(Röm 11, 25-32)
Eltern und Kinder. Manchmal haben sie es sehr schwer miteinander.
Freitag 20:15 im ZDF – „Der Staatsanwalt“. Eine Mutter- Sohn Beziehung der sehr besonderen Art.
Der Vater hatte das Schiff verlassen, lange bevor es zu sinken begann. Sie zieht das Kind allein groß, braucht zwei Jobs, um genug Geld zu verdienen. Zeit für das Kind bleibt da nur wenig.
Der Sohn gerät auf die schiefe Bahn. Seine Mutter leidet, versucht viel, hat aber letztlich keine Chance, ihren Sohn zu erreichen. Der tanzt ihr schmerzhaft auf der Nase herum. Er gibt sich später mit Hehlern und Dealern in großem Stil ab. Nutzt seine Mutter aus, wo er nur kann,
Bei einem schweren Raub wird er Zeuge eines Auftragsmordes und handelt mit der Staatsanwaltschaft einen Deal aus: Milde Strafe gegen Zeugenaussage im Mordfall. Er kommt in ein Zeugenschutzprogramm, wird aber in seiner Unterkunft aufgespürt und beinahe umgebracht.
Der Sohn begreift spät, dass seine Mutter ihn verraten hat. Sie hatte es satt, sich von ihrem Sohn das Leben demontieren zu lassen. Auch sie wollte einmal auf der Sonnenseite des Lebens stehen, ein neues Auto fahren, nach Herzenslust einkaufen.
Am Schluss: Was Mutter und Sohn einmal verband, reicht für das Jetzt nicht mehr aus. Der Sohn geht seiner Wege. Die Mutter sieht ihm hinterher, als verstünde sie selbst nicht, was alles passiert ist. Schlusskommentar: Man kann sich seine Eltern nicht aussuchen. Antwort: Und seine Kinder auch nicht.
Niemand von uns möchte in der Haut von Mutter oder Sohn stecken. Nicht einfach nur weil schwere Verbrechen im Spiel sind.
Niemand will erleben müssen:
Dass die Liebe zwischen Eltern und Kindern nicht mehr für das Leben zu reichen scheint.
Dass man von den eigenen Wurzeln abgeschnitten wird.
Dass man einen Teil seines Selbst verliert.
Dass ein Fundament des Lebens zerbricht.
Dass alles, an das man gemeinsam glaubte, plötzlich Altpapier ist. Dass eine Beziehung zerbricht, die doch für das ganze Leben halten sollte.
Dies ist eine Katastrophe – für jedes Leben.
Was im Kleinen gilt, gilt auch im Großen.
Paulus hat in Jesus von Nazareth den gefunden, der ihm den Glauben seiner Väter aufgeschlossen hat. Er hat verstanden, dass die Liebe seines Gottes den Menschen so nahe gekommen ist, dass sie in Freiheit aufatmen. Jetzt weiß Paulus, wofür er lebt. Er wird einer der ersten Theologen in der Gemeinschaft der Menschen, die Jesus von Nazareth folgen.
Jetzt aber muss er erleben, wie die Wege seines Volkes und die Wege der Nazarener sich trennen. Dass das, woran sie beide glauben, für das Jetzt nicht mehr reicht.
Dass er von seinen Wurzeln abgeschnitten wird.
Dass er seine Familie verliert, die doch noch am Leben ist.
Dass eine Beziehung zerbricht,
die doch die stärkste sein sollte
auf dieser Welt.
Seine Trauer darüber ist tief- jeder hat sie gespürt, der die Epistellesung aus seinem Brief an die Römer (9,1-8.14-16) gehört hat. Man ist erinnert an die Tränen, die Jesus über Jerusalem vergossen hat.
Paulus aber wäre kein Theologe, wenn er diese Lebenskatastrophe nicht grundsätzlich bedenken würde. Denn mit ihr steht die Frage im Raum: Kann Gott seine Versprechen brechen? Kann er seinem Volk seine Liebe entziehen?
An der Antwort auf dieser Frage hängt vieles, wenn nicht gar alles. Es geht gerade NICHT um die alte Frage, welche Religion nun die richtige sei und ob es eine falsche gäbe.
Der Glauben kann doch nur leben, was er erkennen kann. Einzig Gott aber sieht alles – der Mensch doch nur, was ihm vor Augen liegt. Gerade in der Frage der Religion kann es darum kein Richtig und kein Falsch geben. Nur das Mühen um das Jetzt.
Es geht vielmehr um die Frage nach der Hoffnung auf Leben. Wenn Gott seine Zusagen zurückzöge – worauf sollte sich denn Hoffnung aufbauen lassen? Welches Fundament kann man finden, wenn sich ein altes in Sand auflöst? Also: Belegt die Geschichte, dass Gott irrt?
Paulus führt diese Frage in seinem Brief an die Römer zu folgendem Schluss, ich lese den Predigttext aus Römer 11 ab Vers 25 in der Neuen Genfer Übersetzung:
25 Ich möchte euch, liebe Geschwister, über das Geheimnis der Absichten Gottes mit Israel nicht im Unklaren lassen, damit ihr nicht in vermeintlicher Klugheit aus der gegenwärtigen Verhärtung Israels falsche Schlüsse zieht.
Es stimmt, dass ein Teil von Israel sich verhärtet hat, aber das wird nur so lange dauern, bis die volle Zahl von Menschen aus den anderen Völkern zum Glauben gekommen ist. 26 Wenn diese Voraussetzung erfüllt ist, wird ganz Israel gerettet werden. Es heißt ja in der Schrift:
»Aus Zion wird der Retter kommen, der die Nachkommen Jakobs von all ihrer Gottlosigkeit befreien wird. 27 Denn das ist der Bund, den ich mit ihnen schließen werde, sagt der Herr:
Ich werde ihnen die Last ihrer Sünden abnehmen. «
28 Ihre Einstellung zum Evangelium macht sie zu Feinden Gottes, und das kommt euch zugute.
Andererseits folgt aus der Wahl, die Gott getroffen hat, dass sie von ihm geliebt sind. Er hat ja ihre Stammväter erwählt, 29 und wenn Gott in seiner Gnade Gaben gibt oder jemand beruft, macht er das nicht rückgängig.
30 In der Vergangenheit wart ihr es, die Gott nicht gehorcht hatten, und durch den Ungehorsam Israels ist es dazu gekommen, dass ihr jetzt sein Erbarmen erfahren habt. 31 Umgekehrt sind sie es, die gegenwärtig Gott ungehorsam sind, und dass ihr dadurch sein Erbarmen kennen gelernt habt, soll dazu führen, dass schließlich auch sie sein Erbarmen erfahren. 32 So hat Gott alle ohne Ausnahme zu Gefangenen ihres Ungehorsams werden lassen, weil er allen sein Erbarmen erweisen will.
Soweit Paulus im Brief an die Römer. Für ihn steht fest: An Israel zeigt sich, ob die Menschen sich wirklich auf Gott verlassen können.
Es schmerzt ihn, dass ein großer Teil Israels der befreienden Botschaft Jesu keinen Glauben schenkt. Dass dieser Teil weiterhin zu glauben scheint, dass der Mensch in der Lage wäre, durch eigenes Tun Lebensschuld zu verhindern.
Dieser Unglaube ist auch nicht zu entschuldigen, denn die Botschaft der Liebe Gottes ist durch Jesus aufgeschlossen und für jeden unüberhörbar. Aber das ist nur Verstockung, ein nicht Hören Wollen des Menschen. Es ist keinesfalls die Abwendung Gottes von seinem Volk.
Diese Verstockung kann aber gar nicht länger dauern, als bis die Völker in den Ölbaum Israel eingepfropft sind. Dieses Bild hat Paulus kurz vor unserem Text gebraucht. Ein schönes Bild. Gott als Gärtner: Verstockung endet durch Einpfropfen.
Einpfropfen in das Gottesversprechen, dass durch den Propheten Jesaja allen zu Ohren gekommen ist (Jes 59,20): Gott selbst wird es sein, der den Menschen „die Last ihrer Sünden abnehmen“ wird.
Jesus hat das getan. Er hat den Himmel aufgeschlossen, er schließt den Himmel auf. Wer diese Botschaft hören kann, ist gerettet – und diese Botschaft wird ganz Israel hören. Denn Gott hat beschlossen, jedem im seinem Volk Erbarmen zu schenken.
Meine Schwestern, meine Brüder,
Dieser 10. Sonntag nach Trinitatis wird in der Evangelischen Kirche als Israelsonntag begangen.
Sein Thema ist die eine Grundkatastrophe des Lebens, die Thema bleibt. Auch für uns.
Von der Abfassung unseres Textes trennen uns 19 Jahrhunderte einer schuldbeladenen Geschichte zwischen Juden und Christen. Aus der anfänglichen Feindschaft vieler Juden gegen Christen wurde sehr früh eine Feindschaft vieler Christen gegen Juden.
Ihr trauriger Höhepunkt: Die Hölle von Auschwitz, von der Eli Wiesel schreiben muss:
„Niemals werde ich diesen Rauch vergessen. Niemals werde ich die kleinen Gesichter vergessen deren Leiber ich verwandelt sah in dem ringelnden Rauch unter einem blauen Himmel. Niemals werde ich diese Flammen vergessen, die meinen Glauben auf immer verzehrten. Niemals werde ich jene nächtliche Stille vergessen, die mich in alle Ewigkeit des Wunsches beraubte zu leben. Niemals werde ich jene Momente vergessen, die meinen Gott und meine Seele mordeten und meine Träume in Staub verwandelten. Niemals werde ich diese Dinge vergessen, selbst wenn ich verdammt bin, so lange zu leben wie Gott selbst. Niemals.“
Auch die Gnade der späten Geburt kann uns diese Erschütterung unseres Lebens nicht ersparen. Niemals, auch heute nicht.
Auschwitz war nur möglich, weil Menschen sich von der Liebe Gottes abwenden. Weil sie die gemeinsamen Wurzeln in den Shredder schieben. Weil ihnen der gemeinsame Glaube weniger wert ist als das eigene Streben nach Herrschaft – an genau der Stelle, wo doch Gott die Herrschaft innehat. Wo Menschen versuchen, die Rolle Gottes zu übernehmen.
Auschwitz ist menschenmöglich, weil Stimmen wie die des Paulus nicht gehört wurden. Und auch heute sind wieder Stimmen lauter als seine, und bei denen stellen sich mir die Nackenhaare auf.
Ich höre zwar niemanden, der allen Ernstes versuchen würde, dem palästinensischen Volk das Recht auf Existenz und auf einen eigenen Staat grundsätzlich abzusprechen. Aber ich höre immer noch laute Stimmen, die Israel diese Rechte absprechen.
Ich erlebe selbst unter uns Menschen, die rechthaberisch besser wissen, was das wunde Israel gegen den Terror der Hamas zu unternehmen habe und was es zu lassen habe. Ich erlebe Menschen, die den Juden vorwerfen, unter sich bleiben zu wollen, und den Christen, dass sie missionieren. Ich erlebe Menschen, die unter dem Mantel der Religionskritik versuchen, Tagespolitik zu machen.
Dieser Sonntag aber mahnt uns weiter, die Fragen der Tagespolitik nicht durch und vor den Fragen des Glaubens zu beantworten.
Und unser Glaube lässt uns wissen:
Wir haben nicht VIELLEICHT eine gemeinsame Zukunft:
Wir haben NUR eine gemeinsame Zukunft.
Wenn die Liebe zwischen Christen und Juden sich nicht bewähren würde, hätte die Liebe versagt. Damit aber hätte Gott versagt, das aber ist ausgeschlossen.
Gott wird unsere gemeinsamen Wurzeln nicht in den Shredder schieben. Er hat in Christus gezeigt, wie ernst er es meint: Mit Israel, mit den Völkern. Einzig die Liebe ist es, die uns alle retten wird. Nur sie wird Leben gelingen lassen.
Juden und Christen gehören zusammen- in Liebe für immer:
Wir glauben gemeinsam/ an den einen Gott, der die Welt geschaffen und Israel zu seinem Volk erwählt hat.
Wir hören gemeinsam/ auf dieselbe Heilige Schrift. Sie hat Gottes heiligen Willen im Gesetz offenbart. Sie verheißt durch die Propheten Israel und der Völkerwelt das endzeitliche Heil.
Wir hoffen gemeinsam/ auf das Handeln Gottes, der Israel von seinen Sünden reinigen wird und sein Werk an der Völkerwelt in Herrlichkeit vollenden wird.
Wir erwarten also GEMEINSAM das Handeln des Messias. Das Handeln des Christus, der von dem der jüdischen Neutestamentler Pinchas Lapide als Heiland der Heiden erkannt wird und von dem er schreibt:
„Er mag auch der künftige Messias Israels sein – doch das werden wir erst erfahren, sobald er kommt / oder wiederkommt.“
Wir hoffen gemeinsam auf den Advent Gottes.
Und je früher er in unser Leben tritt, desto besser für uns.
Niemand sollte sich davon abbringen lassen, denn der Advent Gottes ist größer als all unser Denken es fassen kann. Sein Friede bewahrt unsere Herzen und Sinne in Christus Jesus. Amen.
Nächster Termin: 7. September, 10 Uhr Ritterstraße 94 in Brandenburg, 18 Uhr Dorfkirche zu Hohenbruch