Wie weit entfernt der Mensch auch ist
einen Augenaufschlag weit
oder am Ende der Welt
Gott ist nahe
denn Christus geht ihnen nach
Sein Ruf ist hörbar
der Blick auf seine Gerechtigkeit
am letzten Tag der Welt liegt frei
er sucht die Verlorenen
er bittet um Rückkehr
nicht erst seit heute
Der Menschensohn ist gekommen,
zu suchen und selig zu machen,
was verloren ist. (Lukas 19,10)
***
Jesus nimmt die Sünder an./ Saget doch dies Trostwort allen,/
welche von der rechten Bahn/ auf verkehrten Weg verfallen.
So die erste Strophe des heutigen Wochenliedes.
Wen aber „hebt das an“?
Wem ist das ein „Trostwort“?
Wer hat die „rechte Bahn“ verlassen und ist auf Abwegen?
In der Hoch-Zeit der Diskussionen um das Feiern des Abendmahls in unserer evangelischen Kirche Mitte der 1990er Jahre meinte eine damals schon über achtzigjährige Frau: „Nee, Herr Pfarrer: Soviel Sünde haben wir denn doch nicht, dass wir öfter als zweimal im Jahr zum Abendmahl gehen müssten.“
Diese Frau war nicht irgendwer im Dorf. Sie wohnte zwar am Rande, lebte aber mitten drin. Alle kannten sie, und nur wenige konnten nichts mit ihr anfangen oder sie nicht leiden. Das galt auch für ihren Mann. Beide waren Menschen, die man gerne traf, mit denen man gerne redete, die man gern besuchte: Immer gab es Zeit für einen Plausch, einen Kaffee und herzliches Entgegenkommen.
Nein, sie hatte sich wirklich nichts vorzuwerfen. Jedenfalls nichts, wovon ich wusste oder das ich hätte wissen können. Irgendwie hatte sie Recht: Nach menschlichem Ermessen würde sie sich nicht viel Verwerfliches anhören müssen, am letzten Tage vor dem Richterstuhl Christi. Sie nicht, und ihr Mann wohl auch nicht.
Ich kann sie schon lange nicht mehr fragen, wie sie diese Liedstrophe hört und empfindet. Sie ist bald nach der Jahrtausendwende gestorben, nicht mehr weit weg von einhundert Lebensjahren. Ein biblisches Alter, jede Menge Lebenserfahrung. Auch jede Menge Erfahrung mit ihrer Kirche, der sie immer treu geblieben war.
Ich bin mir sicher: Sie hätte diese Strophe mitgesungen, um niemanden zu verärgern. Aber „angehoben“, also erfreut, im Tiefsten ihrer Seele erleichtert hätten sie die Worte nicht. Auch die restlichen sieben Strophen nicht.
In einem meiner Lieblingsfilme „Wie im Himmel“ gibt es eine handfeste Ehekrise zwischen einem Pfarrer und seiner Frau. Und auch hier geht es wie im Wochen-Lied um das Thema „Sünde“.
Die Frau schreit ihrem Mann ins Gesicht: „Es gibt keine Sünde! Die Kirche ist es doch, die die Sünde erfunden hat – nur, um dann die Vergebung mit beiden Händen austeilen zu können!…“
Und ihr Mann, der Herr Pfarrer:
Er schweigt. Ist sprachlos.
Sünde: Eine Erfindung der Kirche? Ist auf der „rechten Bahn“ nur der, der „immer gleich zum Beichtstuhl rennt“, wie die „Toten Hosen“ in einem ihrer Lieder singen? Und dann weiter: „Ich will nicht ins Paradies, wenn der Weg dahin so schwierig ist….“
Will niemand mehr ins Paradies? Treten vielleicht deshalb so viele Menschen in Deutschland aus den Kirchen aus – 2019 so viele wie schon lange nicht mehr? 272.000 aus der katholischen, 270.000 aus der evangelischen: Über eine halbe Million Menschen, so viele wie noch nie zuvor. Woran mag das liegen?
An der MOTIVATION der Menschen, die mitarbeiten, egal ob im Ehren-, Neben- oder Hauptamt? Wohl kaum. Ein paar Unmotivierte oder gar Enttäuschte gab es immer, aber das sind kaum mehr als vor dreißig Jahren.
Oder liegt es an der ZAHL derer, die mitarbeiten? Wohl auch nicht. Denn in unseren kleinen Gemeinden gibt es viele, die aktiv mittun. Prozentual sogar deutlich mehr als in großen Gemeinden.
Daran kann es also auch kaum liegen, auch nicht an den immer weniger werdenden Pfarrstellen. Denn sonst hätten die Gemeinden in der DDR ja unaufhörlich wachsen müssen, weil wir da noch so viele Pfarrer hatten. Das Gegenteil aber ist der Fall.
Ist es vielleicht so, dass viele Menschen das „Geschäftsmodell Kirche“ durchschaut haben? Dass sie sagen: Sünde haben die Kirchen erfunden, damit sie Vergebung gegen Geld verkaufen können? Du bist okay, ich bin okay, Sündenvergebung können wir uns sparen?
Die Sünde, der Sund.
Der Strelasund ist ein Meeresarm der Ostsee. Er trennt die Insel Rügen vom Festland bei der Hansestadt Stralsund. Eine langgestreckte und für ein Küstengewässer ziemlich tiefe Meerenge. Bis zu 16 Meter immerhin. Er hat eine Fläche von 64 Quadratkilometern.
Will man aus eigener Kraft hinüber, muss man schon gut schwimmen können, und das Wetter sollte auch mitspielen. Weil das nicht alle können, die hinüberwollen, gab es erst Boote, mit denen man hinüberfuhr, und heute eine Brücke, die man nutzen kann.
Der Sund: Ein Abstand, der nur schwer zu überwinden ist. Für manchen gar nicht, jedenfalls nicht ohne Hilfsmittel.
Die Sünde und der Sund haben dieselbe Wortwurzel. Und auch die Sünde ist ein Abstand, der nur schwer zu überwinden ist.
Ist der Sund eine geographische Grüße, legt sich die Sünde sich wie Mehltau auf menschliche Beziehungen. Und sorgt hier für einen Abstand, der nur schwer zu überbrücken ist. Dinge, die wir tun oder lassen; Worte, die wir sagen oder verschweigen; Gedanken, die wir in uns wachsen lassen oder verdrängen.
Sünde schafft Abstand. Abstand zu Menschen, die wir doch nötig haben oder die uns nötig hätten. Damit wird Sünde zu einer Wurzel von Unheil. Sie schafft, dass Menschen einander aus dem Weg gehen, sich nicht beistehen oder einander gar schaden.
Darunter leiden Menschen. Vor allem die, die es nicht aus eigener Kraft schaffen, hinüberzuschwimmen, also den Abstand zu überbrücken. Sünde ist also keine Erfindung, sondern Realität des Alltages. Eine Realität, die Leben belastet oder sogar beenden kann.
Und Menschen, die nach ihren Wurzeln suchen und Gott finden, empfinden den Sund zwischen Gott und Mensch als besonders tragisch und schwerwiegend. Denn wer von seinen Wurzeln getrennt ist, dessen Leben ist nicht mehr viel wert. Wie soll man so weiterleben können?
Jesus aber hat uns durch sein Leben mit Gott die Augen geöffnet dafür, dass Gott uns nie aufgeben wird, egal wie breit der Sund zwischen ihm und uns auch wird. Jesus hat uns die Augen für die große Wahrheit geöffnet, die zum Beispiel schon beim Propheten Micha zu lesen ist. Schon über 750 Jahre BEVOR Jesus von Nazareth geboren wurde. Ich lese aus Kapitel 7 die Verse 18-20:
18 Wo ist solch ein Gott, wie du bist, der die Sünde vergibt und erlässt die Schuld denen, die geblieben sind als Rest seines Erbteils; der an seinem Zorn nicht ewig festhält, denn er hat Gefallen an Gnade! 19 Er wird sich unser wieder erbarmen, unsere Schuld unter die Füße treten und alle unsere Sünden in die Tiefen des Meeres werfen. 20 Du wirst Jakob die Treue halten und Abraham Gnade erweisen, wie du unsern Vätern vorzeiten geschworen hast.
Micha leidet schwer unter der Sünde, vor allem dem Abstand seines Volkes zu Gott. In Freiburg im Breisgau gibt es am Marienbrunnen eine Bronzetafel mit einem Michavers, der seinen Schmerz darüber auf den Punkt bringt. Er lässt Gott sprechen: „Mein Volk, was hab ich dir gethan? Oder was fiel dir schwer von mir? Antworte mir!“ (Micha 6,3)
Aber die Antwort bleibt aus. Statt dessen wird der Abstand zu Gott immer größer. Und zwangsläufig auch der Abstand zum Nächsten: Sie „planen Unheil“ und „gehen mit bösen Gedanken um auf ihrem Lager, dass sie es frühe, wenn’s licht wird, vollbringen, weil sie die Macht haben! Sie begehren Äcker und nehmen sie weg, Häuser und reißen sie an sich. So treiben sie Gewalt mit eines jeden Hause und mit eines jeden Erbe.“ (Micha 2, 1-2)
Sünde macht aus der Gesellschaft eine unmenschliche Gesellschaft. Sünde trennt den Menschen von seinen Wurzeln. Sünde ist keine Erfindung, Sünde ist Realität. Sünde liegt wie Mehltau auf dem Leben. Man kann sie nicht wie Plastikmüll dem Meer überlassen. Noch eine Sünde.
Doch Micha gibt nicht auf. Weil er erlebt, dass Gott nicht aufgibt. Gott vergibt Sünde. Er fordert Schuld nicht ein, er ERLÄSST sie. Gott wirft „alle unsere Sünden in die Tiefe des Meeres“. Ein Bild für Sicherheit:
So weit weg, dass sie unser Leben nicht mehr zerstören. 11 km misst das Meer an seiner tiefsten Stelle. So sicher, dass Sünde nie mehr an die Oberfläche des Lebens kommen kann: 1000 bar Druck halten sie dort unten fest. Nicht wie Plastikmüll, der nach oben treibt und Tiere und Menschen tötet.
Und Micha erlebt Gott nicht nur als den großzügigen Herrn, der Sünde vergibt und Schulden erlässt. Er erlebt ihn als den, der das Schöne im Menschen sieht und groß macht: Der GNADE liebt. Er erlebt Gott als den, dessen Liebe zu den Menschen unverbrüchlich ist: Treue hat Gott geschworen und Treue wird er halten. Tiefer kann Liebe nicht sein.
Meine Schwestern, meine Brüder:
„Jesus nimmt die Sünder an.“
Gott macht Ernst.
Er wird Mensch, tritt so nahe zu uns, wie es überhaupt nur geht.
Er geht ihnen nach, egal wie weit sie entfernt sind.
Erkennt, wie ihr Leben unter der Sünde Schaden nimmt. Liebt die Menschen, so wie er ihnen begegnet.
Liebt ihre Sünde weg. Versenkt sie an der Stelle, wo das Meer am tiefsten ist. Und hält sie dort fest, damit wir frei von Sünde werden und erleichtert ein neues Leben beginnen können.
„saget doch dies Trostwort allen.“
Je mehr Menschen erkennen, das Sünde keine Erfindung, sondern traurige Realität ist, die das Leben in Unheil stürzt, desto mehr werden sie erkennen, dass der Weg aus dem Dilemma der Spaltung der Weg der Liebe ist.
Liebe, die dem Menschen nachgeht und ihm hilft. Sich helfen lässt. Die Treue zusagt, treu ist und treu bleibt. Bei allem Hässlichen nicht nur den Blick für das Schöne behält, sondern das Schöne groß macht, so dass das Leben heil wird.
Sie werden die Größe des Taufgeschenkes entdecken,
so wie Jens heute:
Die Treue Gottes, die sein Leben vor Schaden behüten wird. Denn Gottes Treue wird Frieden, Freiheit und Freude in sein Leben fließen lassen.
Das ist wirklich ein starker Trost, für jeden von uns:
Die Liebe Gottes, die Gnade unseres Herrn Jesus Christus und die Gemeinschaft des Heiligen Geistes
nehmen der Sünde ihre Macht über unser Leben
und versenken sie in den Tiefen des Meeres.
AMEN