(1. Thess 5, 2-6)
Drittletzter Sonntag des Kirchenjahres: Es geht auf das ENDE zu. Was liegt näher, als sich mit dem Ende zu beschäftigen. Dem Ende des Jahres,/ dem Ende des Lebens,/ dem Ende der Welt.
Auch wenn das kaum unser Lieblingsthema sein dürfte: Man kann das Ende ja nicht den anderen überlassen. Dem Komposthaufen,/ dem Bestatter,/ den Zeugen Jehovas oder anderen religiösen Gruppen. Denn das Ende trifft jeden.
Drittletzter Sonntag: „Wie der Blitz aufleuchtet und den Himmel von einem Ende zum anderen erhellt, SO wird es an dem Tag sein, an dem der Menschensohn kommt.“ (Lukas 17,24; wir hörten es eben in der Evangelienlesung).
Der Tag, an dem der Menschensohn kommt, der Tag des Herrn: Der letzte Advent der Welt, der letzte Tag überhaupt. Der Tag, dem kein Tag mehr folgen wird. Der jüngste Tag.
Das Ende dieser Welt, das Ende allen Leidens, Zitterns und Zagens. Das Ende aller Angst, aller Krankheit, allen Todes. Das Ende der größten Suche der Menschheit, nämlich der nach Gerechtigkeit. Der Tag der Hoffnung für alle, die unter der Vergeblichkeit ihres Tuns und ihrer Begrenztheit leiden./ Das Ende jeder Sehnsucht.
Mancher mag heute vor 25 Jahren gedacht haben, dass sich alle Sehnsucht erfüllen würde. Am Tag, an dem die Mauer fiel.
Als ich plötzlich die Teile der Welt erreichen konnte, von denen ich felsenfest überzeugt war, sie niemals in meinem Leben mit eigenen Augen sehen zu können. Mein gelobtes Land im Norden.
Als mir wildfremde Menschen in Westberlin weinend um den Hals fielen. Als ich das Gefühl kennenlernte, das jetzt alles möglich sein würde. Was ist davon übrig?
25 Jahre später weiß nicht nur ICH, dass es schwerer gekommen ist. Freiheit ist nicht nur Befreiung. Sie ist Last der Verantwortung für jeden. Und viele tragen an ihrer Freiheit schwerer als sie es je für möglich gehalten hätten.
Die Erkenntnis ist reif: Der Tag vor 25 Jahren hat unser Leben radikal geändert. Aber der Tag des Herrn – der war es nicht.
Die Maueröffnung konnte man verschlafen, wie ich selbst sie damals verschlafen habe. Den Tag des Herrn wird man nicht verschlafen können: „Wie der Blitz aufleuchtet und den Himmel von einem Ende zum anderen erhellt, so wird es an dem Tag sein, an dem der Menschensohn kommt.“ Nicht einmal Blinde werden ihn übersehen, nicht einmal Taube werden ihn überhören, auch Tote werden ihn erleben.
Der Tag des Herrn: Der Predigttext für heute lässt ein anderes Bild dieses Tages entstehen. Paulus schreibt an die Christen in Thessaloniki, ich lese aus dem 1. Thessalonicherbrief Kapitel 5 die Verse 2-6 (Neue Genfer Übersetzung):
2 Ihr selbst wisst (…), dass jener große Tag, der Tag des Herrn, so unerwartet kommen wird wie ein Dieb in der Nacht. 3 Wenn die Leute meinen, es herrsche Frieden und Sicherheit, wird plötzlich das Unheil über sie hereinbrechen wie Wehen, die eine schwangere Frau überfallen, und es wird kein Entrinnen geben.//
4 Ihr aber, Geschwister, lebt nicht in der Finsternis, und deshalb wird euch jener Tag nicht wie ein Dieb überraschen. 5 Ihr alle seid ja Menschen des Lichts, und euer Leben wird von jenem kommenden Tag bestimmt. Weil wir also nicht zur Nacht gehören und nichts mit der Finsternis zu tun haben, 6 dürfen wir auch nicht schlafen wie die anderen, sondern sollen wach und besonnen sein.
Der Tag des Herrn – nicht: Hell wie ein Blitz, der von einem Ende des Himmels bis zum anderen alles in helles Licht taucht. Paulus gebraucht ein ANDERES Bild: Dieser Tag kommt wie ein Dieb in der Nacht.
Ein bedrohlicheres Bild als das des Blitzes. Ein Blitz bringt nur manchmal einen Menschen zu Schaden. Ein Einbrecher dagegen fast immer. Ein Kollege, bei dem unlängst während seines Urlaubes eingebrochen wurde, hat mir erzählt, was für ihn das wirklich Schlimme daran war.
Nicht, dass kurz nach seinem Umzug in seine neue Gemeinde sein gerade eingerichtetes Zuhause verwüstet wurde, nicht dass einige wertvolle Dinge nun wohl für immer verloren waren.
Wohl aber, dass Geräusche in der Nacht zu Bedrohungen werden, die einen nicht mehr ruhig schlafen lassen. Ein nie gekanntes Gefühl, dass die eigenen vier Wände ihren Schutz verloren haben – das sei das wirklich Schlimme.
Einbrüche: Ihre Zahl wächst, die Aufklärungsrate sinkt. Sicherheiten werden erschüttert.
Und es gibt nicht nur Einbrüche in Wohnungen. Börsenkurse brechen ein, Schülerzahlen, Geburtenraten, Leistungen, Mitgliederzahlen. Auch Krankheiten brechen in unsere Gesundheit ein oder Todesfälle in unser Leben.
Die Zahl der Einbrüche in die Sicherheiten der Menschen sind zahlreich, die damit verbundenen Verluste erheblich.
Verluste: Ist es das? Bringt der Tag des Herrn Verluste? Müssen wir uns vor ihm fürchten? Und, was noch viel schlimmer wäre: Wird der Tag des Herrn zum Unheil für die Menschen, die nicht mit ihm rechnen?
Wenn ich mir den Briefabschnitt noch einmal durchlese, denke ich, dass Paulus das so nicht gemeint haben kann. Gerade darum nutzt er wohl auch das Bild der Wehen.
Wenn sie am Ende der Schwangerschaft einsetzen, gibt es kein Mittel, sie zu verhindern. Am Ende der Wehen aber steht nicht das Unheil, sondern ein Kind. Neues Leben- das ist das Gegenteil von Unheil.
Es geht Paulus also vor allem um die Unausweichlichkeit. So, wie jede schwangere Frau die Wehen ertragen muss, wird jeder Mensch den Tag des Herrn ertragen. Ob er ihn nun für möglich hält oder nicht.
Er wird sich –anders als die Wehen – auch nicht ankündigen. Er kommt wie ein Dieb in der Nacht. Zu einer Zeit, in der niemand mit ihm rechnet.
Gerade dann, „wenn die Leute meinen, es herrsche Frieden und Sicherheit…“ Es geht Paulus um falschen Frieden, um falsche Sicherheit. Wenn Menschen sich auf dieser Welt eingerichtet haben. Meinen, dass alles in Ordnung sei. Meinen, dass sie selbst völlig in Ordnung seien.
Damit geht es Paulus um genau das, was wir auch im 1. Johannesbrief lesen können: „Wenn wir sagen, wir haben keine Sünde, so betrügen wir uns selbst, und die Wahrheit ist nicht in uns.“
Es geht um Selbstbetrug: Dass man sich etwas vormacht. Das man sein Leben auf etwas aufbaut, das gar nicht da ist. Sich etwas schön redet. Dass man die Augen verschließt vor den Problemen, die einen umgeben.
„Unheil“ meint darum nicht, dass der Tag des Herrn keinen Ausweg mehr ließe. Unheil meint vielmehr den traurigen Moment, in dem klar wird: Die Tage eines vermeintlich schönen, sicheren und friedvollen Lebens waren Tage des Selbstbetruges.
Jetzt kommt der Moment, indem alle die Augen dafür geöffnet haben, was der Wille Gottes für sie ist. Auch die, die die Augen davor bisher verschlossen haben. Also in Finsternis lebten.
Der Tag des Herrn: Ende der Finsternis. Ende des Selbstbetruges. Unausweichlich. Sein Termin: Nicht zu planen.
Aber er bleibt Teil unserer Hoffnung: Denn es ist der Tag, an dem jeder Mensch, der je gelebt hat, Gott erkennen wird. Kein Zweifel wird bleiben.
Warum aber reden wird in jedem Jahr neu von diesem Tag? So Gott will, wird jeder von uns wohl sterben, bevor dieser Tag anbricht. Warum sich also zu Lebzeiten den Kopf darüber zerbrechen?
Paulus sagt: Dieser Tag wirkt in unser Leben hinein. Darum müssen wir ihn nicht nur kennen, sondern ernst nehmen.
Wer von einem Dieb in der Nacht überrascht wird, hat sehr wahrscheinlich auch selbst irgendeinen Fehler gemacht. Das Fester im 1. Stock angekippt gelassen. Oder die Haustür nur zugezogen und nicht abgeschlossen. Oder überall herumposaunt, dass er mit der ganzen Familie vier Wochen in Australien ist. Oder was man sonst noch falsch machen kann.
Ist man aber wachsam und sicherheitstechnisch auf der Höhe der Zeit, wird zuerst jemand anderes überrascht sein: Der Dieb selbst nämlich, weil er es schwerer hat mit seinem Einbruch als gedacht. Dann wird er sich zurückziehen, weil es für ihn zu gefährlich wird. Die Kriminalstatistiken belegen das.
Christen verschließen die Augen nicht vor der Realität. Christen öffnen ihre Augen und sehen die Welt, wie sie ist: Sie leben im Licht, sind Kinder des Lichts.
Und Kinder des Lichts können sich gut vorbereiten. Sie wissen um den letzten Advent. Sie freuen sich auf ihn und fürchten ihn nicht. Denn an diesem Tag werden auch wir Gott sehen, wie er ist: Wir werden Jesus Christus sehen. Den Gekreuzigten.
Lothar Zenetti:
„Drei Räuber/ kreuzigt man heute/ auf Golgatha:
Der Linke nahm mir mein Geld,
der Rechte nahm mir mein Gut,
der in der Mitte nahm mir meine Schuld.
Auf Golgatha/ kreuzigt man heute/ drei Räuber.“
Wer wollte sich vom Gekreuzigten in der Mitte nicht berauben lassen?
Meine Schwestern, meine Brüder:
„Weil wir also nicht zur Nacht gehören und nichts mit der Finsternis zu tun haben, 6 dürfen wir auch nicht schlafen wie die anderen, sondern sollen wach und besonnen sein“, schließt Paulus.
Das klingt nicht angenehm: Nach wenig Schlaf und viel Stress. Es kann aber gar nicht darum gehen, nicht zu schlafen, denn wer nicht schläft, kann auch nicht wach sein. Jedenfalls nicht in diesem Leben.
Wer aber ausgeschlafen den Blick für das JETZT frei hat, hat den nüchternen Blick auf die Realität Gottes. Und der erkennt genau das Gegenteil von Stress. Der fragt nach dem, was Gott ihm JETZT zu sagen hat. Hört auf, auf Zukunft hin zu leben. Weil JETZT der Augenblick ist, an dem man Gott begegnen kann.
Mancher kennt ja das Gespräch zwischen Mönch und Schüler über die Frage des Geheimnisses, wie der Mönch zu seinem erfüllten Leben käme, und dieser antwortet:
„Wenn ich sitze, dann sitze ich; wenn ich stehe, dann stehe ich; wenn ich gehe, dann gehe ich; wenn ich esse, dann esse ich …“
Dazu meint der Schüler: „Das ist doch nichts Besonderes. Das tun wir doch alle.“
Der Mönch schaute ihn ruhig an und sagte: „Nein, wenn du sitzt, dann stehst du schon. Wenn du stehst, dann gehst du schon. Und wenn du gehst, dann bist du schon am Ziel.“
Wach und nüchtern sein: So nehmen wir jeden Augenblick in der Gegenwart Gottes wahr. „Siehe, jetzt ist die Zeit der Gnade, siehe, jetzt ist der Tag des Heils!“ (2. Kor 6,2, vorhin im Wochenspruch).
Jetzt schon blitzt er auf, der Tag des Herrn:
Die Liebe Gottes, die Gnade unseres Herrn Jesus Christus und die Gemeinschaft des Heiligen Geistes.
So lebt Kirche, denn sie lebt für den Tag des Herrn.