Weil Menschen denken, wie sie denken
reden, wie sie reden
handeln, wie sie handeln
ächzt die Schöpfung
leiden Menschen Qualen
sterben vor der Zeit
Die Liebe aber sagt in Christus:
Was ihr getan habt
einem
von diesen meinen geringsten Brüdern,
das habt ihr mir getan.
Mt 25,40
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Die Apostelgeschichte taucht ja ziemlich selten in unseren Predigtreihen auf. Sie ist zwar das dickste der neutestamentlichen Bücher. Während aber das dünnere Matthäusevangelium 88 Mal in sechs Jahren als Predigttext gelistet ist, bringt es die Apostelgeschichte nur auf bescheidene 30 Mal.
Warum das so ist? Vielleicht klingen manchem die vielen Geschichten rund um die Entstehung der christlichen Gemeinden ein wenig zu sehr nach religiöser Propaganda. 1000 neue Christen hier, 3000 da – das macht manche Gemeindeleitung heute depressiv, gerade in Corona-Zeiten.
Aber hören wir einfach hinein, ich lese aus dem 6. Kapitel die Verse 1-7 in der Lutherübersetzung:
1 In diesen Tagen aber, als die Zahl der Jünger zunahm, erhob sich ein Murren unter den griechischen Juden in der Gemeinde gegen die hebräischen, weil ihre Witwen übersehen wurden bei der täglichen Versorgung.
2 Da riefen die Zwölf die Menge der Jünger zusammen und sprachen: Es ist nicht recht, dass wir das Wort Gottes vernachlässigen und zu Tische dienen.
3 Darum, liebe Brüder, seht euch um nach sieben Männern in eurer Mitte, die einen guten Ruf haben und voll Geistes und Weisheit sind, die wollen wir bestellen zu diesem Dienst.
4 Wir aber wollen ganz beim Gebet und beim Dienst des Wortes bleiben.
5 Und die Rede gefiel der ganzen Menge gut; und sie wählten Stephanus, einen Mann voll Glaubens und Heiligen Geistes, und Philippus und Prochorus und Nikanor und Timon und Parmenas und Nikolaus, den Proselyten aus Antiochia.
6 Diese stellten sie vor die Apostel; die beteten und legten ihnen die Hände auf.
7 Und das Wort Gottes breitete sich aus, und die Zahl der Jünger wurde sehr groß in Jerusalem. Es wurden auch viele Priester dem Glauben gehorsam.
Eine willkommene Abwechslung. Hier geht es einmal nicht um schwerwiegende theologische Probleme wie den Lebenssinn oder die tiefe Bedeutung der Taufe, sondern zunächst um einen Alltagskonflikt. Der Predigttext steigt nicht hinab in die Tiefen theologischer Grundsatz-Diskussionen. Hier geht es nur darum, dass ein entstandener Streit sachlich – vernünftig besprochen, eine Lösung gefunden und realisiert wird.
Doch man sollte durchaus genauer hinsehen.
Denn sonst liest man diesen Text nur wie eine unterhaltsame Geschichte und legt ihn danach wieder weg. Dabei aber verpasst man Wesentliches: Nämlich den Einblick in das Erfolgsrezept eines Zusammenlebens, das die erste Gemeinde geprägt und zunächst erfolgreich gemacht hat. Ein Rezept, das für so viele Menschen anziehend war, dass es zu einem starken Wachstum der Gemeinde in Jerusalem führte.
Zunächst geht hier nur um das Essen. Was wäre alltäglicher als das? Aber was heißt eigentlich „Nur“: Essen mehr als Energieaufnahme, und es geht um mehr als das Überleben.
Ich erinnere mich an eine Plakatreihe, ich glaube von „Brot für die Welt“ mit den Worten: „Der Mensch isst nicht allein.“
Isst von Essen, nicht von Sein.
Doch eines der beiden S war nicht schwarz wie die anderen Buchstaben, sondern rot. Also ging es doch um beides:
Das Essen UND das Sein.
Der Mensch ISST nicht allein.
Der Mensch ist nicht ALLEIN. Ein Wortspiel, das Lebens-Wahrheit transportiert.
So wie „Essen und Trinken halten Leib und Seele zusammen“:
Das Leben bleibt im Körper, der Körper bleibt im Leben.
Essen ist Leben: Das lebte die erste Gemeinde in Jerusalem. Man aß und trank, man lebte gemeinsam. Man schuf sich keine religiöse Sonderwelt, sondern setzte das alte Leben in einem neuen Zusammenhang fort.
Essen und Trinken sind schon immer wichtige Grundbedürfnisse sowohl für das Überleben als auch für das Leben. Man baute also erst einmal keine Kirchen, schrieb erst einmal keine Grundordnungen, stritt erst einmal nicht um Strukturen.
Sondern man lebte Mahlgemeinschaft.
Darin erinnerte man den Brot brechenden Jesus von der Speisung der Fünftausend bis zum Abendmahl. Gerade so wurde Gottes Wort unter ihnen lebendig, lebendig in einem ganz alltäglichen Tun: In der gemeinsamen Mahlzeit von Menschen, die ja alle Hunger hatten. Und Mahlzeit meint kein Fastfood. Gemeinsame Mahlzeiten waren nicht WIE eine Tafel, die die Gemeinde für die Armen eingerichtet hätte. Sie waren anders, waren viel mehr: Diese Tafel war die Gemeinde SELBST.
Man kam in privaten Häusern zusammen. Wer etwas zur Mahlzeit beizutragen hatte, brachte mit, so viel er konnte. Denn gerade in Jerusalem gab es viele arme Menschen. Vor allem Witwen und Waise als größte Gruppe unter den wirklich Armen. Wer also nichts hatte, bekam ganz selbstverständlich etwas ab. Diese Tisch-Gemeinschaft war Glaubensüberzeugung. Man war bei Tisch Teilhaber des Gottesreiches. Dort lebte man die Geschwisterschaft in Christus.
An diesen Tischen zeigte sich eine neue Gestalt von Gemeinschaft. Ohne dazu verpflichtet zu sein, aß man zusammen. Denn man glaubte fest, dass man durch Christus nicht nur zueinander gefunden hatte, sondern auch füreinander verantwortlich war. Jeder wollte den anderen in das Reich Gottes tragen. Denn das Leben auf der Welt ist sicher flüchtig – das Reich Gottes aber noch sicherer ewig.
Jetzt aber sind die Zwölf Apostel damit offenbar überfordert. Bisher haben sie das Predigen und Beten, das Händewaschen und Aufräumen rund um den Tisch noch ganz gut in die Reihe bringen können. Nun aber werden es zu viele Menschen, und die praktischen Probleme häufen sich.
Denn es werden nicht nur zu viele, sondern es gab noch das Sprachproblem zwischen Judenchristen, die aus der griechisch sprechenden Welt kamen, und denen, die schon immer in Jerusalem lebten. Man verstand sich nicht gut genug, um die Sorgen der Anderen wirklich zu verstehen. Ungleichbehandlung war die Folge.
Als das Murren über Ungleichbehandlung unüberhörbar ist, wollen die Apostel handeln und rufen eine Gemeindeversammlung ein. Sie haben einen Vorschlag zur Güte: Neben den zwölf Betern und Predigern soll es sieben Männer geben, die für die täglichen Mahlzeiten so Sorge tragen, so dass jede und jeder bekommt, was er braucht. Die Apostel selbst aber wollen beim Predigen, Lehren und Beten bleiben.
Eine gute Idee, finden die Versammelten, und setzen sie kurzerhand in die Tat um. Man findet Gemeindeglieder mit einem guten Ruf, Weisheit und Charisma. Und diese wurden für die Gemeinde so wichtig, dass auch ihre Namen in ihrem kollektiven Gedächtnis blieben, wie wir vorhin hörten („Timon“ gibt es wirklich nicht erst seit dem „König der Löwen“)
Ist das Ganze nun ein Lobpreis der Arbeitsteilung?
Die geschichtliche Begründung dafür, dass es neben Pfarrern auch Diakone in der Kirche gibt?
Die einen für die hohe geistliche Arbeit, die anderen für die praktischen Tätigkeiten?
Dass es die einen gibt, die das Sagen haben, die anderen, die die niederen Arbeiten machen müssen?
Genau hier liegt das Problem. Die meisten lesen den Text rückwärts. Sie lesen ihn mit den Augen ihrer heutigen Erfahrungen mit Kirchen und Gemeinden. Den Erfahrungen von Hierarchie und unterschiedlichem Stellenwert der Dienste, die wohl in allen Gemeinden zu finden sind. In katholischen sicher mehr als in evangelischen oder freikirchlichen, aber zu finden sind diese Strukturen heute überall in den Kirchen.
Doch genau davon ist hier in der Apostelgeschichte eben nicht die Rede. Es gibt hier keinen höheren, mittleren und niederen Dienst. Nur unterschiedliche Dienste mit unterschiedlichen Dienstbeschreibungen.
Die Apostel sagen nicht: Wir haben keine Zeit zum Abwaschen. Sondern: Es ist nicht recht, dass wir unsere Arbeit nicht ordentlich machen können.
Denn die Apostel sind die, die Jesus persönlich kennengelernt hatten, mit ihm gelebt haben. Ein „Neues Testament“, in dem man lesen konnte, gab es noch nicht. Natürlich ist die Gemeinde darauf angewiesen, dass sie immer und immer wieder all das erzählen, was sie als lebende Zeitzeugen erlebt und begriffen haben. Und der Gemeinde selbst war das klar; sie MUSSTE dafür sorgen, dass die Zwölf möglichst vielen Menschen Jesu Botschaft weitergaben.
Und so kommt zum Dienst der Zwölf der Dienst der Sieben. Beides besondere, symbolträchtige Zahlen, die wenig damit zu tun haben, wie viele Menschen es nun wirklich waren. Beide Zahlen drücken je auf ihre Weise Vollkommenheit aus: Die Zwölf die Einheit Israels, die Sieben die Einheit in und mit der Welt.
Anders gesagt: Die Gemeinde erlebt ein Wunder. Denn ihr gelingt eine IDEALE Nutzung der Gaben, die sie von Gott geschenkt bekommen hat. Der finanziellen Gaben und auch der persönlichen Fähigkeiten, die die Gemeindeglieder mitbrachten. Niemandem fehlt etwas. Niemand ist unter- oder überfordert. Alle fühlen sich angekommen und geborgen.
Darum bezahlt sie auch keinen besser oder schlechter. Nach allem, was wir auch aus der Apostelgeschichte wissen, lebte die Gemeinde in Gütergemeinschaft. Jedes einzelne Glied der Gemeinde gab freiwillig, was es entbehren konnte und wollte. Und damit reichte es für alle. Eine Urform des bedingungslosen Grundeinkommens also. Eine Art großes Kloster ohne Kirchen, Mauern oder Hierarchie.
Und genau DIESE Art des Miteinanders, diese konsequent gelebte Liebe: DIESE Art des Miteinanders zieht so viele Menschen an. Selbst Priester sind davon fasziniert, verlassen ihr altes Leben und schließen sich der Gemeinde an.
Warum hat sich dieses Gemeinde-Modell nicht durchgesetzt?
Die Antwort schmeckt bitter:
Weil es ganz offenbar nicht lange funktioniert hat. Schon aus den Paulusbriefen wissen wir, dass er vor allem in Korinth dafür Kollekten sammelte, um der in finanzielle Not geratenen Gemeinde in Jerusalem zu helfen. Paulus wollte dazu beitragen, dieses Gemeindemodell am Leben zu erhalten.
Doch ein System, was einzig auf Freiwilligkeit beruht, ist leider in der Menschenwelt nicht verlässlich. Man kann ja niemanden zwingen, mitzumachen. Nicht mal mit einem Klostergelübde. Und wenn dann nicht genügend Wohlhabende in die Gemeinden kommen und die Armen mitversorgen, kollabiert das System. Spätestens, wenn die Wohlhabenden sich nicht gut genug um ihr Vermögen kümmern und ihr Geld irgendwann ausgegeben haben.
Darum haben die Gemeinden keinen anderen Ausweg gewusst, als sich weltlicher Strukturen zu bedienen: Finanzfachleute und Juristen für die Struktur und das Geld, die Diakonie für den Dienst am Nächsten vom Kindergarten bis zum Hospiz, Theologen für Lehre und Verkündigung, Kirchenmusiker und Katecheten und Bürokräfte und Küster und was es sonst noch alles in unseren Kirchen gibt.
Und man hat auch nicht geschafft, alle gleich zu bezahlen, von einem „bedingungslosen Grundeinkommen“ für alle und jeden mal ganz zu schweigen. Denn dafür reichte das Einkommen der Gemeinden schlichtweg nie aus.
Meine Schwestern, meine Brüder:
So scheint die „Gute Nachricht“ heute zugleich schlechte Nachricht zu sein. Der Versuch, göttliche Liebe in Wort und Tat zu leben, scheitert an den Realitäten des Menschseins. Und daran scheitert er bis auf den heutigen Tag.
Aber das ist eben nicht NUR schlechte Nachricht. Denn wir wissen nun, dass es sie gibt: Die IDEALE Form der Lebens-Gemeinschaft mit Gott. Die Liebe lebt und sonst nichts. Und wir wissen nun, dass es sich lohnt, das Hoffen auf das Reich Gottes, in dem diese ideale Form des Miteinanders unbestrittener Konsens aller Engel ist.
Und in all dem, was wir auf dieser Erde in unserer irdischen Kirche tun, lassen oder planen, wissen wir nun, was unser Ziel ist und bleiben muss, worauf wir hinarbeiten müssen:
Auf die eine Kirche als Dienstgemeinschaft von Geschwistern, die ihr Leben miteinander teilen. Die Freude ebenso wie den Schmerz, die Armut ebenso wie den Reichtum, das Können ebenso wie das Nichtkönnen. Wir müssen auf die Gemeinde hinarbeiten, die Heimat ist für Menschen von der Geburt bis zum Tod, die niemanden Hunger leiden oder unter der Brücke schlafen lassen wird. Die aus dem Wort der Liebe Gottes lebt und lebendig bleibt.
Und was für unsere Kirchen gilt, gilt übertragen auch für unsere politischen Gesellschaften.
Wir wissen nun, dass die Liebe Gottes,
die Gnade unseres Herrn Jesus Christus
und die Gemeinschaft des Heiligen Geistes
sich lohnen,
um für sie alles andere stehen und liegen zu lassen
und zu dieser Kirche zu gehören.
AMEN