Kurt Marti:
Auch ich kann nicht beten.
Ich glaube,
man sieht uns allen an,
dass wir nicht beten können.
Man sieht es auch denen an,
die weiterhin beten
oder zu beten meinen.
Dennoch kann ich mir
die Sprache einer besseren Zukunft
nicht vorstellen
ohne etwas
wie Gebete.
Rogate! Betet!
Gelobt sei Gott, der mein Gebet nicht verwirft
noch seine Güte von mir wendet!
Ps 66, 20
***
Das Evangelium nach Johannes malt das Leben. Es sind viele, wirklich gute Bilder. Und doch ist es selbst mit diesen guten Bildern nicht besser als mit den vielen Fotos, die ich mache: Nie sind sie perfekt. Nie ist alles darauf, irgendetwas fehlt immer, oder gerade das, worauf es ankommt, ist unscharf. Oder verwackelt.
Und doch kann man sich an guten Bildern nicht satt sehen, ist fasziniert von der Technik des Malers, findet immer neue Einzelheiten, Strukturen, Farben… So ist es, das Leben nach Johannes. Mit all seinen Schärfen und Unschärfen, mit all dem, was sie einen sehen lassen. UND was sie einem vorenthalten.
Auch das macht ein gutes Bild für mich aus. Denn das, was es mir vorenthält, gewinnt doch irgendwie Gestalt. In mir drin, in meiner eigenen Phantasie, in meinem eigenen Kopf. Ein gutes Bild wird in mir lebendig. Auch die Bilder, die Johannes vom Leben malt.
(Joh 13,1) Vor dem Passafest aber erkannte Jesus, dass seine Stunde gekommen war, dass er aus dieser Welt ginge zum Vater. Wie er die Seinen geliebt hatte, die in der Welt waren, so liebte er sie bis ans Ende.
Der Titel dieses Bildes heißt vielleicht: Jesus bereitet seine Jünger auf den Abschied vor. Es ist ihm anzusehen, dass er sich um sie Sorgen macht. ER wird ans Kreuz gehen müssen. SIE werden ohne ihn leben müssen.
Nicht nur weiter LEBEN, sondern auch weiter GLAUBEN. Das würde nicht leicht werden. Wie sollen sie auch verstehen, dass er sterben muss? Wie sollen sie glauben, dass Gott der Herr dieser Geschichte ist? Und dass diese Geschichte ein gutes Ende findet?
Da wird keine einfache Erklärung reichen. Kein: „so steht es doch schon bei den Propheten geschrieben“ oder „Kopf hoch, nur Fledermäuse lassen sich hängen“. Da wird Jesus viele und klare Worte sprechen müssen. Und Johannes viele Bilder malen.
Das erste Bild dieser Reihe: Jesus wäscht seinen Jüngern vor dem Abendmahl die Füße. Es ist nicht zu übersehen, wie unwohl Petrus sich dabei fühlt, auch wenn er es letztlich geschehen lässt. Und Judas ist nur noch von hinten zu sehen. Er verlässt den Raum. Die Jünger wissen nicht, was ihnen geschieht. Keiner von ihnen. Selbst Petrus, der Fels nicht.
Dann das Bild vom weinenden Petrus und dem Hahn, der sich nach dem Wind dreht, immer und immer wieder. Man meint fast zu hören, dass er dabei quietscht. Dieser merkwürdige Hahn, der heute viele Kirchtürme schmückt. Viele fragen sich ja, wie er da raufgekommen sei, dieser Hahn aus goldenem Blech. Sie könnten die Antwort kennen, wenn sie sich dieses Bild des Johannes genauer angesehen hätten.
Hier: Das Bild von dem Weinstock. Der Betrachter findet sich in den Reben wieder. Der Weinstock selbst überdauert die Zeit des Lebens, er wird liebevoll behütet, beschnitten und gewässert, so dass die Reben wachsen können.
Die Jünger werden sich gefragt haben: Lebe ich selbst so? Behütet, gepflegt und gewässert durch die Liebe Gottes? Wenn nicht: Wäre es nicht wirklich an der Zeit?
Jetzt: Das Bild von der Frau, die ihr Neugeborenes glücklich in den Armen hält. Ihre Haare sind noch schweißnass; ihr sind die Anstrengungen und Schmerzen der letzten Stunden ins Gesicht geschrieben. Doch ihre Augen: die strahlen vor Freude. Ihr Kind in ihrem Arm. Die Schmerzen liegen hinter ihr. Jetzt ist da nichts als Glück und grenzenlose Freude.
Die Jünger würden liebend gern auf solche Schmerzen verzichten. Sie waren bisher ganz froh, dass die Frauen die Kinder bekommen und nicht sie. Und doch ahnen sie, dass auch sie um Schmerzen nicht herumkommen werden. Und dass die stärker werden könnten, als sie sie OHNE Schreie ertragen könnten.
Ob sie glauben können, dass schließlich auch ihre Augen vor Freude strahlen werden? Weil sie den Vater erkennen? Weil der Geist ihren Trost spendet? Weil sie Jesus wiedersehen? Wird das überhaupt jemals geschehen? Und wenn ja:
Wie sollen sie die Zeit bis dahin überstehen?
Betet! Redet mit Gott! Redet mit ihm, weil ihr mich kennt! Jetzt die Bilder unseres Predigtabschnitts aus Johannes 16 zu Rogate.
(23 f) „Wahrlich, wahrlich, ich sage euch: Wenn ihr den Vater um etwas bitten werdet in meinem Namen, wird er’s euch geben… Bittet, so werdet ihr nehmen, dass eure Freude vollkommen sei.“
Johannes malt hier Gott selbst. Ja, du sollst dir kein Bildnis machen. Aber Johannes spielt so mit Licht und Schatten, Schärfen und Unschärfen, Farben und Formen, dass es Freude bereitet, hinzusehen.
Wir sehen keinen Zauberer, der mit seinem Stab rührt und damit machen kann, was immer er will. Keinen Tyrannen, der mit Blitzen und Hammer in der Hand Widerspruch mit Gefängnis oder gar mit Folter oder Tod bestraft.
Die Augen Gottes haben viel gesehen, Schmerz und Tod sind ihnen nicht fremd. Und doch strahlen sie Liebe und Wärme aus. Ein Vater, der nach seinem Kind sieht. Irgendwie sind seine Augen den Augen der Frau von eben nach der Geburt sehr ähnlich. Augen, die nichts lieber ansehen als eben dieses Kind.
Neben, genauer eher hinter dem Kind steht Jesus selbst. Eine Hand hat er auf dessen Schulter gelegt. Ihr sanfter Druck scheint zu sagen: Los, trau dich. Du hast dich getraut, mit mir zu reden. Das ist dir doch auch nicht SO schwer gefallen. Es muss dir auch jetzt nicht schwerer fallen.
Ein bisschen erinnert mich das an meine Kinderzeiten. Wenn ich etwas ganz dringend wollte, habe ich es oft erst bei meiner Mutter versucht. Mutti, kannst Du nicht mal mit Vati reden?
Mir war dieser Umweg irgendwie logisch. Denn meine Mutter sah ich ganz einfach öfter als meinen Vater. Nicht viel, aber doch öfter. Oft war sie wenigstens abends früher zuhause als er. Nicht selten sah sich ihn vor dem Schlafengehen gar nicht mehr, erst morgens wieder, und da war meist wenig Ruhe. Mutti, kannst du ihn nicht schon mal fragen?
Und wenn Mutter dann sagte: Das geht schon in Ordnung, bitte ihn doch morgen selbst!, dann fühlte ich: Das wird schon klappen. Auch wenn ich aufgeregt blieb.
Das Gebet ist noch mehr Aufregung, denn es bleibt Wagnis. Schließlich spricht man im Gebet jemanden an, den man nicht hören, nicht greifen, nie kennen kann; dessen Antworten man oft nur schwer versteht.
Aber da ist Jesu Hand plötzlich auch auf meiner Schulter: Du hast dich doch auch irgendwann getraut, mit mir zu reden. Wie mit einem Freund. Jetzt rede mit ihm. Wie mit einem Vater.
In den Augen des Kindes wächst Hoffnung. Die Hoffnung, dass seine Bitte erfüllt werden könnte. Und seine größte Bitte ist: Dass aller Schmerz zu Ende gehen und wieder Freude ins Leben einkehren würde.
Der größte Wunsch der Jünger ist kein anderer. Jesus macht ihnen Mut: Redet mit Gott. Er wird sehen, wie es euch geht. Er wird euch nicht allein lassen. Die Freude wird in euer Leben zurückkehren und euch erhalten bleiben: Gott wird es euch schenken.
(26-28) „… Und ich sage euch nicht, dass ich den Vater für euch bitten will; denn er selbst, der Vater, hat euch lieb, weil ihr mich liebt und glaubt, dass ich von Gott ausgegangen bin. Ich bin vom Vater ausgegangen und in die Welt gekommen; ich verlasse die Welt wieder und gehe zum Vater.“
Wenn man genau hinsieht, kann man erkennen, dass Jesus dem bittenden Kind wirklich nur zur Seite steht. Wie ein guter Lehrer aufmunternde Worte und die richtigen Argumente findet. Nicht an seiner Statt redet, sondern ihm die Angst nimmt, selbst zu reden.
Wenn Du die Zeit des Schmerzes überstehen willst, wenn Du die Freude des Glaubens finden und behalten willst, dann rede mit Gott. Das machst Du doch in deiner Familie, deinen Freunden, deinen Nachbarn auch nicht anders: Wenn Du willst, dass alles gut wirst, redest Du mit ihnen.
Rede auch mit Gott, er versteht deine Sprache so wie ich sie verstehe. Und dann höre, was er dir zu sagen hat.
Hab auch da keine Angst: Du wirst verstehen, was er dir zu sagen hat. Du hast ja auch deinen Ehemann irgendwann verstehen können. Und auch mich hast du schließlich irgendwann verstehen können.
Es wird also nicht viel schwerer sein, als die Menschen oder Tiere zu verstehen, die du täglich um dich hast. Denn auch Gott wirst du täglich um dich haben, und Gott liebt dich ebenso wie mich.
Die Jünger erinnert dieses Bild an die innige Beziehung zwischen Jesus und seinem himmlischen Vater. Daran, dass nie ein Blatt Papier zwischen die beiden gepasst hat.
Sie sehen jetzt, dass das auch so bleiben wird. Egal was passiert. In ihnen wächst der Wunsch, dass ihre eigene Beziehung zu Gott der Beziehung zwischen Gott und Jesus immer ähnlicher wird. Zu einer Beziehung wird wie zwischen Kindern und einem Vater, der sie mehr liebt als alles.
Aber selbst wenn es diese Beziehung gibt, selbst wenn alles Leid einmal zu Ende, selbst WENN aller Schmerz irgendwann vorbei sein sollte: Die ANGST vor Leid und Schmerz bleibt. Angst vor dem Unbekannten, dem sie nicht gewachsen sein könnten. Was wird, wenn der Vorsatz stark zu bleiben nicht ausreicht? Wenn sie jammern, schlapp machen, weglaufen, wie Hühner in alle Himmelsrichtungen auseinander stieben?
(32 f)… Siehe, es kommt die Stunde und ist schon gekommen, dass ihr zerstreut werdet, ein jeder in das Seine, und mich allein lasst.
Aber ich BIN nicht allein, denn der Vater ist bei mir.
Das habe ich mit euch geredet, damit ihr in mir Frieden habt: In der Welt habt ihr Angst; aber seid getrost, ich habe die Welt überwunden.
Dichter Rauch, der die Sonne verdunkelt. Feuer, dass Leben vernichtet. Hitze, die einem den Atem nimmt. Aber hinter all dem: Schattige Gärten voller Blüten und Früchte, Sonne und Meer. Hier lebt man ohne Sorge vor dem Morgen.
Meine Schwestern, meine Brüder:
Fast zu schön, um wahr zu sein, denken die Jünger. Aber ihre Augen bleiben an diesem Garten, er nimmt sie ganz in seinen Bann. Sie versuchen, sich vorzustellen, wie das Leben dort sein kann. In ihnen breitet sich Wärme und Ruhe aus. Die Angst in ihnen wird kleiner. Sie beginnen zu ahnen, was Frieden wirklich sein kann.
Freude wird in ihnen wach. Wie hat das alles begonnen, was hat diese Wende von der Angst zur Freude möglich gemacht? Sie gehen zurück zum Anfang des Bildes.
Rogate- Betet! Die Jünger – Frauen und Männer, Kinder und Greise, hatten sich ein Herz gefasst und mit Gott Vater gesprochen. Wie ihre Eltern vor ihnen. Wie ihre Urenkel nach ihnen.
Sie hatten sich alles von der Seele geredet. Ihren Widerspruch, ihren Ärger, ihre Sorgen, ihre Wünsche. Und spüren können, dass Gott ihnen zugehört hat. Und jetzt wissen sie, dass sie das näher zu Gott bringt. So nah, dass sie beginnen, ihn zu verstehen.
Und sie hören: Gott spricht. Er spricht JETZT.
Seid getrost!
Dann werdet ihr nehmen,
dass eure Freude vollkommen sei.
Vollkommene Freude:
Die Gnade Jesu Christi, die Liebe Gottes und
die Gemeinschaft des Heiligen Geistes
werden unsere Leiber und Seelen bewahren –
unser Leben und die Ewigkeit lang.
AMEN