremia, die ungefähr 2600 Jahre alt ist, gelesen habe. Sie steht in Jeremia 7, die Verse 1-11:

7 1 Dies ist das Wort, das vom HERRN geschah zu Jeremia:
2 Tritt ins Tor am Hause des HERRN und predige dort dies Wort und sprich: Höret des HERRN Wort, ihr alle von Juda, die ihr zu diesen Toren eingeht, den HERRN anzubeten!
3 So spricht der HERR Zebaoth, der Gott Israels: Bessert euer Leben und euer Tun, so will ich euch wohnen lassen an diesem Ort.
4 Verlasst euch nicht auf Lügenworte, wenn sie sagen: Hier ist des HERRN Tempel, hier ist des HERRN Tempel, hier ist des HERRN Tempel!
5 Sondern bessert euer Leben und euer Tun, dass ihr recht handelt einer gegen den andern
6 und gegen Fremdlinge, Waisen und Witwen keine Gewalt übt und nicht unschuldiges Blut vergießt an diesem Ort und nicht andern Göttern nachlauft zu eurem eigenen Schaden,
7 so will ich euch immer und ewiglich wohnen lassen an diesem Ort, in dem Lande, das ich euren Vätern gegeben habe.
8 Aber nun verlasst ihr euch auf Lügenworte, die zu nichts nütze sind.
9 Ihr seid Diebe, Mörder, Ehebrecher und Meineidige und opfert dem Baal und lauft fremden Göttern nach, die ihr nicht kennt.
10 Und dann kommt ihr und tretet vor mich in diesem Hause, das nach meinem Namen genannt ist, und sprecht: Wir sind geborgen, – und tut weiter solche Gräuel.
11 Haltet ihr denn dies Haus, das nach meinem Namen genannt ist, für eine Räuberhöhle? Siehe, ich sehe es wohl, spricht der HERR.

Das ist ein sehr protestantischer Text. Alle Gewissheiten des modernen, aufgeklärten Protestantismus haben hier ein sicheres Fundament.

Die Kritik des Jeremia am Tempelkult hat zur Geringschätzung von kultisch-liturgischen Fragen im Protestantismus beigetragen. Auch und gerade bei vielen Reformierten. Bessert euer Leben und Tun, Bilder und Weihrauch helfen da nicht.

Die Gegenüberstellung von Kult und Ethos kommt dem aufgeklärten, „modernen“ Menschen sehr entgegen, der vom Glauben nichts mehr erwartet und sich vom „richtigen Handeln“ alles erhofft. Wer redet, ohne zu tun, predigt Wasser und trinkt Wein.

Und der Pietismus konnte unter Rückgriff auf diesen Text seine innerliche, wahrhaftige Frömmigkeitshaltung einer äußerlichen, heuchlerischen Frömmigkeitspraxis im orthodox erstarrten Gottesdienst gegenüberstellen. Wer immer nur Halleluja singt, verlernt, Gott aus eigenem Herzen zu loben und ihm zu dienen.

Unser Text hat eine sehr verwickelte Wirkungsgeschichte hinter sich: Propheten gegen Priester, Christen gegen Juden, Protestanten gegen Römische, Pietisten gegen Orthodoxe, Aufgeklärte gegen Religiöse, Ethiker gegen Liturgiker. Der Tempel der anderen war zugleich die Räuberhöhle der anderen.

Unser Glaube ist gewachsen aus den Wurzeln eines Glaubens, der sein Heil und seine Heilung auch als irdisches, ganz greifbares Erleben erwartet und erhofft hat: „auf dass es dir wohl gehe und du lange lebest auf Erden …“- Dieser Nachsatz gilt nicht nur für die, die „Vater und Mutter ehren“.

Glaube muss das Leben besser machen. Glaube ist politisch. Glaube wird zur Politik. Glaube wird zur Kritik an dem, was er als Unheil erkannt hat. Glaube wird zur Kritik an dem, der Unheil BRINGT – wenn es sich nicht gerade um eine Naturkatastrophe handelt, die niemand voraussehen oder gar verhindern konnte.

Dann spricht der Glaube aus, was für ihn Unheil bringt. Dabei zeigt er irgendwie auch immer auf den, der das Unheil bringt. Nur wenigen ist es gegeben, Worte NICHT persönlich zu nehmen. Wenn einer sagt: Das ist falsch! dann hören die meisten: DU BIST falsch.

Wer sich diesen nahezu unauflösbaren Zusammenhang deutlich macht, kann verstehen, weshalb schon die Propheten damals unter ihrer Aufgabe, Mund Gottes zu sein, so gelitten haben. Jeremia selbst hat es in die wohl eindrücklichsten Worte gefasst, die von Propheten überliefert sind:

„Denn des Herren Wort ward in meinem Herzen wie brennendes Feuer, verschlossen in meinen Gebeinen. Ich mühte mich, es zu ertragen, aber konnte es nicht.“ (20,9) Seine Qualen sind so groß, dass er sogar den Tag seiner Geburt verflucht (20,14).

Mund Gottes zu sein ist eine Last. Man muss sagen, was man nicht sagen will. Man darf nicht schönreden, was so bitter ist. Man muss Bilder in Farbe malen, wo viele andere nur schwarz-weiß sehen können. Man will es am liebsten gar nicht hören, was man laut sagen soll und von dem man weiß, dass es nicht gut ankommen kann.

Und gerade so bringt Glaube auch Verletzungen mit sich. Denn wer Unheil beim Namen nennt, nennt auch den, der das Unheil bringt, beim Namen. Da wird die Sache zur Person, da wird ein Weg zur Lebenseinstellung eines Menschen.

Und gerade so bringt Glaube auch Verkehrungen mit sich. Denn es geht plötzlich nicht mehr um Wahrheit, sondern um Rechthaben. Nicht mehr um das Wort Gottes, sondern die Wörter von Menschen. Um Unheil, nicht um Heil.

All das muss man sich klar machen, wenn man Jeremia liest. Jeremia spricht, weil ihm das Herz schwer ist, nicht weil er die Menschen um sich „falsch“ findet. Er spricht, um zu ändern, nicht um zu verfluchen. Er spricht, um anderen einen guten Weg zu zeigen, nicht um die anderen in ihrer Sackgasse alt werden zu lassen.

Denn wenn er DAS wollte, bräuchte er einfach nur NICHTS zu tun. Er könnte sich um seinen eigenen Broterwerb kümmern und die anderen in das laufen lassen, was er selbst als Verderben erkannt hat. Jeremia aber sucht nicht das Unheil, er sucht das Heil für die, zu denen er spricht. Sein Entsetzen über die Zustände in seinem Volk ist nicht einfach das Entsetzen über die Anderen. Es ist auch das Entsetzen über sich selbst, seine Erfahrung der eigenen Machtlosigkeit.

Jeremia hofft auf Gottes Führung: „Siehe, es kommt die Zeit, spricht der HERR, dass ich dem David einen gerechten Spross erwecken will. Der soll ein König sein, der wohl regieren und Recht und Gerechtigkeit im Lande üben wird..“ (22,5).

Jeremia glaubt an das Heil Gottes: „ich will mein Gesetz in ihr Herz geben und in ihren Sinn schreiben, und sie sollen mein Volk sein, und ich will ihr Gott sein…(31,33). Jetzt mag Gott zornig sein, vielleicht muss er das auch sein. Aber seine Gnade ist ewig.

Der größte Jude aller Zeiten, die diese Welt bisher durchlebt und durchlitten hat, war Jesus aus Nazareth. Die Tränen über den Zustand seines Volkes und Jerusalems fließen auch aus seinen Augen. Die Worte des Tempels als Räuberhöhle kommen auch aus seinem Mund (Lk 19, 41-48).  Er litt, wie schon Jeremia litt, an den Missverständnissen, Verletzungen und Verkehrungen, die der Glauben den Menschen in ihr Leben brachte. Und es war gerade Jesus aus Nazareth, der es neu ernst werden ließ mit seinem Glauben an Gott.

Sein Leben führt uns vor Augen, dass das Leben nicht wie ein Automat funktioniert. Man kann nicht einfach gute Taten oben hineinstecken und gutes, langes Leben unten herausbekommen. Seines endete sehr früh, und es endete am Kreuz.

Meine Schwestern, meine Brüder,

Jesus starb als Jude für sein Judesein. Für die Leidenschaft Gottes, für seine Menschen, die er liebt. Nie wäre Jesus auf die Idee gekommen, eine eigene Religionsgemeinschaft zu gründen. Das haben später seine Jünger getan. Vielleicht, weil sie es ebenso tun MUSSTEN wie später die Muslime. Und viel später die Anhänger der Reformation, die ihre eigenen Kirchen gründen MUSSTEN.

Das sollten wir in unseren Bemühungen, ein Leben als Christen zu führen, nie aus den Augen verlieren. Auch wenn jeder von uns weiß, warum er evangelisch und nicht katholisch ist, und auch wenn die Gründe dafür nicht an den Haaren herbeigezogen, sondern GUTE Gründe sein mögen:

Wenn wir nicht versuchen, Gott in Jesus Christus zu folgen, verlieren wir Gott aus den Augen. Und Jesus hat eben nicht versucht, Recht zu haben und zu behalten, sondern für die Menschen da zu sein. Ihnen zuzuhören, auf sie zuzugehen, sie zu verstehen, ihnen nahe zu kommen, ihnen das Gefühl der Nähe Gottes zu vermitteln.

Er tat dies alles nicht, um Gottes Gesetz durchzusetzen, sondern um das Wort Gottes in die Herzen der Menschen zu pflanzen. Und einzig und allein so kann Heil für uns Menschen gelingen: Wenn das Wort Gottes nicht dahergeredet ist, sondern unsere Herzen erreicht.

Jesus klagt über Jerusalem: „Wenn doch auch du am heutigen Tag erkannt hättest, WAS DIR FRIEDEN bringen würde!…“ Und genau in diesem Satz des Tagesevangeliums liegt „des Pudels Kern“: Alle Forderungen Gottes, all seine Angebote an uns Menschen haben nie den ZWECK, „Recht“ zu haben oder zu einer Rechtsvorschrift zu werden. Sondern sie haben den SINN, Frieden zu bringen und mit ihm das Heil des Lebens und den Trost des Sterbens.

Wenn wir Christus folgen wollen, begegnen wir ALLEN Menschen als Ebenbildern Gottes, egal ob sie Juden, Katholiken, Muslime oder nichts von all dem sind.

In allem, was wir zu sagen haben , was wir zu tun haben oder wozu wir besser schweigen sollten, geht es nie darum, dass wir Recht haben oder bekommen. Sondern es geht um das Heil der Menschen. Es geht darum, dass wir alles tun und lassen, um Frieden werden zu lassen.

Den Frieden Gottes, der höher ist als alles,
was wir zu denken vermögen.
Der unsere Leiber und Seelen heil werden lässt
durch Jesus Christus, den Herrn dieser Welt.
AMEN

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