Die Sehnsucht auf das Eingreifen Gottes in festgefahrenem und von Gerechtigkeit fernem Leben – jede und jeder kennt sie. Und die gibt es nicht erst seit heute, sondern schon immer. Kraftvolle Worte hören wir aus Jesaja 63 ab dem 15. Vers (Lutherübersetzung):
„So schau nun vom Himmel/ und sieh herab von deiner heiligen, herrlichen Wohnung!/ Wo ist nun dein Eifer, /(wo) deine Macht? // Deine große, herzliche Barmherzigkeit/ (sie) hält sich hart gegen mich.// Bist du doch unser Vater; denn Abraham/ weiß von uns nichts, und/Israel / kennt uns nicht./ Du, HERR, bist unser Vater; »Unser Erlöser«, das ist von alters her dein Name.//
WARUM lässt du uns, HERR,/ abirren von deinen Wegen/ und unser Herz verstocken, dass wir dich nicht fürchten?/ Kehr zurück um deiner Knechte willen,/ um der Stämme willen, die dein Erbe sind! … sie (haben) dein heiliges Volk vertrieben, unsre Widersacher haben dein Heiligtum zertreten./ Wir sind geworden wie solche, über die du niemals herrschtest, wie Leute, über die dein Name nie genannt wurde.//
Ach //dass du den Himmel zerrissest und führest herab, dass die Berge vor dir zerflössen, wie Feuer Reisig entzündet und wie Feuer Wasser sieden macht,// dass dein Name kund würde unter deinen Feinden und die Völker vor dir zittern müssten, wenn du Furchtbares tust, das wir nicht erwarten – und führest herab, dass die Berge vor dir zerflössen! … Kein Ohr hat gehört, kein Auge hat gesehen einen Gott außer dir, der so wohl tut denen, die auf ihn harren.“
Sehnsucht- ein merkwürdig Ding. Wenn man sie hat, meint man zu leiden, und wenn man sie nicht hat, leidet man erst recht.
Ich habe das in der Stadt meiner Sehnsucht das erste Mal wirklich begriffen. Für mich ist die Stadt meiner Sehnsucht nicht Jerusalem (da ist es mir viel zu warm), sondern Stockholm.
Eine Stadt auf lauter Inseln im Meer, verbunden durch hunderte Brücken. Unzählige Türme von Rathaus und Kirchen. Schlösser und prachtvolle Häuser blitzen in der Sonne, und mittendrinn Schiffe, kleine und riesige, auf kleinen und großen Wasserflächen, mal spiegelnd, mal rau.
Nur ein paar Autominuten entfernt Mariefred – ein malerisches Städtchen mit weithin sichtbarem, leuchtend weißem Kirchturm.
Der Blick von der Kirche über die Fläche des Wassers, in dem sich das legendäre Schloss Gripsholm spiegelt, zieht mich jedes Mal in seinen Bann. Kein Stockholmbesuch ohne Mariefred, Marienfrieden.
Zurück in der Altstadt: Die deutsche Kaufmannskirche. Ihr Turm ragt aus den Dächern wie der Finger Gottes, kein Film über die Stadt, der ihn nicht zeigt. Zentrum der deutschen Gemeinde seit hunderten von Jahren, Ruhepol und ein Stück Heimat in der Ferne bei jedem Gang durch die schönen, eng- kuschligen Gässchen und breiten Straßen.
Wenn ich dort bin, fällt irgendwie alles von mir ab. Ärger wird vergessen, Ruhe zieht ein, die Seele tankt nach.
In DEM Augenblick aber vor einigen Jahren, als meine Frau und ich uns auf die Pfarrstelle dort bewarben, aber eben auch erst in diesem Augenblick und nicht früher, stellte sich plötzlich ein flaues Gefühl ein.
Was, wenn sie uns wirklich nehmen und wir hierher ziehen? Wo ist dann der Ort meiner Sehnsucht, von dem ich träume, wenn es um mich in Strömen regnet oder die Welt in schmutzigem Schnee versinkt?
Wie lange werde ich suchen müssen nach einem neuen Ort, mit neuem Licht, neuen Farben, diesem Punkt des Urlaubs für die Augen der Seele? Wo soll ich sie finden, mein neues Gripsholm, meine neue Heimat- Kirche in der Fremde?
Leben am Ort der Sehnsucht – man hätte gesehen, erreicht, ererbt, gefunden, was man erhofft. Es wäre zum Anfassen nah.
Ergriffen. Abgegriffen …
Ich bekam es mit der Angst. Angst davor, den Ort meiner Urlaubs -Sehnsucht an den Arbeits- Alltag zu verlieren und am Ende vielleicht keinen neuen Platz zu finden, der als Ort meiner Sehnsucht wirklich taugt.
Da hab ich für mich begriffen: In einer wirklich schönen Stadt lässt sich schlecht wohnen. Sie treibt einem die Sehnsucht aus. Und was wäre ich ohne Sehnsucht? Wäre ich nicht ohne die Sucht nach Leben?
Mit dem Advent ist das ähnlich. Diese Wochen der Erwartung
des glanzvollsten Festes unseres Jahres. Die Tage, in denen uns Klarheit werden soll darüber, warum Gott Mensch wurde, werden muss – heute, in dieser Welt, in der WIR leben.
Advent – Stunden der Sehnsucht, ohne die Weihnachten verkommen würde
zu einer Fress- und Partymeile, verwechselbar, austauschbar, anrechenbar auf das nächste Loch in der nächsten Versicherung.
Ach, dass du den Himmel zerrissest und führest herab!
Diesen Ruf der Gottessehnsucht hören wir in unserer Predigt vom dritten Jesaja. Angesichts der Zerstörung des Tempels 586 vor Christi Geburt trauert das Volk um das Verlorene. Und damit auch um eigenes Versagen, eigene Schuld.
Bis zur Grenze des Erträglichen leidet die Gemeinde an Gott. Und doch ist es für sie keine Frage, dass GOTT es ist, der seine Hand über allem hält, was geschieht.
Die Sehnsucht lebt, Gott selbst möge aus den Himmeln herabfahren und die Menschen zur Einsicht des Lebens bringen. Damit ihnen geholfen würde. Endlich.
Darum verstummen auch die Fragen nicht. Warum sich Menschen das Leben schwer machen, sich selbst oder gegenseitig. Warum sie sich das Leben zur Last machen oder gar nehmen. Sie verstummt nicht, die Frage nach dem Warum von Sinnlosigkeit, Schmerz, Zerstörung.
Gerade DIE Menschen stellen sie immer wieder, die die Nähe suchen zur Botschaft des Gottes Abrahams, Sarahs, Marias oder des Paulus. Gerade sie hören nicht auf zu fragen.
Menschen, die sich der Faszination seiner Botschaft nicht entziehen können, gerade sie leiden an der Welt, so wie sie ist.
Sie zweifeln an Gott, aber verzweifeln nicht an ihm. Die Sucht des Sehnens: Wie kann man Gott verstehen, wie kann man ihm nahe kommen, wie ihn nahe kommen lassen? Wie, endlich?
Liebe Gemeinde, ist denn nicht auch unser Tempel zerstört? Mehr noch als die Johanniskirche? Von Herrn Doktor Heinz Rudolf Kunze war auf einem seiner Konzerte zu hören:
„Die Kirchen können dichtmachen.
Bald kann kein Deutscher unter 70 Jahren
mehr einfachste Fragen zur Bibel beantworten.“
In mir keimt die Furcht, er könne Recht haben. Irgendwann.
Meine Sehnsucht: Warum fällt Gott dem nicht in den Arm?
Warum ist Gott den Menschen nicht in die Arme gefallen, als sie anfingen, sein Weihnachts- Kommen zu missbrauchen für ihre Gefühle, ihre Geschäfte, ihre Schein-Gemütlichkeit?
Warum greift Gott nicht ein, wo in seinem Advent nur noch gemütliche, stimmungsvolle Feiern stattfinden, die Einsamen immer einsamer werden, wo immer mehr Menschen vor lauter Feiertagsstress einander nicht mehr wahrnehmen können?
Warum greift Gott nicht ein, wo Menschen nur noch warten auf WEIHNACHTEN, aber nicht mehr auf den HERRN der Weihnacht?
Auf Gott, der Mensch geworden ist, und Gott, der versprochen hat, wiederzukommen?
„Wo bleibst du, Trost der ganzen Welt?“ (EG 7, 4)
Meine Schwestern, meine Brüder:
Es geht hier nicht einfach um Klage, schon gar nicht um Gemecker. Es geht darum, die richtigen Fragen zu stellen.
Laut.
Fragen, die aufrütteln, wachrütteln.
Denn mit diesen Fragen wird Gott alarmiert, dass der Mensch vom Nichts bedroht ist. Diese Fragen sind richtig, will sie dazu führen können, das einzige zu ändern, was man wirklich ändern kann: Das eigene Leben.
Jeder und jede braucht sie darum, die schönen Farben am Horizont. Die Aussicht auf die Liebe, die bleibt. Bedingungslos, grenzenlos, ja radikal. So groß, dass sie in der Krippe liegt. Jedes Jahr wieder. Bis man sie endlich nicht nur sieht, sondern findet.
Sehnsucht: Sie ist nichts, worauf wir notfalls verzichten können.
Jeder braucht sein Stockholm irgendwo, damit der die Stunden ohne Licht und die Tage im schmutzigen Schnee übersteht.
Saint-Exupery hat diese Wahrheit in das Bild vom Schiffbau verpackt:
Wenn Du ein Schiff bauen willst, dann trommle nicht Menschen zusammen, um Holz zu beschaffen, Aufgaben zu vergeben
und die Arbeit einzuteilen.
Sondern lehre die Menschen die Sehnsucht nach dem weiten, endlosen Meer.
Advent: Sehnsucht wecken, Sehnsucht am Leben halten.
Wenn das gelingt, wird Kraft freigesetzt.
Kraft, die ein Schiff entstehen lassen kann.
Kraft, die das eigene Leben ändern wird.
O Heiland, reiß die Himmel auf. (EG 7, 1)
Dieses Lied schrieb Friedrich von Spee. Er war Jesuitenpater und einer der schärfsten Gegner der Hexenprozesse seiner Zeit. Die Sehnsucht auf den Advent Gottes ließ ihn Klarheit finden. Klarheit, was er in seinem Leben tun konnte, um anderen den Himmel Gottes offen zu halten.
O Heiland, reiß die Himmel auf:
Diese Adventszeit wird uns die GOTTESSEHNSUCHT ins Herz schreiben. Sehnsucht, die uns finden lassen wird:
Den Frieden Gottes, der größer ist, als all unsere Vernunft.
Er bewahrt unsere Leiber und Seelen in Christus Jesus. Amen.