Der Weg (Mk 2 23-28)

Wir suchen
Wege ins Leben
Wege zu Gott
darum sind wir hier
wie oft aber gehen wir Wege
von Gott weg
weg vom Leben
Tag für Tag
wie sollen wir handeln
wohin sollen wir gehen

Es ist dir gesagt, Mensch, was gut ist
und was der HERR von dir fordert,
nämlich Gottes Wort halten
und Liebe üben
und demütig sein vor deinem Gott.
Micha 6,8
***
Es gab einmal Zeiten, da war für viele ihre Welt noch in Ordnung. Ich erinnere mich an eine Gemeinde, in der man noch bis in die neunzehnneunziger Jahre an sehr alten Traditionen festhielt.

Viele Frauen gingen in Tracht in den Gottesdienst, die Männer im schwarzen Anzug. Den Weg zum Gottesdienst ging man als Familie; in der Kirche aber dann saßen die Frauen mit den Kindern unten in den Bänken und die Männer oben auf den Emporen. Wenn Abendmahl gefeiert wurde, gingen die Eheleute gemeinsam, danach aber setzte man sich wieder getrennt.

Nein, ich rede nicht von einem Urlaubsbesuch in Bayern, sondern von einer Dorfgemeinde im Brandenburger Fläming. Inwiefern das da heute noch so ist, weiß ich nicht. Ich weiß nur, dass mich das sehr berührt hat: Hier hält man noch etwas auf sich, dachte ich.

Und mein Interesse wuchs noch, als mir eine Frau erzählte, dass es in ihrem Dorf lange keine einzige Jugendweihe gegeben hätte, weil sich alle dagegen sperrten und bei „ihrer Konfirmation“ blieben. Bis 1979 die ersten ausscherte…

Was sie denn mit diesen „Streikbrechern“ gemacht hätten? Die Gesprächspartnerin zuckt mit den Schultern. „Wenn das erst mal losgeht, dass jeder macht, wie er das will, bleibt eben kaum noch was übrig. Irgendwann weiß dann gar keiner mehr, woran er eigentlich ist.“

Wissen, „woran man eigentlich ist“ – viele sehnen sich danach, gerade auch was Kirche betrifft. Dass man den „Status quo“ nicht einstauben lässt, sondern ihn deutlich sehen und laut hören kann. Sie ärgert, dass Kirche nicht klare Kante zeigt. Dass Christen nicht mehr deutlich kenntlich seien.

„Muss doch jeder selber wissen“ – dieser Satz sei inzwischen zu dem wirklichen Glaubensbekenntnis geworden, weil man mit Jungfrauengeburt und der Auferstehung von den Toten nichts mehr anfangen könne.

„Muss doch jeder selber wissen“ ob er am Sonntag einkaufen will oder nicht, ob sie am Sonntag verkaufen will oder nicht, ob er in die Kirche gehen will oder nicht, ob sie nach fünf Tagen Arbeit eine Ruhepause möchte oder lieber nach zehn Tagen Zeit für einen Kurzurlaub.

„Muss doch jeder selber wissen“ ist zum Bekenntnis der Beliebigkeit geworden. Der Mensch, jeder einzelne Mensch, jedes Individuum ist das Maß aller Dinge. Kein Wunder, dass „den Kirchen die Gläubigen in Scharen davonlaufen“ würden,

Darum ärgern sie sich darüber, dass Kardinal Marx und der Ratsvorsitzende der EKD Bedford-Strohm ihre Amtskreuze ablegten, als sie vor ziemlich genau vier Jahren Al-Aksa-Moschee und die Klagemauer in Jerusalem besuchten.

Sie ärgert auch, dass Kirchengemeinden sich medienwirksam in Diskussionen über in ihren Augen unwesentliche Probleme zu profilieren versuchen. Die einen verbannen den schwarzen König von der Weihnachtskrippe, weil die rassistisch sei. Die anderen versuchen mittelalterliche Darstellungen der „Judensau“ von der Fassade ihrer Kirche zu verbannen, weil null Toleranz für Antisemitismus gelten müsse. Und wieder andere engagierten sich für den Fahrradweg, weil der wichtig fürs Dorf sei.

Und sie ärgern sich auch, dass politischen Positionen wie „Muslime gehören zu Deutschland“ nicht klar und deutlich widersprochen wird. Obwohl in Deutschland seit hunderten von Jahren nach anderen Regeln gelebt wird: Hier wird sieben Wochen vor Ostern gefastet und eben nicht an Ramadan.

Apropos Regeln: Jesu Jünger halten sich nicht an die Regeln und fallen unangenehm auf. Davon erzählt Markus Kapitel 2 ab Vers 23, ich lese den Predigttext für heute:

23Und es begab sich, dass er am Sabbat durch die Kornfelder ging, und seine Jünger fingen an, während sie gingen, Ähren auszuraufen.
24Und die Pharisäer sprachen zu ihm: Sieh doch! Warum tun deine Jünger am Sabbat, was nicht erlaubt ist?
25Und er sprach zu ihnen: Habt ihr nie gelesen, was David tat, da er Mangel hatte und ihn hungerte, ihn und die bei ihm waren: 26wie er ging in das Haus Gottes zur Zeit des Hohenpriesters Abjatar und aß die Schaubrote, die niemand essen darf als die Priester, und gab sie auch denen, die bei ihm waren?
27Und er sprach zu ihnen: Der Sabbat ist um des Menschen willen gemacht und nicht der Mensch um des Sabbats willen.
28So ist der Menschensohn Herr auch über den Sabbat.

Das Streitgespräch, dessen Zeugen wir hier werden, hat nichts mit dem Streit um die Sonntagsruhe zu tun, den wir in den letzten Jahren häufiger mal erlebt haben. Heutzutage wäre das, was die Jünger hier machen, nämlich nur eine kleinere Ordnungswidrigkeit, so als hätten sie am Sonntagmorgen den Rasen gemäht.

Hier aber geht es nicht um eine Ordnungswidrigkeit, sondern um ein Kapitalverbrechen. Nachdem Jesus auch noch einen Kranken am Sabbat heilt, verlangen seine Gegner für sein Verhalten am Sabbat die Todesstrafe (3,6). Was bringt sie so gegen Jesus auf?

Sieht man genau hin, ist die Frage der Pharisäer nur rhetorisch gemeint: „Sieh doch: Warum tun deine Jünger am Sabbat, was nicht erlaubt ist?“

Sie wollen gar keine Antwort, sondern einen Tadel loswerden: Deine Jünger nehmen sich hier Freiheiten heraus, die ihresgleichen suchen. Sie tun alles, um zu provozieren. Was ein schweres Ärgernis für alle Frommen sein MUSS. Sie halten keine Regel der Sabbatruhe. Traditionen, Gesetze, Gottes Gebot: Alles wird in die Tonne getreten!

Auch wenn die Pharisäer eigentlich nur ihrem Zorn Luft machen wollen – Jesus antwortet ihnen trotzdem. Hier nach Markus gibt es genau genommen sogar drei Antworten.

Die erste: Kennt ihr die Geschichte von David und den heiligen Broten nicht? Dass er, als ihn und seine Gefährten der Hunger plagte, die Schaubrote aus dem Tempel stahl und verteilte? Oder kurz: Schon David tat Dinge, die verboten waren.

Die Antwort der Pharisäer kann man sich denken: Du willst also behaupten, du und deine Jünger seien in einer Notlage? Du setzt sie und dich mit dem größten König Israels gleich? Nur weil du für den Sabbat nicht vorgesorgt hast und stattdessen lieber hier einen Spaziergang durch die Kornfelder machst?

Die erste Antwort Jesu hätten sie vielleicht noch als einfache Frechheit verbucht, die noch an ihnen abgeperlt wäre. Mit der zweiten Antwort allerdings wäre das schon nicht mehr gegangen: „Der Sabbath ist um des Menschen willen gemacht und nicht der Mensch um des Sabbats willen“.

Diese zweite Antwort rüttelt nämlich schon spürbar am Status Quo. Denn für die Frommen Israels gibt es kein Herumdeuteln am Gotteswillen, wie er in der Tora geschrieben steht.

Konkret: Sabbatruhe ist Sabbatruhe. Diskutieren kann man hier schon, aber nur darüber, wie genau man das Gebot in die Tat umsetzen kann. Also welche Arbeiten genau verboten sind und welche man gerade noch so durchgehen lassen könne.

Spazierengehen durchs Kornfeld, das hätte man noch durchgehen lassen können. Aber wer nicht ordentlich für das Essen vorkochen will, der kann jetzt nicht einfach nehmen, was ohnehin nicht ihm gehört. Auch Mundraub ist das, was im Namen steckt, nämlich Raub, und Mundraub am Sabbat erst recht.

Und jetzt, Jesus, fängst Du tatsächlich noch eine Grundsatzdiskussion an? Du willst die Gebote für dich und die deinen nur gelten lassen, wenn sie dir angenehm sind? Du weißt schon, dass du damit all das in Frage stellst, was uns wichtig, ach was: was uns HEILIG ist!?

Und als ob die Situation nicht schon bis hierher gefährlich aus dem Ruder laufen würde, kommt noch Antwort Drei: „So ist der Menschensohn Herr auch über den Sabbat.“

Jesus nimmt sich heraus, an Gottes statt zu stehen und tun und lassen zu können, was er für richtig hält. Er behauptet, eine Autorität zu haben, die allein Gott zusteht – mit Sicherheit aber keinem Menschen aus Fleisch und Blut.

Da kommt ein Dreißigjähriger daher und will sich mit dem Ewigen messen. Das ist nicht mehr und sicher nicht weniger als ein offener Aufruf zur Rebellion gegen alle Regeln, die in der Gesellschaft galten. Das ist mindestens so schlimm als wollte einer die Riesenmoschee in Dresden gleich neben die Frauenkirche gestellt haben. Wenn das Schule macht, können wir hier gleich alles dicht machen.

Oder wie die Frau vom Anfang: „Wenn das erst mal losgeht, dass jeder macht, wie er das will, bleibt eben kaum noch was übrig. Irgendwann weiß dann gar keiner mehr, woran er eigentlich ist.“

Fazit: Für die Pharisäer ist mit Jesus nicht der Messias, sondern eine Katastrophe gekommen. Einer, dem nichts heilig zu sein scheint, der keinen Respekt hat und die Regeln der Gesellschaft mit Füßen tritt.

Kommt euch das irgendwie bekannt vor?

Meine Schwestern, meine Brüder,
wie kann es zu diesem Missverständnis kommen? Und genau das ist es: Ein Missverständnis. Wir wissen doch, wie die Geschichte ausgeht. Am Ende setzen sich die gesetzestreuen Frommen durch. Dem Buchstaben nach: Jesus stirbt am Kreuz.

Aber der Geist Gottes wurde lebendiger denn je
und bleibt lebendig in der Welt.

Es war also das Hängen an den Buchstaben der Gebote, Gesetze und Regeln der Gesellschaft, die den Gesprächspartnern Jesu den Blick darauf verstellten, was er wollte und wer er war.

Denn es war NICHT eine vermeintliche Notlage der Jünger, um die es ging. Es ging um die Autorität des Gottgesandten. Es ging NICHT um das Sabbatgebot, sondern um den Sinn des Wortes Gottes. Es ging NICHT um Gesetzesgehorsam, es ging vielmehr darum, den wahren Willen Gottes zu erkennen und zu erfüllen. Und wie sollte sich der Wille des Unendlichen in Worten einfangen, sogar einsperren lassen?

Jesus traut dem Menschen zu, den Gotteswillen zu erkennen und zu erfüllen. Aber wer sein Leben dem liebenden und gnädigen Gott anvertraut, als der er sich seit Menschengedenken offenbart: Wie sollte der Gott durch das Einhalten von Vorschriften dienen können, die ihm innerlich fremd sind?

Jesus hat nicht die Autorität eines Gesetzgebers, sondern die des Befreiers. Er will nicht fraglosen Gehorsam, sondern vertrauensvolle Hingabe. Also kann es, um beim Beispiel Sabbatgebot zu bleiben, nicht um einen freien Tag gehen. Es geht hier um keinen Tarifvertrag. Es geht um nicht mehr und nicht weniger als die FREIHEIT, die Gott den Menschen schenkt.

„Heiligen“ kann nur der, der Gott begegnen will, seinem Wort, seinem Geist. Nicht weil er durch Regeln dazu gezwungen wird. Sondern weil Liebende zueinander gehören. Wo diese liebende Begegnung zwischen Gott und Mensch nicht geschieht, „soll es kein Christenfeiertag heißen. Denn feiern und müßig gehen können die Unchristen auch wohl …“ – so Luther im Großen Katechismus.

Das gilt natürlich nicht nur für das Sabbatgebot. Das meint das ganze Leben, für das wir uns doch die Gebote und Regeln oft selbst schreiben: Wir leben und wurden nicht gefragt, ob wir das wollen. Niemand konnte sich aussuchen, in welche Familie er hineingeboren wurde, in welche Zeit oder in welche Sprache. Selbst wer gegen den Strom schwimmen will, muss sich am Strom orientieren. Sonst weiß er nicht wohin er schwimmen sollte. Und schon hat man die erste Regel, und ihr folgen unendlich viele.

Und je mehr man sie einhält, desto mehr Halt im Leben findet man, desto weniger Angst hat man. Nur man SELBST sein kann man dann auch immer weniger. Dem Anderen begegnen kann man immer weniger – denn der hat SEINE Regeln und nicht meine. Am Ende sind es Vertrauen, Offenheit und Liebe, die auf der Strecke bleiben.

Doch Jesus will nicht, dass wir Knechte sind, sondern Herren werden. Ungebunden von den Buchstaben dieser Welt, frei für das Leben. Und Leben bedeutet für in Vertrauen, Offenheit und Liebe.

Solches Leben wird einen großen Frieden finden.
Den Frieden Gottes,
der größer ist, als all unser Denken es fassen kann.
Er bewahre eure Leiber und Seelen in der Freiheit,
die euch Jesus Christus geschenkt hat. AMEN

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