Der komplette Gottesdienst kann hier für vierzehn Tage nachgehört werden:
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Palmsonntag
so ist diese Welt
gestern, morgen
Hände
schwingen Palmzweige
ballen sich zur Faust
Münder
rufen Hosianna
schreien kreuzige ihn
immer
Doch
Jesu Weg in das Dunkel des Menschseins
wird zum Weg Gottes
zum Licht der Welt
ewig
Der Menschensohn muss erhöht werden,
auf dass alle, die an ihn glauben,
das ewige Leben haben.
Joh 3,14b.15
***
„Die könnten sich auch mal was neues einfallen lassen…“ – so ein etwas lustloser Kommentar zum heutigen Bibeltext beim Bibelgespräch vorgestern. Ja, ich dachte das auch gleich beim ersten Lesen: Hatten wir das nicht gerade? Ist das nicht erst ein paar Wochen her?
Meine Erinnerung trügt allerdings wenigstens zum Teil. Die Fassung des Tagesevangeliums vom 1. Advent war die Version des Matthäus, die für den Palmsonntag heute ist die nach Johannes.
Doch so interessant die Unterschiede beider Texte auch sein mögen, wird eine andere Frage für mich heute viel drängender: Dieser „Einzug Jesu in Jerusalem“ – was ist das eigentlich, worum geht es in dieser Szene? Was passiert da mit und unter Menschen?
Beim Nachdenken darüber ist mir ein Bericht meiner Eltern über ihre Rom-Reise eingefallen. Sie erzählten mir dabei auch von der Besichtigung antiker Triumphbögen in der Stadt.
Der Titusbogen hatte sie besonders beeindruckt – offenbar nach fast 2000 Jahren immer noch sehr gut erhalten. Seine reichen Verzierungen waren ursprünglich Kulisse für Triumphzüge, die prachtvoll und unter großem Jubel durch sie hindurch führten.
Flavius Josephus, ein junger Priester aus Jerusalem, war nach seiner Verteidigung Galiläas während des Jüdischen Krieges im Jahr 67 in römische Sklaverei geraten, wurde aber aus der Sklaverei entlassen. Er bekam römisches Bürgerrecht und wurde zu einem wichtigen Geschichtsschreiber im römischen Reich. Von ihm ist über den Triumphzug zu lesen:
„Es ist unmöglich, die Mannigfaltigkeit dieses Schauspiels und die Pracht in jeder Hinsicht, sei es in Bezug auf die Kunst der Werke oder auf Reichtum und Seltenheiten, zu beschreiben.
ALLES, was JE Menschen EINZELN besaßen, und was nur selten und kostbar ist, schien an jenem Tage vereinigt, um die Größe des römischen Reichs zu zeigen. Schmuck von Gold, Silber und Elfenbein sah man hier in allen Gestalten, nicht bloß etwa als einzelne Prunkstücke des Festzuges, sondern wie in einem Strom dahinfließend.
Gewänder, teils mit dem feinsten Purpur getränkt, teils mit babylonischer Kunst aufs sorgfältigste ausgestickt, schimmernde Edelsteine in goldene Kronen gefügt oder in anderen Fassungen, dass man es für Irrtum ansah, solche Dinge noch für SELTEN zu halten.
Besonders herrlich waren die Soldaten geschmückt, die an der Ehre des Triumphes teilnehmen durften… Die ganze Stadt Rom feierte diesen Tag als Dankfest für den glücklich beendeten Feldzug, und für die SCHÖNSTEN Hoffnungen auf KÜNFTIGES Glück.“
Soweit Josephus. (gekürzt aus: Henry Vollam Morton: Rom. München 1981)
Der Titusbogen, der heute in Rom zu bewundern ist, wurde kurz NACH dessen Tod zu EHREN des Titus und seiner proklamierten AUFNAHME UNTER DIE GÖTTER durch seinem Bruder errichtet.
Seine reichhaltige Verzierung, auch die Verwendung von Beutestücken aus Jerusalem, lassen heute noch erahnen, welche Pracht auch der Triumphzug gehabt haben muss, der sich anlässlich des Sieges der Römer und die Zerstörung Jerusalems durch Rom ergoss.
Die Römer haben freilich weder den Triumphbogen noch den Triumphzug selbst erfunden. Solche Bauten und Siegesparaden gab es schon vor ihnen, und es gibt sie über die ganze Welt verteilt bis heute. Kleinere und größere.
Und von einem solchen Triumphzug, nämlich den angesichts des Einzuges Jesu in Jerusalem, reden auch unsere vier Evangelisten. Johannes beschreibt den im heutigen Tagesevangelium so (Kap. 12, 12-19):
12 Als am nächsten Tag die große Menge, die aufs Fest gekommen war, hörte, dass Jesus nach Jerusalem kommen werde,
13 nahmen sie Palmzweige und gingen hinaus ihm entgegen und schrien: Hosianna! Gelobt sei, der da kommt im Namen des Herrn, der König von Israel!
14 Jesus aber fand einen jungen Esel und setzte sich darauf, wie geschrieben steht (Sacharja 9,9):
15 “Fürchte dich nicht, du Tochter Zion! Siehe, dein König kommt und reitet auf einem Eselsfüllen.”
16 Das verstanden seine Jünger zuerst nicht; doch als Jesus verherrlicht war, da dachten sie daran, dass dies von ihm geschrieben stand und man so an ihm getan hatte.
17 Die Menge aber, die bei ihm war, als er Lazarus aus dem Grabe rief und von den Toten auferweckte, bezeugte die Tat.
18 Darum ging ihm auch die Menge entgegen, weil sie hörte, er habe dieses Zeichen getan.
19 Die Pharisäer aber sprachen untereinander: Ihr seht, dass ihr nichts ausrichtet; siehe, alle Welt läuft ihm nach.
Das, was Johannes und die anderen Evangelisten hier schildern, ist ein Politikum: Es ist ein Triumphzug der kleinen Leute, die auf ihre Weise einen Herrschaftsanspruch deutlich machen.
Jesus selbst liefert ihnen eine Vorlage. Denn er geht nicht zu Fuß mit seinen Jüngern durch die Tore der Heiligen Stadt. Er hat sich eigens dazu einen jungen Esel besorgen lassen. Und die Symbolik seines Rittes auf diesem Esel ist für die Menschen damals ohne Zweifel deutlich erkennbar.
Als Kaiser Wilhelm II. vor knapp 150 Jahren zur Eröffnung „seiner“ Erlöserkirche nach Jerusalem kommt, reitet er auf einem Pferd ein. Das Pferd – ein stolzes, schönes Tier. Immer schon ein Symbol der Macht, voller ungezügelter Energie, Geschwindigkeit, Dynamik. Darum diente es auch dem Kriegshandwerk.
Jesus aber kam einst auf einem Esel. Esel und Maultiere, die Kreuzungen zwischen Pferden und Eseln, könnte man bestenfalls hinter der Front einsetzen. Sie gelten manchem Menschen als störrisch, sind aber in Wirklichkeit umsichtig und bedächtig.
Sie haben einen Sicherheitsinstinkt, der sich sehen lassen kann. Die Bibel berichtet uns auch davon: Der Seher Bileam muss so lernen, dass sein Esel ihm einiges an Weitsicht voraushat. Esel und Maultiere bleiben stehen, wenn sie Gefahr wittern, und suchen einen guten Weg zum Weitergehen. Sowas kann ein Kämpfer in der Schlacht allerdings nicht gebrauchen.
Jesus reitet nun biblisch auf einem Esel wie damals Salomo auf dem Maultier Davids.
Die Erbschleicher wollten das Erbe erschleichen, nämlich den Thron des greisen Königs. Doch David ist zwar alt, aber nicht besiegt. ER wird bestimmen, wer ihn beerbt. Er weiß, wer seinem Reich gut tut. Das Volk bekommt seine Entscheidung zu SEHEN, und es sieht:
Auf dem königlichen Maultier sitzt der wahre Thronfolger. Das Volk sieht und begreift und ruft: Es lebe der König Salomo! „Und das Volk blies mit Flöten und war sehr fröhlich,
so dass die Erde vor ihrem Geschrei erbebte.“
Auch das ein Triumphzug. Israel erlebt unter diesem König die größte Blüte und nur wenige Kriege. Es erklimmt den Höhepunkt seiner Geschichte.
Jesus reitet in Jerusalem ein – der Herrscher aus dem Geschlechte Davids kommt auf einem Esel daher. DAS macht den Unterschied zu den Herrschern aus dem Geschlechte der Menschheit.
Dieser Einzig Jesu entwickelt sich nun zu einem großen Spektakel, dem viele Menschen beiwohnen. Denn Jerusalem bereitet sich auf das Passahfest vor.
Auf dem Weg zum Passahfest nach Jerusalem waren viele, sehr viele. Denn das größte Fest im Jahreskreis will gefeiert werden. Jerusalem feiert die Befreiung aus der Knechtschaft durch seinen Herrn der Heerscharen, den Auszug aus Ägypten vor langer Zeit.
Wer will da schon fehlen, wenn man ohne Urlaub Urlaub haben kann. Freitag, Sonnabend, Sonntag, Montag. Vier Tage am Stück, zwei Arbeitstage gratis frei. Johannes schreibt, es waren diesmal besonders viele, denn im Gefolge Jesu kamen auch all die, die Zeigen der Auferweckung des Lazarus gewesen waren.
Und diese vielen Menschen demonstrieren nun spontan und plötzlich. Grüne Palmzweige tragen sie vor sich her. Die Symbole des Laubhüttenfestes, das sieben Tage lang gefeiert wird. Symbole der Hoffnung, Zeichen des Lebens und der Sehnsucht nach Freiheit.
Palmzweige sind Transparente ohne Aufschrift, manifestierter Willen, den auch ohne Buchstaben auskommt. Eine eindrucksvolle Demonstration, die Palme SELBST demonstriert: Frieden, Leben, Freiheit! Aber dem Volk reicht das noch nicht, sie rufen: „Hosianna! Gelobt sei, der da kommt im Namen des Herrn, der König von Israel!“
Jesus weiß:
Dieser Besuch in Jerusalem wird sein letzter sein.
Das Volk aber weiß das nicht.
Selbst die Jünger nicht, vielleicht, weil sie es nicht wissen wollen.
Aber das ist offenbar allen Triumphzügen irgendwie eigen: Das, was Josephus als „die schönsten Hoffnungen auf künftiges Glück“ bezeichnet, liegt eben hinter der Grenze von allem, was der Mensch weiß, wissen oder erzwingen kann.
Als ich vor Jahren zu einem Besuch in Kiew war, lernte ich da ein ukrainisches Sprichwort kennen: „Wenn die Fahne fliegt, ist der Verstand in der Trompete“. Das hat mich sehr beeindruckt, weil ich finde, dass es eine komplizierte Wahrheit auf einen einfachen Punkt bringt:
Wenn der Funke der Begeisterung überspringt, verlässt der Verstand den Kopf des Menschen und wird mit einem lauten Ton herausgeblasen. Nur so ist es doch zum Beispiel erklärbar, dass Menschen auf die unsinnigste Frage der Menschheit: „Wollt ihr den totalen Krieg“? in ein frenetisches „Ja!“ – Gebrülle ausbrechen.
Auch die Ukrainer haben Ähnliches in ihrer Geschichte erleben müssen, gerade unter russischer Herrschaft. So wurde Stalins Tod auch von solchen Ukrainern laut und herzzerreißend betrauert, die durch seine Schreckensherrschaft nicht nur alles Hab und Gut, sondern sogar Familienangehörige verloren hatten, weil Stalin sie hatte ermorden lassen.
„Wenn die Fahne fliegt, ist der Verstand in der Trompete“: Triumphzüge kann man also als Inszenierungen von Grenzerfahrungen erkennen. Egal, ob auf einer Parade auf dem roten Platz vor dem Kreml oder nach einer gewonnenen Schlacht im Fußballstadion.
So eindrucksvoll und prächtig diese Züge auch immer sein, wie viel Gänsehaut sie einem auch bereiten mögen:
Sie treiben einem auch den Schrecken in alle Glieder. Grenzen des menschlichen Verstandes werden erreicht und zwingen zu einer Entscheidung.
Manche bleiben vor diesen Grenzen stehen, wie der Esel, der Gefahr wittert und lieber länger überlegt, bevor er weitergeht. Manche aber stürmen einfach weiter wie Pferde in die Schlacht.
Meine Schwestern, meine Brüder:
Dieser Schreck über die Erfahrung der eigenen Grenzen fährt auch den Pharisäern in die Glieder. Und wer erschreckt, der darf auch schon einmal übertreiben: „Siehe, alle Welt läuft ihm nach!“
Sie sprechen in diesem Satz – vielleicht ganz unbewusst – dasselbe aus, was das Bild vom Verstand in der Trompete meint. Es ist die Erfahrung von der eigenen Begrenztheit des Lebens.
Wir alle erleben diese Grenzen, manche seltener, manche mehrmals am Tag:
Diese Grenze der unbedingten und unfassbaren Schönheit des Lebens auf dieser Welt.
Auf der anderen Seite der Grenze aber ist all das, was wir zwar mit eigenen Augen sehen, mit eigenen Ohren hören und an jeder Faser unseres Körpers spüren. Denn genau diese wunderbare Erde ist auch Herberge von Grausamkeit, Ungerechtigkeit oder Unberechenbarkeit und in der Folge dessen ein Ort des Leides, dass keine Grenzen zu kennen scheint.
Ohnmacht und das Verzweifeln am Leben können folgen. Warum tue ich, was ich gar nicht tun wollte? Warum erreiche ich nicht, was ich erreichen will? Warum kann ich nicht verstehen, was ich doch verstehen will?
Egal ob der Tod eines nahen Menschen oder die Unfähigkeit, die Tafel Schokolade nicht aufzuessen, egal ob in Freundschaft, Partnerschaft, der Berufswelt oder in der Kirche selbst: Überall müssen wir stehen bleiben und machen neue Grenzerfahrungen.
Und während die einen angesichts dieser Erfahrungen diese Grenzen überschreiten, eher wie ein Pferd, voller Tatendrang, stehen andere davor eher wie ein Esel: Vorsichtig und nachdenklich.
Ich bin eher vorsichtig und nachdenklich. Sicher: Wer nicht wagt, der gewinnt auch nichts. Aber ich verstehe an jedem Tag neu, dass der einzige Mensch, den ich beherrschen könnte, ich selbst bin. Dass die Versuche, irgendetwas oder irgendjemanden außer mir selbst beherrschen zu wollen, immer und immer neu zum Scheitern verurteilt sind.
Spätestens, wenn ich wieder einmal die Selbstbeherrschung verliere, wenn ich gegen alles Wissen und jede meiner Überzeugungen zornig werde oder es nicht bei einem Schokolade bleibt, sondern die ganze Tafel dran glauben muss: Spätestens dann weiß ich wieder, wie viel Ausdauer und Energie es mich kostet, wenn ich NUR MICH SELBST beherrschen wöllte.
Und doch wünsche ich mir, so vieles zu ändern. Ich wünsche mir, dem Menschen neben mir zu zeigen, wie er glücklich werden kann; ich will den menschengemachten Teil des Klimawandels aufhalten, ich will Krankheiten besiegen, ich will Ungerechtigkeit beim Namen nennen, kein Teil von Grausamkeit werden, ich will viel und mehr und alles, und weiß doch:
Nichts von dem kann ich.
Darum glaube ich auch, dass ich mir die Schönheit der Welt nur vor ihrer Grausamkeit bewahren kann, wenn ich mir dieser Grenzen bewusst werde. Auch begreife, dass meine Grenzen nicht deine Grenzen sind, und ich darum nur EIGENE Grenzentscheidungen treffen kann.
Und ich glaube auch: Ohne die Grenzüberschreitungen Gottes würde ich nie die Kraft dazu haben. Nur in der Hoffnung auf die Grenzüberschreitungen Gottes kann ich selbst mein Glück finden.
Gott überschreitet die Grenzen von Raum und Zeit und wird Mensch wie ich.
Jesus durchreitet die Grenzen Jerusalems und geht durch die Tiefe des Leides, so wie auch die Menschheit durch die Tiefe des Leides geht und gehen wird.
Die Pharisäer dagegen warten ab, bis die Lage sich beruhigt hat, und tragen mit dazu bei, dass der Sohn Gottes am Kreuz festgenagelt wird.
Wenn sie wenigstens dann angehalten hätten und wie ein Esel nachdenklich geworden wären, hätten sie die einzige Macht erkennen können, die in der Lage ist, dieses Leben nicht nur zu ertragen, sondern selig zu führen: Die Macht der Gottesliebe am Ostertag.
Wer weiß, vielleicht haben sie diese Grenzerfahrung ja gemacht. Ich wünschte sie ihnen von ganzem Herzen.
Die Liebe Gottes, die Gnade unseres Herrn Jesus Christus und die Gemeinschaft des Heiligen Geistes sind es doch,
die die Grenzen menschlicher Unzulänglichkeit überschreiten und erträglich machen. SIE bewahren unsere Leiber und Seelen. AMEN