Die Wende (Jes 29, 17-27)

Sehnsucht / ich will raus
in wem steckt er nicht, dieser Schrei
raus aus dem Alltag
seinen Regeln
seinen Unveränderlichkeiten
seiner Ungerechtigkeit
seiner Kälte

Gott wird alle Regeln neu schreiben
„Wer dem sich anvertrauet,
der hat das beste Teil,
das höchste Gut erlesen,
den schönsten Schatz geliebt“

Das geknickte Rohr wird er nicht zerbrechen
und den glimmenden Docht wird er nicht auslöschen.
Jesaja 42,3

***

Die Wende in Deutschland. An die Tage im Jahr 1989, als die Mauer fiel, erinnert sich unter uns wohl jeder. Egal ob wir früher im Osten oder Westen Deutschlands wohnten. Plötzlich hieß es für uns hier im Osten, wir könnten in den Westen fahren. Ohne Pass, ohne Visum, einfach mit dem Personalausweis.

Ich konnte es nicht glauben und fuhr mit meinem Wartburg einfach los. Ein Stau am Grenzübergang Berlin Zehlendorf, die Spannung stieg. Schneller als erwartet war ich an der Reihe. Ich drehe die Scheibe runter und sage zu dem Grenzsoldaten: Ich möchte zu meinem Freund nach Zehlendorf. Was wollen Sie sehen? Er lächelt und sagt: Nur fröhliche Gesichter. Gute Fahrt. Er hat nicht einmal in meinen Ausweis hineingesehen. Unfassbar.

Das Ende der DDR war nicht mehr aufzuhalten. Ganz Schlaue merkten an, dass Gott seine Finger im Spiel haben müsse. Schließlich sei die DDR gerade biblische 40 Jahre alt geworden…
Blühende Landschaften kündete der Einheitskanzler Kohl an. Wahrheit wurden sie aber nur für die, die sie sehen wollten.

Der Euphorie folgte Ernüchterung. Der Befreiung folgte das anstrengende Leben in Freiheit. Was für die einen eine fallende Grenze war, wurde für die anderen zur Ausgrenzung. Was für die einen das Ende eines Unrechtsstaates ist, bewahren die anderen in Ostalgie. Es war nicht alles schlecht in der DDR. Manches war sogar besser. Die Wende in Deutschland: Schlecht verdaut bis zum heutigen Tag.

Wende in der Flüchtlingspolitik. 2015 waren nach Angaben des UNHCR 65,3 Millionen Menschen auf der Flucht. 40,8 Millionen blieben dabei in ihren eigenen Staaten. Aber immer mehr Menschen versuchten, in die abgeschottete EU zu gelangen.

Die Dublin-Regel, wonach dort ein Asylantrag gestellt werden muss, wo ein Flüchtling erstmals die EU betritt, funktionierte nicht mehr. Die Bilder von den unmenschlichen Bedingungen, unter denen Geflüchtete vor allem in Ungarn, aber auch anderswo in der EU auf Bahnhöfen oder in dem Schlamm der Straßenränder kampieren, bringen die deutsche Regierung zu einer Änderung ihrer Flüchtlingspolitik.

„Wir schaffen das“ sagte Frau Merkel, und eine Welle der Hilfsbereitschaft breitete sich über ganz Deutschland aus. Hunderttausende strömten in unser Land.

Zwei Jahre danach polarisiert die Diskussion über die Flüchtlingspolitik unser Land. Heute sollen es ungefähr 1,8 Millionen Geflüchtete in Deutschland sein, nur in der Türkei sind es mehr, hier ist sind es 2,8 Millionen. Sieht man aber die Einwohnerzahl an, sind es nur 2,2 % in Deutschland, im Libanon dagegen 18,3, in Jordanien 8,7, in Nauru (der kleinsten Republik der Erde, eine Insel im Pazifik mit 10.000 Einwohnern) 5,0 %.

Doch obwohl sich die Belastung der Deutschen durch Geflüchtete also deutlich in Grenzen hält, ist das Hochgefühl von 2015, mit offenen Armen das Richtige zu tun, bei vielen Menschen dem Zweifel gewichen. Dem Zweifel, ob das denn gut gehen kann. Es kann doch nicht richtig sein, dass an Grenzen nicht jeder kontrolliert wird, dass Pässe einfach weggeworfen werden, dass Abzuschiebende nicht abgeschoben werden. Und Integration ist schwierig, sie kann nicht gelingen ohne Sprachkenntnis, aber auch nicht ohne Kenntnis unserer Geschichte, Kultur, Religion. Die Wende in der Flüchtlingspolitik: Sie ist noch schlechter verdaut als der Mauerfall.

Natürlich ist sie auch noch nicht so lange her, und ihre Folgen sind für uns akut spürbar. Wir sehen es täglich im Gesicht unserer Straßen und nicht nur, wenn irgendwo eine Moschee gebaut wird.

Aber gerade darum erinnert sie uns an eine Tatsache: Die Wenden, die wir erlebt haben, sind schlecht verdaulich. Sie lassen Gewinner und Verlierer zurück. Sie machen das Leben für die einen besser, für die anderen schlechter. Für die einen ändern sie das Leben in die richtige Richtung, für die anderen in die falsche. Wenden sind nie einfach eine Neuorientierung in die endgültig richtige Richtung.

Vor weit über zweitausend Jahren schreibt Jesaja über eine sehr umfänglichen Wende. Aus Kap. 29 (17-24)kommt heute unser Predigttext.

17 Wohlan, es ist noch eine kleine Weile, so soll der Libanon fruchtbares Land werden, und was jetzt fruchtbares Land ist, soll wie ein Wald werden.
18 Zu der Zeit werden die Tauben hören die Worte des Buches, und die Augen der Blinden werden aus Dunkel und Finsternis sehen;
19 und die Elenden werden wieder Freude haben am HERRN, und die Ärmsten unter den Menschen werden fröhlich sein in dem Heiligen Israels.
20 Denn es wird ein Ende haben mit den Tyrannen und mit den Spöttern aus sein, und es werden vertilgt werden alle, die darauf aus sind, Unheil anzurichten,
21 welche die Leute schuldig sprechen vor Gericht und stellen dem nach, der sie azurechtweist im Tor, und beugen durch Lügen das Recht des Unschuldigen
22 Darum spricht der HERR, der Abraham erlöst hat, zum Hause Jakob: Jakob soll nicht mehr beschämt dastehen, und sein Antlitz soll nicht mehr erblassen.
23 Denn wenn sie sehen werden die Werke meiner Hände – ihre Kinder – in ihrer Mitte, werden sie meinen Namen heiligen; sie werden den Heiligen Jakobs heiligen und den Gott Israels fürchten.
24 Und die, welche irren in ihrem Geist, werden Verstand annehmen, und die, welche murren, werden sich belehren lassen.

18 Zu der Zeit werden die Tauben hören die Worte des Buches, und die Augen der Blinden werden aus Dunkel und Finsternis sehen.

Es wird einfach märchenhaft: Menschen, die von Geburt an keine Töne kennen, oder solche, die einfach nicht auf gute Argumente hören WOLLEN: Sie alle /werden hören. „Worte des Buches“- Gottes Wort. Die Zeit der Tonlosigkeit oder schlechten Töne findet ein Ende, die Zeit der Freude wird kommen.

Und wie sehr WIRD sich DIE freuen, die mich nur an der Stimme erkennt und Lieder nur noch mitsingen kann, wenn sie die aus besseren Zeiten noch auswendig kann.

Oder DER, dem die Diabetes so zusetzt, dass er eine Netzhaut-Laserung nach der anderen überstehen muss. Er geht darum gar nicht mehr in die Kirche sondern bleibt daheim beim Radiogottesdienst. Den aber hört er allein, weil seine Frau nicht mehr lebt und seine Kinder ihr eigenes Leben leben.

SIE und ER – beide würden alles geben, jetzt schon zu sehen. Schon um sich an dieser schönen Kirche zu erfreuen.

„Denn es wird ein Ende haben mit den Tyrannen und mit den Spöttern aus sein.“

Da hören wir Wochen für Woche in den Nachrichten die Schreckensmeldungen über Terrorismus, Krieg und Völkermord. Manche hören schon weg, weil sie es nicht mehr ertragen können. Aber an Tyrannen mangelt es einfach nie auf dieser Erde. Es gibt sie im Großen und im Kleinen. Wie schön wäre es, wenn den Tyrannen endlich das Handwerk gelegt werden könnte!

Und Spötter belasten das Leben mehr, als Menschen oft wahrnehmen. Vielleicht, weil Menschen gerne lachen. Aber wer mit Spott, mit Häme über andere herzieht, belastet den Frieden. Denn in vielen von denen, ÜBER die gelacht wird, wächst Zorn. Da werden Tabus gebrochen, Intimsphären verletzt. Spott gegen die Regierung, Spott gegen die Opposition, Spott gegen die Habenichtse, Spott gegen die Reichen, Spott gegen Unternehmer, Spott gegen die, die Arbeit suchen oder noch welche haben, Spott gegen schwache Schüler, Spott gegenüber den Strebern …

Übrig bleiben Verspottete. Die einen, die so gerne lachen, dass sie es schon deshalb gern ertragen, dass über sie gelacht wird. Die anderen, die das nicht ertragen und darunter leiden. Da wäre es doch schön, wenn man ohne Spott genug zu lachen hätte.

19 und die Elenden werden wieder Freude haben am HERRN, und die Ärmsten unter den Menschen werden fröhlich sein…

Nicht einmal, wenn die Tafel Lebensmittel umsonst verteilt, haben die Elenden wirklich Freude, sind die Ärmsten wirklich fröhlich. Vor lauter Angst, wieder einmal zu kurz zu kommen, gibt es Gerangel, Geschubse und Gemecker. Wenn die „Elenden wieder Freude haben“ – dann wäre unsere Welt eine wirklich andere.

Und die, welche irren in ihrem Geist, werden Verstand annehmen, und die, welche murren, werden sich belehren lassen.

Wer irrt? Die, die dem Sozialismus nachtrauern oder die, die dem Markt Selbstheilungskräfte zutrauen? Irren sich die, die Abtreibungen verteufeln oder die, die „mein Bauch gehört mir“ rufen? Irren sich die, die die Ehe zwischen Mann und Frau als gottgewollt betrachten oder die, die Homsexualität ebenso gottgegeben akzeptieren?

Das Leben ist voller Verirrungen. Wenn sie einmal vorbei sein werden, die Irrungen und Wirrungen des Menschen, wird es eine große Klarheit geben, in der erkannt wird, was jetzt verkannt ist.

Es ist wesentlich leichter, den Verstand zu verlieren als ihn anzunehmen. Davon können all die unter uns ihr Trauerlied singen, die voller Sorge kein Auge mehr zutun können, obwohl sie wissen, dass das noch niemandem geholfen hat. Denen jede Mahlzeit eine Kraftanstrengung ist, weil sie vor lauter Angst vor Mager- und Fettsucht den Genuss verlernt haben. Die sich nach einem anderen Leben sehnen obwohl sie wissen, dass sie auf dieser Welt nur dieses eine haben.

Wie im Märchen muss sie sein, die Zeit, in der Verstand funktioniert, Schimpfen, Meckern, Nölen vorbei sein werden: In der das Murren DEM MOMENT weicht, an dem Sehen, Hören und Freude endgültig Oberhand gewinnen.

Meine Schwestern, meine Brüder:

Wie schön wäre es doch, wenn ich diese Predigt gar nicht mehr halten würde. Wenn diese Jesaja-Wende eingetreten wäre. Aber die „kleine Weile“ ist offenbar noch nicht vorbei. Kein Wunder, wenn bei Gott doch tausend unserer Jahre bestenfalls ein Tag sind. Gottes Zeitempfinden ist für Menschen ziemlich anstrengend.

Warum aber denken wir heute dennoch nach über die Wende des Jesaja? Über eine Welt, nach der sich viele sehnen, die sie aber zu Lebzeiten nicht erleben werden? Vielleicht hat sich Jesaja geirrt, sich am Ende selbst ver-irrt?

Weil jeder, der diese Vision in sich aufnimmt, spürt: Diese Wende ist so groß und so vollendet, dass sie GOTTES Wende sein MUSS. Anders als die Wenden, die wir erlebt haben oder erleben werden. Die hinterlassen Gewinner und Verlierer. Gottes Wende hinterlässt nur Gewinner. Das ist keine Vision eines Menschen. Das ist die Vision Gottes.

Selbst Wüsten werden zu fruchtbarem Land voller Leben und Schönheit. Gott bessert nicht aus. Gottes zukünftige Welt wird wirklich NEU sein.

Es bricht nicht einfach ein neues Zeitalter an, das bald selber ein altes sein wird. Nein, Frieden wird sein, Gerechtigkeit, bewahrte Schöpfung – nicht nur ein konziliarer Prozess. Diese Wende ändert wirklich alles zum Guten: Natur, Mensch, Geschichte. Schöpfungsweit.

Damit lässt Gott lässt uns nicht im Unklaren darüber, wohin er seine Welt verändern wird. Wenn wir das nicht wüssten: Woher sollten wir wissen, wo „oben“ und „unten“, „links“ und „rechts“ sind? Woher sollten wir wissen, was richtig läuft und was falsch? Was uns gut tut und was nicht?

Weil wir aber wissen, was Gott mit unserer Welt vorhat, können wir die Wenden unseres Lebens einordnen. Spätestens, seitdem wir Jesus kennen, wissen und können wir das. Können herausbekommen, was gut läuft und was eher schlecht.

Darum können wir auch wissen, was wir zu tun oder zu lassen haben. Und weil wir das alles wissen, wissen wir auch, dass es sich lohnt, auszuhalten. Selbst wenn wir trotz Mühe und aller Gelassenheit etwas nicht zum Besseren ändern können. Denn wir wissen, dass Gott zwar nicht all unsere Wünsche erfüllt, aber die Macht hat, seine Versprechen zu erfüllen.

Die Liebe Gottes, die Gnade unseres Herrn Jesus Christus und die Gemeinschaft des Heiligen Geistes
werden sie wirken, diese größte Wende Gottes. AMEN

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