Urteile
das ist gut
das ist verwerflich
gehen leicht über die Lippen
Das Urteil aber liegt allein bei Gott
er öffnet uns Augen und Herzen
Vergebung ist es
die Leben schafft
Einer trage des anderen Last,
so werdet ihr das Gesetz Christi erfüllen.
(Gal 6,2)
***
Sie leben in einem ruhigen Wohngebiet am Rande einer kleinen Stadt. Die Familie ist allgemein bekannt; wer hat schon in diesen Zeiten noch fünf Kinder! An einem Mittwoch Morgen erwacht der Jüngste und freut sich: Heute hat er Geburtstag, er wird so alt, wie eine Hand Finger hat. Also, mit dem Daumen, versteht sich.
Er schüttelt seinen Traum ab und steht auf, geht schnell ins Bad, zieht sich an. Dazu braucht er schon lange keine Hilfe mehr. Als er dann in die Küche kommt, ist die ganze Familie schon versammelt. Er bekommt seinen Lieblingskuchen, fünf Kerzen sind darauf, die bläst er aus. Nur die Taufkerze, die lässt er brennen.
Alle gratulieren ihm zum Geburtstag. Er bekommt Geschenke, einen Tyrannosaurus Rex und eine Lok für seine Lego-Bahn. Alle umarmen ihn, die Geschwister verschwinden dann mit Sack und Pack zur Schule, auch der Vater muss in den Betrieb.
Die Mutter arbeitet von zuhause aus. Als sie sich eine Stunde später im Haus umsieht, ist auch der Jüngste verschwunden. Das beunruhigt sie nicht, hier im Viertel kann nicht viel passieren. Als sie ihn eine Stunde später wieder sieht, fragt sie: „Na, wo bist Du denn gewesen?“ Er strahlt: „Ich war unterwegs und hab’ zu allen ‚Herzlichen Glückwunsch’ gesagt.“
So wohl hatte er sich gefühlt, als ihm alle gratulierten. Und was er selbst genossen hatte, dass wollte er allen anderen jetzt auch gönnen. Auch die Mutter lächelt und denkt: Das muss ich mir merken. Und hat es mir später erzählt.
Es gibt das wirklich: Ein untrügliches Gespür für einen wirklich schönen Umgang miteinander. Der gerade Fünfjährige hatte dieses Gespür, und je länger ich nachdenke, glaube ich: Nicht nur er.
Eigentlich müsste man das bei jedem Menschen voraussetzen können. Es ist eine Regel, schlicht und unspektakulär. Die „goldene Regel“ im Umgang miteinander, die Jesus nach dem Evangelisten Lukas Kapitel 6 ab Vers 36 in diese Worte gefasst hat:
36 Seid barmherzig, wie auch euer Vater barmherzig ist. 37 Und richtet nicht, so werdet ihr auch nicht gerichtet. Verdammt nicht, so werdet ihr nicht verdammt. Vergebt, so wird euch vergeben.
38 Gebt, so wird euch gegeben. Ein volles, gedrücktes, gerütteltes und überfließendes Maß wird man in euren Schoß geben; denn eben mit dem Maß, mit dem ihr messt, wird man euch zumessen.
Ein volles, gedrücktes, gerütteltes, überfließendes Maß: Hier wird nicht geschummelt, eher großzügig aufgerundet. Dieses übervolle Maß wird man in euren Schoß geben – mich erinnert das an das Grimmsche Märchen von den Sterntalern.
Erinnern Sie sich auch noch? Da ist ein kleines Mädchen, obdachlos und ohne Eltern. Als es nichts mehr zu essen hat, macht es sich auf den Weg, voll Vertrauen auf Gott, wie zu lesen ist. Dann aber trifft das Mädchen seinerseits auf Menschen, die es um Hilfe bitten.
Das Mädchen überlegt nicht lang. Es gibt Stück für Stück alles weg, was es noch hat. Das letzte Stück Brot, seine Mütze, dann seine Jacke, weil ein anderes Kind nichts anzuziehen hat. Schließlich gibt es sogar sein Unterhemd weg.
Als man kaum noch weiterlesen mag, geschieht ein Wunder: Vom klaren Nachthimmel fallen Sterne herunter, als goldene Taler. Sogar ein neues Hemd fällt dem Mädchen über den Kopf, in das es all die goldenen Taler einsammeln kann.
Und die Brüder Grimm lassen das Märchen mit den Worten enden: „Da sammelte es sich die Taler hinein und war reich für sein Lebtag.“
Wie ist das gemeint? Die Gebrüder Grimm nennen das Kind im Märchen zu Recht „fromm“, denn es hat ganz offensichtlich die Regel Jesu gelebt: Gebt, so wird euch gegeben. Ein volles, gedrücktes, gerütteltes und überfließendes Maß wird man in euren Schoß geben; denn eben mit dem Maß, mit dem ihr messt, wird man euch zumessen.
Wenn das Sterntaler-Kind nun dieser Regel und sich selbst treu geblieben ist, wird es wohl alles schon wieder verschenkt haben, bevor die nächste Woche vergangen ist. Doch genau so wahrscheinlich NEUE Wunder erleben. Großzügig geben und wunderbar erleben, dass es einem dennoch an nichts fehlt, und das „für sein Lebtag“: Das ist eine ganz besondere Art von Reichtum, die hier durchscheint.
Zwei Kinder, die zeigen, wie es sein könnte. Menschen, die aus Gottes Himmel reich beschenkt sind. Denen alles in den Schoß gefallen ist und die deshalb einfach schenken können. Die für diesen Tag ausgesorgt haben und darum aus dem Vollen schöpfen.
Nur: Auch Kinder werden älter. Gerade die Lehrer an den Schulen HEUTE können ein trauriges Lied davon singen. Und wer älter wird, wird lernen: Die Maßstäbe des Himmels sind nicht die Allerweltsmaßstäbe des Alltages.
Darum ist die Barmherzigkeit, die Jesus seinen Jüngern hier nahe zu bringen versucht, keineswegs risikofrei. Menschen, die versuchen, ihr Leben mit dem Augenmaß Gottes anzugehen, sind daher schon immer selten anzutreffen. Wer barmherzig, nachsichtig, freundlich und freigiebig ist, fällt nicht nur auf wie ein bunter Hund. Er wird auch auf Menschen treffen, die seine Großzügigkeit ausnutzen oder ihm gar schaden wollen.
Im Alltag ist darum meist ein anderes Verhalten zu erleben: Das gegenseitige Maßnehmen, das Nachrechnen, das schnelle Urteilen. „Man“ „weiß“ meist sehr genau, was „gut“ und was „schlecht“ ist. Und mit diesem Wissen hält kaum einer lange hinter dem Berg. Vor allem hinter dem Rücken des Betreffenden nicht.
Dabei entsteht ein zwischenmenschliches Klima, in dem man einander mit Misstrauen oder falscher Freundlichkeit begegnet. In der Hoffnung, SELBST Vorteile zu erlangen, bevor man selbst übervorteilt würde. Wer aber fühlt sich in einem solchen Klima wirklich wohl?
Darum will Jesus hier seinen Jüngern ein anderes Miteinander nahe bringen. Menschen haben doch nach himmlischen Maßstäben ausgesorgt. Sie können aus dem Vollen schöpfen. Sie gehen die Dinge mit dem Augenmaß der Barmherzigkeit Gottes an und richten sich nicht nach den Spielregeln des Alltags.
Gott ist freigiebig, gerecht und freundlich, und seine Menschen können das auch sein: Freigiebig, gerecht und freundlich. Das Urteilen überlassen sie den Gerichten. Die sind als Arm des Staates dazu da. Denn Menschen, die selbst den Bogen der Alltagsregeln überspannen und anderen schaden, gibt es immer. Gottes Menschen aber haben das nicht nötig.
Schon die Jünger werden aber Zweifel gehabt haben. Zu oft haben sie hungern müssen, wenn das Tagewerk nicht gelang. Teuer bezahlen müssen für Fehler, die sie vielleicht nicht einmal selbst verschuldet hatten. Waren die Bettler am Wegesrand nicht ständige Erinnerung daran, wo das Leben hinführen kann: An den Rand der Gesellschaft, gemieden und ausgegrenzt?
Haben wir denn wirklich ausgesorgt oder müssen wir nicht Tag für Tag dafür arbeiten, dass auch der nächste Tag ein guter Tag für uns werden möge? Und kann man in diesem Bemühen wirklich freigiebig, gerecht und freundlich sein? Muss man sich nicht doch zur Wehr setzen gegen die, die gerade das nicht sind?
Jesus, glaubst du selbst, dass das funktionieren kann, was du uns da als Lebensrichtung vorgibst?
Vielleicht haben sie Jesus laut widersprochen, davon schreibt Lukas aber nichts. In jedem Falle aber wusste Jesus, wie skeptisch seiner Jünger waren. So lesen wir bei Lukas weiter:
39 (JESUS) sagte ihnen aber auch ein Gleichnis: Kann denn ein Blinder einem Blinden den Weg weisen? Werden sie nicht alle beide in die Grube fallen?
40 Ein Jünger steht nicht über dem Meister; wer aber alles gelernt hat, der ist wie sein Meister.
41 Was siehst du den Splitter in deines Bruders Auge, aber den Balken im eigenen Auge nimmst du nicht wahr?
42 Wie kannst du sagen zu deinem Bruder: Halt still, Bruder, ich will dir den Splitter aus deinem Auge ziehen, und du siehst selbst nicht den Balken in deinem Auge? Du Heuchler, zieh zuerst den Balken aus deinem Auge, danach kannst du sehen und den Splitter aus deines Bruders Auge ziehen.
So die Verse 39-42.
Ein Blinder sieht nicht mehr als ein anderer Blinder. Er kann den anderen nicht auf einen besseren Weg führen, weil er den gar nicht sehen kann. Ihr aber könnt doch sehen, dass der Weg, auf dem ihr seid, in die Grube führt: Wollt ihr nun sehenden Auges hineinstolpern und euch die Knochen brechen?
Seid ihr nicht mit mir gegangen um von mir zu LERNEN? Meint ihr wirklich schon vorher zu wissen, dass euch meine Lektion nicht um die Grube herumführen kann, vor der ihr steht? Seid ihr wirklich klüger als ich, nur weil ihr euer bisheriges Leben als Argument dafür anführt, dass das Leben nun einmal ist, wie es ist?
Wenn ihr mich als euren Herrn und Meister bezeichnet, und wenn ich euch eine himmlische Regel beschreibe und sage: Ändert euer zwischenmenschliches Verhalten! -wieso sagt ihr dann einfach: Wir sind klüger als der Meister, das funktioniert doch nie, die anderen spielen doch eh nicht mit!?
Wie könnt ihr den Splitter aus deren Augen herausziehen wollen, wenn ihr den Balken im eigenen Auge nicht mal wahrnehmt?
Der Balken, der euch alle Sicht verstellt und glauben lässt, alles müsse so bleiben wie es ist?
Meine Schwestern, meine Brüder:
Wenn es einfach wäre, an der Börse Millionen zu verdienen oder mit einer Geschäftsidee reich zu werden, würde es auch jeder machen. Aber es ist nicht einfach.
Wenn es einfach wäre, Reichtum so zu haben, als sei er nicht persönliches Eigentum, sondern das Vermögen aller, das klug verwaltet werden muss, dann würde es Menschen, die Mangel oder Hunger leiden müssen, nicht geben. Aber es ist nicht einfach.
Wenn es einfach wäre, sein persönliches Verhältnis zu Reichtum und Besitz zu ändern, würden wir nicht Tag für Tag Menschen treffen, die andere übervorteilen und uns selbst einreden, wir selbst müssten wachsam und ängstlich zusammenhalten, was uns gehört. Aber es ist nicht einfach.
Wenn es einfach wäre zu sehen, dass ein oder vielleicht sogar das größte Problem menschlichen Zusammenlebens ihr persönliches Verhältnis zum Besitz ist, würden wir in einer noch schöneren Welt leben, in der Solidarität keine Forderung, sondern Realität wäre. Aber es ist nicht einfach.
Denn da ist der Balken im Auge. Im eigenen. Der die Sicht auf den Ausweg versperrt.
Und Jesus sagt: Schleppt ihn da weg. Dann habt ihr den Blick frei, um die Grube zu sehen, auf die ihr zusteuert. Und dann: Ändert euren Umgang mit Besitz. Gebt, was ihr geben könnt, und ihr werdet sehen, wie das Leben für alle leichter und schöner wird, weil ihr nichts verliert, sondern gewinnt.
JEDER hat aus dem Überfluss zu geben, denkt an die Kinder von Beginn: Vom einfachen „herzlichen Glückwunsch“ bis zu den Goldtalern.
Und jeder kann nehmen, was er braucht oder gern hätte, denn es IST Überfluss an allem. Und wir Menschen SIND klug genug, dies gut und gerecht zu verwalten.
Dann spielt sich auch kaum jemand zum Richter über andere auf. Denn Barmherzigkeit sieht, was der andere zu seinem Glück nötig hat. Man sieht in den Nächsten Geschwister und weiß: Alle haben ihre Lebenslast zu tragen. Und fragt: Wie kann ich dabei helfen?
Größeren Streit, vor allem den über Besitz, überlässt man den Gerichten für die Fälle, bei denen es wirklich nicht ohne Richter geht.
Im Neuen Testament ist vor allem in der Apostelgeschichte zu lesen, dass das in den ersten Gemeinden auch funktioniert haben soll. Und ich bin mir sicher: Auch unsere kleine Gemeinde hat das Zeug dazu, dass das funktionieren kann.
Dazu müssten wir allerdings etwas wachsamer sein, wenn wir uns begegnen, das Zuhören besser üben. Oft eigenen Stolz oder Scham oder Streitsucht beiseite lassen und offener sagen, wo wir Gemeinschaft, Hilfe oder andere Entlastung nötig haben.
So würden wir den Balken wegräumen können der uns die Sicht auf die Wege Jesu versperrt. So würde besser mit uns werden. Zuerst in der Gemeinde, dann aber auch für all die „draußen“, die uns auf ihrem Lebensweg begegnen.
Die Liebe Gottes, die Gnade unseres Herrn Jesus Christus und die Gemeinschaft des Heiligen Geistes sei mit euch allen.
Herzlichen Glückwunsch! AMEN