Ein Geschichts-Lehrer hat uns, ich glaube es war in der 7. Klasse, einmal dargelegt, dass es DER Sündenfall der Kirche schlechthin gewesen sei, dass sie sich im römischen Reich zur Staatskirche hat machen lassen.
Jesus selbst sei zweifellos ein Freund der Armen gewesen. Die Kirche aber hätte sich dann von den Machthabern dazu missbrauchen lassen, die Armen auf das Jenseits zu vertrösten. Damit hätte die Kirche die Unterdrückten davon abgehalten, ihre Lebenssituation durch Widerstand gegen die Machthaber zu verbessern.
Als Beleg brachte der den Evangelisten Lukas ins Spiel. In seinem Evangelium könne man das gut nachvollziehen. Sätze wie: „Eher geht ein Kamel durch ein Nadelöhr als dass ein Reicher in den Himmel kommt“ wären schließlich eindeutig und nicht misszuverstehen. Durch ihren Verrat aber habe sich die Kirche zur Freundin der Reichen und zur Feindin der Armen gemacht.
Darum war mein Geschichts-Lehrer auch wohl in der SED und nicht in der Kirche – auch das war nicht misszuverstehen.
Viele Menschen sehen das auch HEUTE noch ganz ähnlich wie er: Jesus ist ein Freund der Armen – und ein Feind der Reichen. Sie denken oder sagen es laut: Was Kirche heute tut, soll sie für die Armen tun – oder sie sollte es bleiben lassen. Sie ist entweder DIE diakonische Institution für die sozial Schwachen – oder sie hat ihre Daseinsberechtigung verloren. Das sei ihr Auftrag, den Jesus selbst ihr gegeben hätte.
Und wer dann das Lukasevangelium selbst liest, findet dafür auch Belege:
Als Jesus aufgefordert wird, einen Erbstreit zwischen zwei Brüdern zu schlichten, weigert er sich. Lukas lässt ihn sagen: Seht zu und hütet euch vor aller Habgier; denn niemand lebt davon, dass er viele Güter hat.
Oder das Gleichnis vom reichen Kornbauern, das wir als Evangelium des Erntedanktages lesen. Der Bauer baut riesige Scheunen, um seine Ernte zu speichern – und stirbt. Schluss-Satz: So geht es dem, der sich Schätze sammelt und ist nicht reich bei Gott.
Oder eben die Begebenheit mit dem Reichen, der selig werden will und der von Jesus gesagt bekommt, er solle all seine Güter verkaufen, den Erlös den Amen geben und ihm dann nachfolgen. Lukas weiter:
Als er das aber hörte, wurde er traurig; denn er war sehr reich. Als aber Jesus sah, dass er traurig geworden war, sprach er: Wie schwer kommen die Reichen in das Reich Gottes! Denn es ist leichter, dass ein Kamel durch ein Nadelöhr gehe, als dass ein Reicher in das Reich Gottes komme.
Genau der Satz also, den mein Geschichtslehrer zitierte – der Satz, der eine klare Frontlinie zu ziehen scheint. Eine Linie zwischen arm und reich, gerecht und ungerecht, ja: zwischen gut und böse. Eine Grenze, sicher wie die Berliner Mauer: Hoch, mit doppeltem Zaun, Selbstschussanlage und Mienenfeld. Keiner von drüben kommt gefahrlos nach hüben – und umgekehrt.
Ist es da verwunderlich, dass diejenigen, die das Kamelwort hörten, traurig wurden: Wenn selbst der fromme Reiche, der sein ganzes Leben lang versucht hat, sich an der Bibel zu orientieren, es offenbar nicht schafft – Wer kann dann (überhaupt) selig werden?
Jesus aber ist immer für eine Überraschung gut. In den Zuständen dieser Welt geht das nicht – bei Gott aber ist es möglich. Und genau davon, WIE es möglich wird, berichtet Lukas nur ein paar Verse später, im Predigttext für heute.
Ein anderer Reicher bleibt nämlich trotz der harten Worte neugierig. Vielleicht hat er sie auch nur übergehört? Er dürfte anders als der erste Reiche nicht einmal ein FROMMER gewesen sein. Er HEIßT zwar Zachäus, was übersetzt: Der Reine, der Gerechte bedeutet. In seinem Fall ist das aber eher Etikettenschwindel. Er ist Ober- Zöllner von Beruf.
Das war damals mitnichten ein ehrbarer Job, nicht nur, weil ein Zöllner für die unbeliebte römische Besatzungsmacht arbeitete. Sondern auch, weil sie nur dann etwas werden konnten, wenn sie anderen möglichst viel Zoll abnahmen. Darum machte man um diese Berufs- Betrüger wenn möglich einen weiten Bogen.
Dieser Ober- Zöllner Zachäus nun will über Jesus wissen, „wer er denn sei“. Und das ist gar nicht so einfach. Lukas erzählt nämlich, dass er ziemlich klein geraten ist und es ihm daher auch nicht geholfen hätte, einfach in der Menschenreihe an der Straße stehen zu bleiben. Darum klettert er auf einen Maulbeerbaum, um von da besser sehen zu können. Vielleicht auch, ohne selbst gleich entdeckt zu werden. Aber das bleibt Mutmaßung.
Weiter schreibt Lukas in unserem Predigttext Kap.19:
…Als Jesus an die Stelle kam, sah er auf und sprach zu ihm: Zachäus, steig eilend herunter; denn ich muss heute in deinem Haus einkehren. Und er/stieg eilend herunter und nahm ihn auf mit Freuden.
Als sie das sahen, murrten sie alle und sprachen: Bei einem Sünder ist er eingekehrt.
Zachäus aber trat vor den Herrn und sprach: Siehe, Herr, die Hälfte von meinem Besitz gebe ich den Armen, und wenn ich jemanden betrogen habe, so gebe ich es vierfach zurück.
Jesus aber sprach zu ihm: Heute ist diesem Hause Heil widerfahren, denn auch … (du bist) Abrahams Sohn.
Denn der Menschensohn ist gekommen, zu suchen und selig zu machen, was verloren ist.
Atemberaubend, wie schnell Jesus es Himmel auf Erden werden lässt. Nicht: Ha! Wen haben wir denn da, einen Zöllner im Grünen? Seht mal alle nach oben! Was will der denn da oben? Sondern: Zachäus! Komm runter! Beeil Dich! In deinem Haus will ich Gast sein!
Die freudige Überraschung des Zachäus über die ungeahnte Selbsteinladung Jesu ist offensichtlich: Er ziert sich nicht, steigt schnell herunter, führt Jesus in sein Haus. Diese überraschende Zuwendung zu ihm, so ganz ohne Bedingung oder Moralpredigt, öffnet sein Herz.
Vom Rand der Gesellschaft in die Gemeinschaft seines Hauses. Da wird es ihm ein Leichtes, zu sagen: Ich will mich bessern, mein Leben ändern! Und Jesus zu ihm: Alles ist gut. Du gehörst zum Volk Gottes, und Gott gibt niemanden verloren. Darum bin ich hier; darum geschieht deinem Haus das Heil.
Es ist nicht erzählt, dass Zachäus nun arm wird. Auch nicht, dass seine Besserung Bedingung dafür war, das Jesus zu ihm kam. Genau umgekehrt wird ein Schuh daraus. Der Reiche gerät ohne wirkliche Mühe in den Himmel -weil der Sohn Gottes Zachäus nicht am Wegrand im Vorbeigehen sitzen lässt.
Jesus besucht den Reichen. Er tut das ganz ohne Gastgeschenk, nicht einmal Blumen hat er dabei. Nur sich selbst. Nur darauf kommt es an. Sehr wahrscheinlich essen sie gut miteinander. Dorthin, wo sonst die Familie, die Freunde sitzen, setzt sich der Sohn Gottes. In das Haus des Betrügers tritt die Gerechtigkeit Gottes, und alles ändert sich.
Meine Schwestern, meine Brüder:
Wo stehen wir in dieser Geschichte? In unserer Zeit ist vielen der verfassungsmäßig verbriefte Schutz der eigenen vier Wände so wichtig geworden, dass sie zu glauben scheinen, dass Besuche ohne Hausdurchsuchungsbefehl eigentlich illegal seien. Besuch – wer keinen einlädt, bekommt auch keinen.
Und wenn man sich dann doch aufmacht, muss man irgend etwas mitnehmen, weil man sich sonst schlecht fühlt. Irgendein Mitbringsel, man muss es ja nicht unbedingt Geschenk nennen. Eine Flasche Wein, einen Blumenstrauß, eine Schachtel Pralinen.
Und dann meldet man sich vorher an. Man will ja nicht mit einem Einbrecher verwechselt werden. Oder den anderen im Schlafanzug und ohne Makeup erwischen.
Anders herum: Wenn plötzlich einer unangemeldet vor der Tür steht und klingelt, gellt es in manchen Ohren wie eine Alarmglocke: Ist bei mir aufgeräumt? Staubgewischt? Abgewaschen? Kann ich hier jemanden hereinlassen?
Und wenn es gar ein Unbekannter ist: Was kann der wollen? Will der betteln? Und überhaupt: Ich hatte gerade anderes vor, am besten ich tu so, als wäre ich nicht da, dann geht der auch wieder.
Viele wären also sicher schon damit überfordert, wenn heute einer käme und sagen würde: Komm, ich will heute bei Dir zu Gast sein, lass uns in deine Wohnung hineingehen und gemeinsam essen! Das Sprichwort „Gast im Haus ist Gott im Haus“ stammt ja nicht von hier, sondern aus Polen. Die haben es vielleicht leichter damit.
Zachäus ist mit Sicherheit auch überrascht worden. Wenn er sich bei Jesus hätte vordrängeln wollen, hätte er sich ihm einfach in den Weg gestellt und ihn eingeladen. Aber er wollte ihn nur gesehen haben, diesen Jesus, von dem alle sprachen.
Dann aber ergreift er die Gelegenheit beim Schopf. Ohne zu zögern nimmt er die Selbsteinladung Jesu an, nimmt ihn mit in seine eigenen vier Wände, setzt sich mit ihm zu Tisch. Sein Mut wird belohnt, und sein wir ehrlich: Diese Grunderfahrung machen wir auch immer wieder einmal. Wenn wir Menschen kennenlernen, in deren Gesellschaft wir uns wohl fühlen, die uns etwas zu sagen haben, denen wir etwas anvertrauen können.
Aber das ist bestenfalls die halbe Botschaft unserer Geschichte.
Denn hier lädt sich nicht irgendein Mensch bei irgendeinem Menschen ein. Hier geht Gott selbst zu einem, der durch Betrug reich geworden ist. Das ist, genau besehen, mehr, als viele ertragen können.
Darum ist das Murren von damals auch heute lange nicht verstummt. Denn seit dem Sündenfall ziehen die Menschen selbst die Grenzen zwischen Gut und Böse. Sie durchziehen die Köpfe der Menschen: Was will der denn hier? War der nicht früher beim Staatssicherheitsdienst? Oder doch zumindest eine rote Socke? Meint der wirklich, es müsse sich jetzt um ihn drehen? Sollte der nicht erst einmal fragen, welcher Platz hier überhaupt noch frei ist?
Genau diese Fragen stellt Gott nicht. Jesus sagt gerade nicht: Zachäus, bereue dein sündiges Leben, dann werde ich auch in dein Haus kommen. Gott verurteilt nicht, Gott geht dem nach, der verlorenzugehen droht. DADURCH geschieht das Heil. Daraus entsteht die Umkehr, die Buße. Die sichere Absolution macht die Beichte möglich.
Also sollten wir heute mindestens zweierlei mit nach Hause nehmen: Die Selbsterkenntnis und die Freude des Zachäus.
Tolstoi erzählt von einem König, den drei Fragen unablässig quälen: Was ist die richtige Zeit für den Beginn eines Werkes? Welche Menschen sind die unentbehrlichsten? Welches von allen Werken ist das wichtigste? Ein Einsiedler bringt den König zur Erkenntnis: Die wichtigste Zeit ist der Augenblick. Der unentbehrlichste Mensch ist der, mit dem der Augenblick uns zusammenführt. Das wichtigste Werk ist, ihm Gutes zu tun.
Zuerst also Selbsterkenntnis: Wer sich selbst einfach einlädt oder einladen lässt, wer be- sucht oder be- sucht wird, leistet keine unzumutbare Schwerarbeit. Der macht sich auf und sucht Antwort auf die Frage: Wie geht es Dir gerade? Oder sagt: So geht es mir! Ohne ein anderes Gastgeschenk in der Hand als sich selbst. Der lässt SICH finden, nicht den Blumenstrauß. Sich selbst, ein Ebenbild Gottes, von einem anderen Menschen, auch ein Ebenbild Gottes. So reißt der Himmel auf, hier geschehen Zuwendung und Liebe. Die heilen vieles im Leben.
Zweitens die Freude. Darüber, dass Jesus alle irdischen Grenzen in den Köpfen der Menschen ignoriert und zu mir, zu dir als dem unentbehrlichen Menschen des Augenblicks einkehrt. Nicht zur Moralpredigt, sondern zum Wohlsein: Essen, Trinken und Reden.
Dass du, dass ich das Reich Gottes nicht erkämpfe, sondern einfach erbe.
Unser Leben erfährt Freude, weil Gott uns über die Grenzen dieser Welt hinweg sich suchen, besuchen und finden lässt. Er sucht uns in diesem Augenblick, auch in unseren Nächsten, dem Flüchtling in unserer Stadt. Er sucht uns, auf dass wir Heil erfahren:
Die Liebe Gottes, die Gnade unseres Herrn Jesus Christus und die Gemeinschaft des Heiligen Geistes. Sie werden unser Leben bestimmen. Jetzt und für immer. Amen