Ein Augenblick ändert alles (Lk 13 10-17)

Unser Gottesdienst am 12. Sonntag nach Trinitatis zum Nachhören ist für vier Wochen hier zu finden.

Ich will raus
raus aus diesem Leben
in wem steckt er nicht, dieser Schrei
raus aus dem Alltag
seinen Regeln
oft engstirnig
seinen Unveränderlichkeiten
die man doch ändern könnte
seiner Ungerechtigkeit
die nicht gottgegeben ist
seiner Kälte
mitten im Sommer

Gott ist Leben
in dieser Zeit und in Ewigkeit

Das geknickte Rohr wird er nicht zerbrechen
und den glimmenden Docht wird er nicht auslöschen.
Jesaja 42,3

***
Der Wochenspruch, der das Sonntagsthema aufnimmt, war ja schon zu Beginn unseres Gottesdienstes zu hören: Das geknickte Rohr wird er nicht zerbrechen und den glimmenden Docht wird er nicht auslöschen. So zu lesen im Buch des Propheten Jesaja 42,3.

Der Evangelist Lukas, von dem viele vermuten, dass er ein Arzt im Gefolge des Paulus war, lässt in dem Bibeltext für heute erkennen, WIE diese Fürsorge Gottes für das Leben seiner Menschen zum Zuge kommt. Ich lese aus Kapitel 13 ab Vers 17:

10 Und (Jesus)… lehrte in einer Synagoge am Sabbat.
11 Und siehe, eine Frau war da, die hatte seit achtzehn Jahren einen Geist, der sie krank machte; und sie war verkrümmt und konnte sich nicht mehr aufrichten.
12 Als aber Jesus sie sah, rief er sie zu sich und sprach zu ihr: Frau, du bist erlöst von deiner Krankheit!
13 Und legte die Hände auf sie; und sogleich richtete sie sich auf und pries Gott.

14 Da antwortete der Vorsteher der Synagoge, denn er war unwillig, dass Jesus am Sabbat heilte, und sprach zu dem Volk: Es sind sechs Tage, an denen man arbeiten soll; an denen kommt und lasst euch heilen, aber nicht am Sabbattag.
15 Da antwortete ihm der Herr und sprach: Ihr Heuchler! Bindet nicht jeder von euch am Sabbat seinen Ochsen oder Esel von der Krippe los und führt ihn zur Tränke?
16 Musste dann nicht diese, die doch Abrahams Tochter ist, die der Satan schon achtzehn Jahre gebunden hatte, am Sabbat von dieser Fessel gelöst werden?
17 Und als er das sagte, schämten sich alle, die gegen ihn waren. Und alles Volk freute sich über alle herrlichen Taten, die durch ihn geschahen.

Ich muss sagen, dass mich viele Einzelheiten dieses Textes fesseln, sehr beeindrucken und ins Nachdenken bringen. Und dass ich beim Lesen einmal mehr merke, wie meisterlich Lukas die Kunst des Erzählens beherrscht hat.

Achtzehn Jahre. Für uns heute die Zahl der Jahre, die jemand gelebt haben muss, um volljährig zu sein. Zu Jesu Lebzeiten waren achtzehn Jahre ein durchschnittlich halbes Menschenleben.

Wobei wir durch diese Angabe des Lukas nicht erfahren, wie alt diese Frau war. Ob vielleicht noch einmal achtzehn Lebens-Jahre vor ihr lagen. Wir erfahren eben nur, wie lange sie schon krank war: Achtzehn Jahre. Was es mit dieser Zahl wohl auf sich haben mag? Sagt sie nur, dass diese Frau schon sehr lange sehr krank war?

Jesus begegnet dieser Frau an einem Sabbat. Er selbst ist nach dem Plan des Lukasevangeliums auf der Wanderung aus dem heimatlichen Galiläa nach Jerusalem. Auf seinen Wegen dorthin bereitet Jesus die Menschen, die ihm folgen, durch seine Predigt in Lehre oder Gleichnis auf seine Passion vor.

Bei solch einer Predigt in „einer Synagoge“, der Ort ist offenbar nicht wichtig, geschieht allerdings eine der seltenen Ausnahmen von dieser Wortlastigkeit dieses Weges. Übrigens ist diese Sabbat-Predigt Jesu in einer Synagoge auch dessen letzte, von der Lukas in seinem Evangelium berichtet.

Jesus „sieht“ diese Frau. Sie ist offenbar unter den Menschen dort, hat sich nicht besonders bemerkbar gemacht, sie hat auch nicht um Hilfe gebeten oder Jesus direkt angesprochen. Sonst hätte Lukas, da bin ich mir sicher, das beschrieben.

Lukas hat auch nicht beschrieben, dass Jesus mit seiner Lehr-Rede abgeschlossen hätte und einfach nur noch Teilnehmer im Synagogengottesdienst gewesen sei. So dass man den Eindruck gewinnen muss, dass Jesus mitten in der Rede plötzlich innehält, sich unterbricht und die Frau anspricht.

Ich rede ja nun auch öfter, wenn auch nicht mehr am Sabbat, also unserem Sonnabend, sondern am Sonntag als dem Wochentag der Auferstehung im Gottesdienst, und auch mir ist es schon ein paar Mal passiert, dass ich die Predigt unterbrochen habe.

Da wurde jemandem übel und wir mussten den Krankenwagen rufen. Oder ein Mann stürmte mit freiem Oberkörper in die Kirche, stellte sich vor Gemeinde und begann mit lauten Gebeten vor dem Altar.

Was in allen Fällen, so unterschiedlich sie auch waren, stets gleich war: Ich hatte meinen Faden verloren und fand ihn später nur schwer wieder. Und die Gemeinde redete noch wochenlang von diesem Moment der völlig unerwarteten Unterbrechung der Sonntagsroutine in ihrer Kirche.

Aber im Unterschied zu meinen Predigt-Unterbrechungen ist Jesus hier der, der sich selbst unterbricht. Das hätte er ja nicht tun müssen, die Frau war ja offenbar gekommen, um am Gottesdienst teilzunehmen. Sie wäre ihm also nicht weggelaufen. Jesus unterbricht sich, weil er sie sieht. Und ich kann mir vorstellen, dass die Gemeinde schon deshalb noch wochenlang von diesem Vorfall gesprochen hätte.

Er ruft sie zu sich, weil er SIEHT, was alle sonst im Raum längst zu wissen scheinen: Die Frau ist krank. Für unsere Ohren zunächst befremdlich erscheint die Rede des Lukas von einem „Geist, der sie krank machte“. Die Sicht, dass es böse Geister seien, die Menschen krank machen, kommt allerdings selbst in unserer Sprache heute noch vor: Wer einen Hexenschuss hatte weiß, wovon ich rede. Und auch da fällt es einem lange schwer, sich irgendwie aufrecht zu halten – zum Glück dauert das meist keine achtzehn Jahre.

Man mag heute zu dieser Sicht, Mächte des Bösen machten die Menschen krank, denken was man will. Dass allerdings nicht nur Bakterien, Viren oder Krebszellen allein Krankheiten bei uns auslösen, das gehört schon lange zu unserem Allgemeinwissen. Zumindest schon so lange, wie die Psychologie eine allgemein anerkannte Wissenschaft ist.

Gut möglich also, dass Lukas, vielleicht selbst Arzt, einen besonderen Blick dafür hatte, dass Hustensaft oder Knochensäge nicht alle Krankheit lindern würden, sondern dass der Zustand der Seele wesentlich dafür ist, ob Gesundung eintreten kann oder nicht.

Eindrücklich auch das Bild, das mit dieser Heilung einhergeht. Zuerst Jesu Satz, sein in diesem Augenblick sowohl für die Kranke also auch für die Gemeinde unglaublicher Zuspruch: Frau, du bist erlöst von deiner Krankheit! Welcher Schreck muss den Menschen in die Glieder gefahren sein, als sie mitten in der Predigt diesen Satz hörten!

Was passiert hier? müssen alle gedacht haben. Und sie sehen, dass Jesus ihr die Hände auflegt. Sie sehen, dass sich die Lebenshaltung der Frau, an die sich alle über lange Zeit gewöhnt hatte, grundlegend ändert. Die Kranke richtet sich auf, bis sie aufrecht seht. Wer hat so etwas je selbst mit eigenen Augen sehen können?

Und nun die erste Äußerung dieser Frau, seit die Szene begann. Sie bedankt sich nicht bei Jesus. Das ist nicht wichtig. Es kommt auch kein: Boa! oder Wahnsinn! oder Unglaublich! oder wer weiß was noch für ein Ausdruck der Überraschung.

Nein, die Frau scheint genau verstanden zu haben, WAS ihr hier an diesem Ort völlig unerwartet widerfahren ist. Sie weiß vor allem, WER die Quelle ihrer Heilung ist. Sie preist GOTT.

Zum zweiten Teil unseres Textes: Der nämlich redet von einem Mann, der augenscheinlich alles richtig macht – der Synagogenvorsteher. Er hat dieses Amt, weil er die Gebote und Regeln kennt. Er ist aufrichtig, also geht anders als zuvor die Frau aufrecht und möchte, dass wenigstens die Grundregeln in seinem Hause geachtet werden.

Dass er „unwillig“ ist, wie Luther übersetzt oder „aufgebracht“ oder „sich ärgert“, wie andere übersetzen, macht ihn noch lange nicht hartherzig. Das wird auch an der klaren Wahl seiner Worte deutlich: Es sind sechs Tage, an denen man arbeiten soll; an denen kommt und lasst euch heilen, aber nicht am Sabbattag. Ja, was hätte der Gottesdienst am Sabbat in seiner Synagoge schon noch für einen Sinn, wenn hier alle Regeln guten Miteinanders über den Haufen geworfen würden?

Nichts, ja GAR nichts gegen diese Heilung, wer wäre er denn! Aber sind für die Arbeit nicht die sechs Tage in der Woche mehr als genug? Ist der Tag der Sabbatruhe nicht ein Tag des Hörens, des Innehaltens, des Nachdenkens über Gott?

Der Einwurf des Synagogenvorstehers ist nichts mehr oder weniger als ein Ordnungsruf: Haltet euch an die Regeln! Das muss doch möglich sein! Wie soll denn die Sabbatruhe sonst ihren Sinn behalten?

Ihr Heuchler! Dieses Wort Jesu muss ihn wie ein Schlag ins Gesicht getroffen haben. Die „Bibel in gerechter Sprache“ übersetzt darum lieber sanfter und mitfühlend: „Macht euch nichts vor!“ Ja, das hätte dem Synagogenvorsteher wohl nicht ganz so weh getan.

Und weiter: Es ist doch niemand unter euch, der am Sabbat nicht seinen Ochsen oder Esel von der Futterkrippe befreit, um ihn zur Tränke zu führen. Wieviel mehr musste diese Frau, Kind Abrahams aus Fleisch und Blut wie ihr selbst, am Sabbat losgebunden werden! Sie musste doch achtzehn Jahre lang diese Satansfesseln ertragen!

Achtzehn Jahre – da sind sie wieder. Lege ich die Betonung auf JAHRE, fällt mir auf: Wenn ich am Tag nicht sechs Stunden schlafe, bin ich kein Mensch. Im Umkehrschluss bedeutet das aber, dass ich an einem solchen Tag achtzehn Stunden wach sein kann.

So kann auch der Sabbat achtzehn wache Stunden haben. Vielleicht haben die Menschen in der Gemeinde das damals schneller begriffen als ich: Sie schaffen es ja nicht einmal achtzehn STUNDEN lang, ihre Tiere Durst leiden zu sehen. Wie kann der HERR da selbst an einem Sabbat darüber hinwegsehen, wegsehen, wenn ein Menschenleiden achtzehn JAHRE andauert!

Ja, der HERR, so nennt ihn Lukas an der Stelle. Das ist keine Nebensache. HERR ist für Lukas eine andere Bezeichnung für Gott, wie auch die Bezeichnungen „Höchster“, „Mächtiger“, „Retter“ oder „Gebieter“. Und Gott ist für Lukas das Zentrum aller Verkündigung. Schon der Evangelist Johannes nutzt die griechische Vokabel „Theós“ häufig, Lukas aber drei Mal so oft wie er: 290 Mal in Evangelium und Apostelgeschichte.

Jesus als irdische Person tritt für Lukas zurück; Gott selbst ist der, der da handelt, der da spricht. Das beschämt seine Gegner, das erfreut die Gemeinde. So endet diese Szene: Gott selbst weist diese Auslegung des Gebotes der Sabbatruhe zurück.

Meine Schwestern, meine Brüder:

Das hat der Synagogenvorsteher sicher nicht gewollt. Stand er nicht fest auf dem Boden des altgegeben, gottgewollten Gesetz? Konnte das denn falsch sein?

Die Tochter Abrahams gibt Gott die Ehre.
Sie erkennt, dass Gott – in diesem Augenblick! – etwas Neues mit ihr beginnt.
Er aber hat das nicht gesehen, konnte es nicht erkennen, und dass er das jetzt begreift, beschämt wohl auch ihn, und so wird er zum Widersacher. Ungewollt.

Wie ist es nun mit unserer Kirche? Versuchen nicht auch wir, alles richtig zu machen? Geradlinig zu sein, keineswegs hartherzig? Die richtigen Worte findend? Die bewährten Regeln rettend?

Dass Jesus über außerordentliche Fähigkeit bei der Heilung von Menschen verfügte, sollte niemand bestreiten. Auch nicht, wenn sie heute eher als Wunder denn als ärztliche Leistung gesehen werden. Anderenfalls wäre ja kaum erklärlich, warum von Jesus so viele Heilungserzählungen überliefert sind – von keiner anderen Gestalt der Antike gibt es so viele wie von ihm.

Doch darum geht es hier kaum, jedenfalls nicht in erster Linie. Lukas lässt mich vielmehr erkennen, wie wichtig es ist, dass ich meine Augen und mein Herz offen halte für Gott, der Neues beginnen kann, wann er will – auch in diesem Augenblick.

Lukas ist sich sicher: Gott durchbricht die Lebensverneinende Macht des Satans für immer. DAZU kam er in Jesus zu uns, dazu lässt er uns sehen, wie die Frau, die ihren Blick nicht mehr heben konnte, aufrecht weiter lebt. SO wird das geknickte Rohr aufgerichtet, der glimmende Docht neu entfacht.

So bricht das HEIL an. Nicht nur vor zweitausend Jahren für diese Frau, sondern als Kern der Hoffnung auf Gottes neue Welt. In diesem Moment. Nicht nur für mich, sondern für uns alle.

Die Liebe Gottes, die Gnade unseres Herrn Jesus Christus und die Gemeinschaft des Heiligen Geistes

erwecken in uns Gottes neue Welt zum Leben:
In diesem Augenblick.
AMEN

EG 303: 3.4.6
3. Selig, ja selig ist der zu nennen,
des Hilfe der Gott Jakobs ist,
welcher vom Glauben sich nicht lässt trennen
und hofft getrost auf Jesus Christ.
Wer diesen Herrn zum Beistand hat,
findet am besten Rat und Tat.
Halleluja, Halleluja.
4. Dieser hat Himmel, Meer und die Erden
und was darinnen ist gemacht;
alles muss pünktlich erfüllet werden,
was er uns einmal zugedacht.
Er ist’s, der Herrscher aller Welt,
welcher uns ewig Treue hält.
Halleluja, Halleluja.
6. Sehende Augen gibt er den Blinden,
erhebt, die tief gebeuget gehn;
wo er kann einige Fromme finden,
die lässt er seine Liebe sehn.
Sein Aufsicht ist des Fremden Trutz,
Witwen und Waisen hält er Schutz.
Halleluja, Halleluja.

 

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