Das Ende des Reformier-Stresses (5 Mose 6 4-9)

Unseren Gottesdienst am Gedenktag der Reformation zum Nachhören finden Sie für vier Wochen hier.

Kirche – sie steht in der Brandung kurzlebiger Zeit
NICHT wie ein Fels.
Wer will, dass unsere Kirche bleibt, wie sie ist,
will nicht, dass sie bleibt.
Denn so wie ich lebe,
so wie du lebst,
so ist Kirche
LEBENDIG.
Und was lebt,
kann nicht anders,
als sich zu ändern.

Woran aber bindet Kirche ihr Leben?
Woran kann Kirche sich festhalten?
Woran erkennt Kirche ihr Ziel?

Kirche hat nur ein Fundament,
auf dem sie stehen kann:

Einen andern Grund
kann niemand legen als den,
der gelegt ist,
welcher ist Jesus Christus.
(WSp 1 Korinther 3,11)
***

Ich hatte kürzlich das Siegel unseres Kirchenkreises in Händen.
Die Umschrift ist: Reformierter Kirchenkreis Berlin Bindestrich Brandenburg. Ein alter Name aus Zeiten, in denen der Name unserer Landeskirche noch hinter dem Brandenburg zu Ende war.

Und doch stimmt der Name immer noch: Denn die einzige reformierte Gemeinde in der schlesischen Oberlausitz, nämlich die in Görlitz, gehört zwar jetzt in die Landeskirche, aber nicht zu unserem Kirchenkreis.

Die Umschrift auf dem Siegel wird oben durch die von oben nach unten fliegende Taube getrennt, wie sie in reformierter Symbolik oft zu sehen ist, nicht nur auf Siegeln, auch an Ketten oder Anstecknadeln zum Beispiel.

In der Mitte des Siegels dann ein stilisiertes, aufgeschlagenes Buch, die Bibel. Und unter der Bibel drei lateinische Worte: Ecclesia semper reformanda. Eine Formel, die übertragen bedeutet: Kirche muss sich immer reformieren.
Reformieren wörtlich: Zurück in die Form bringen, wiederherstellen;
übertragen: Umformen, erneuern, verbessern, umgestalten.

Und ich kenne niemanden innerhalb der Kirche, der hier grundsätzlich widersprechen würde. Denn alles, was lebendig ist, verändert sich. Und was sich verändert, muss sich immer neu fragen, ob diese Veränderung nützlich oder schädlich ist, und gegebenenfalls gegensteuern, reformieren eben.

Und das eben: Immer. Der 31. Oktober 1517, an den unser Gedenktag heute erinnert, war also nur ein Augenblick in diesem „Immer“.

Nur leider bedeutet dieses „Immer“ auch Stress. Man denke nur an Reform des Bürgergeldes, das jetzt mal wieder Grundsicherung heißen soll. Den einen geht die Reform nicht weit genug und nennen sie „Reförmchen“, die anderen drohen mit Mitgliederentscheid und Koalitionskrieg.

Und wenn man sich dann irgendwie doch auf irgend einen Kompromiss einigt, ist die nächste Reform damit schon angesagt. Das ist anstrengend, und für viele ist es deutlich mehr als das, für sie ist es unerträglich. Denn:
Worauf kann man sich denn noch verlassen, wenn der Beschluss von heute morgen Makulatur ist?

Was für die Politik gilt, gilt erst recht für Kirche.
Denn gerade hier suchen Menschen nach dem, was trägt, was Wahrheit ist und bleibt. Sie suchen nach einem Fundament, das das Leben mit all seinen Reformen und Reförmchen auszuhalten und zu tragen vermag. Menschen suchen hier „ein feste Burg“ und kein Paddelboot im Wildwasser.

Wie also kann das zusammen gehen: „Ein feste Burg“ und „Ecclesia semper reformanda“, OHNE dass der Reformier-Stress einem die Freude am Leben in der Gemeinde nimmt?

Diese Gefahr ist nicht zu unterschätzen. Denn wenn man selbst in seiner Burg immerzu Angst haben muss, dass sie einstürzt, lebt man lieber unter freiem Himmel. Also ohne Kirche, das ist dann sicherer.

Und die vielen Menschen, die Kirche verlassen oder kein Interesse mehr an ihr haben, scheinen das offenbar genauso zu sehen. Die Schrecken der Kirchenmitgliedschafts-Untersuchung von 2023 steckt uns allen noch in den Gliedern. Wie also soll „Ecclesia semper reformanda“ funktionieren?

Als Bibeltext ist für heute ein Abschnitt aus dem Buch Deuteronomium, also dem 5. Buch Mose ausgewählt, Kapitel 6 ab Vers 4:

4 Höre, Israel, der HERR ist unser Gott, der HERR ist einer.
5 Und du sollst den HERRN, deinen Gott, lieb haben von ganzem Herzen, von ganzer Seele und mit all deiner Kraft.
6 Und diese Worte, die ich dir heute gebiete, sollst du zu Herzen nehmen
7 und sollst sie deinen Kindern einschärfen und davon reden, wenn du in deinem Hause sitzt oder unterwegs bist, wenn du dich niederlegst oder aufstehst.
8 Und du sollst sie binden zum Zeichen auf deine Hand, und sie sollen dir ein Merkzeichen zwischen deinen Augen sein,
9 und du sollst sie schreiben auf die Pfosten deines Hauses und an die Tore.

„Höre, Israel“ – Schima Jisrael –
das jüdische Glaubensbekenntnis schlechthin.
Es ist der erste Bibeltext, den ein jüdisches Kind lernt.

Fromme Juden sprechen es zwei Mal täglich, morgens und abends. Sie legen dabei zwei Lederriemen, die Tefillin, um Arm und Kopf. An diesen Riemen ist eine Kapsel, und in dieser Kapsel ein handbeschriebenes Pergament mit diesen Worten.

Auch an den Türpfosten der Häuser bringen sie solche Kapseln an. Als stete Erinnerung daran, was das Wesen des jüdischen Glaubens ausmacht:
Jahwe, der Gott Israels, ist der einzige Gott.

Das legt Mose seinem Volk ans Herz, in einer letzten großen Rede, bevor er dann stirbt und das Volk ohne ihn in das verheißene Land einzieht, um dort schließlich sesshaft zu werden.

Sesshaft werden: Ein großer Schritt für ein Nomadenvolk.
Denn er bedeutet ein neues, ganz anderes Alltagsleben, er bedeutet zunächst Unsicherheit. Es warten neue Herausforderungen, Probleme, Lösungen. Das „Schima Jisrael“ erinnert daran, woraus verunsicherte Menschen Sicherheit schöpfen können.

Mose wählt dazu die kürzestmögliche Form der Erinnerung, zwei hebräische Worte nur: Adonaj elohenu. In der Lutherübersetzung: „Der HERR ist unser Gott.“ Mit dem Gottesnamen wird hier die gesamte Geschichte Gottes mit seinem Volk Israel in Erinnerung gebracht.

Denkt daran, was unser Gott für uns getan hat! Wie er es nicht ertrug, dass wir als Sklaven in Ägypten schuften mussten, sondern uns aus der Knechtschaft befreite. Wie er uns aus der Todesgefahr am Schilfmeer rettete. Wie er uns auf unserem Weg durch die Wüste leitete, wie er uns am Leben hielt. Wie er uns mit seinen Geboten Orientierung fürs Leben gab.
Adonaj elohenu. Der Herr ist unser Gott.

Diese Erinnerung an den Gott Israels ist darum zugleich Israels Lebens-Orientierung. Sein Gott ist einer oder einzigartig. Beides steckt in dem hebräischen Wort. Und wer so einen einzigartigen Gott hat, auf den er sich so lange hat verlassen können, der kann das auch in Zukunft.

Deshalb: „Und du sollst den HERRN, deinen Gott, lieb haben von ganzem Herzen, von ganzer Seele und mit all deiner Kraft.“ (v. 5). Gott hat seine Liebe unter Beweis gestellt, auf sie ist Verlass: Also kann man sich auch auf sie verlassen.

Und niemand verdient die eigene Liebe mehr als dieser einzigartige Gott – ihn zu lieben von ganzem Herzen, von ganzer Seele und mit aller Kraft, also ungeteilt: Für solche Liebe zu leben ist fraglos ein gutes Ziel.

Natürlich ist das eine Frage des Glaubens, also der Hoffnung und Zuversicht auf die VERLÄSSLICHKEIT der Liebe Gottes. Und Glaube ist nie etwas Statisches, nichts, was man ein für alle Mal sicher hätte. Jeder Glaube ist Zweifel ausgesetzt. Ohne Dunkel kein Hell. Glaube ist kein Besitz, er braucht Vergewisserung.

Deshalb: „Und diese Worte, die ich dir heute gebiete, sollst du zu Herzen nehmen und sollst sie deinen Kindern einschärfen und davon reden, wenn du in deinem Hause sitzt oder unterwegs bist, wenn du dich niederlegst oder aufstehst. Und du sollst sie binden
zum Zeichen auf deine Hand, und sie sollen dir ein Merkzeichen zwischen deinen Augen sein, und du sollst sie schreiben auf die Pfosten deines Hauses und an die Tore.“

Das sagt alles über die Bedeutung der Erinnerung, ob man sie nun wortgetreu befolgen mag oder nicht. Ohne Glaubenslehre, von Kindesbeinen bis in das hohe Alter hinein, verdunstet der Glaube langsam, aber sicher, wie eine Schale Wassers in der Sonne.

Erinnerung, Orientierung, Vergewisserung:
Schima Jisrael. „Höre, Israel“. Der Herr ist unser Gott.
Das ist alles, was Israel je brauchen wird.

Meine Schwestern, meine Brüder:

Erinnerung, Orientierung und Vergewisserung sind in diesen Worten des Mose für sein Volk Israel.
Was aber bleibt für uns am Reformationstag: Einem Gedenktag der evangelischen Kirche in Deutschland? Und kann uns das irgendwie vor dem Reformier-Stress retten?

Zurück zum Anfang.
Die Formel ecclesia semper reformanda scheint alt zu sein, zumal sie ja lateinisch ist. Aber der Schein trügt. Sie ist einmal Augustin zugeschrieben worden, aber das ist nicht zu belegen.
Auch Luther hat sie nicht nachweislich gekannt oder genutzt.

Sicher ist, dass ein pietistischer Holländer sie genutzt hat. Jodocus van Lodenstein (1620-1677) hat die damalige holländische reformierte Kirche als eine ecclesia deformata und nicht reformata bezeichnet und wollte sie darum lieber reformanda nennen: Also nicht reformierte, sondern eine Kirche, die sich reformieren müsse.

Doch richtig populär hat erst der reformierte Theologe Karl Barth diese Formel gebracht. In seiner Kirchlichen Dogmatik* schreibt er Anfang der 1950er Jahre:

„Was in der Kirche zählt, ist nicht der Fortschritt, sondern die Reformation, ihre Existenz als ecclesia semper reformanda“. Er beschreibt sehr plastisch und durchaus biblisch Jesus als den Kopf der Gemeinde und die Kirche als seinen Leib.

Und für den Leib Christi gilt, was auch für einen menschlichen Leib gilt: Er kann „krank oder wund sein“. Barth seufzt nahezu hörbar, wenn er schreibt: „Wann und wo wäre er es nicht?“

Aber, und dieses Aber ist für Barth entscheidend:
Er kann als Leib DIESES Hauptes nicht sterben.
Der Glaube der Gemeinde mag schwanken, ihre Liebe erkalten, ihre Hoffnung erschreckend dünn werden: Das FUNDAMENT ihres Glaubens, ihrer Liebe und ihrer Hoffnung aber und mit ihm sie selbst, bleibt und ist davon unberührt.
Höre, Israel: Der Herr ist einer. NUR EINER ist Herr.

Die Gemeinde hat mit Christus den Tod hinter sich. Was an einer Stelle stirbt oder überaltert ist, entsteht an anderer Stelle neu.
Im Krank-Sein braucht sie Selbstbesinnung und Selbstkorrektur:
Höre, Israel: Der Herr ist einer. NUR EINER ist Herr.

Reformier-Stress.
Seit der Kirchenmitgliedschaftsstudie stapeln sich Reformimpulse, Papiere, Projekte, Ideensammlungen und Zielvorgaben.

Fusionen, immer größere Strukturen gelten als DAS Mittel der Neuformierung ohne Alternative. Neues muss her, Sonntagsgottesdienste sind verstaubt. In den Gemeinden kommt das als Druck von oben an. Das alles verursacht Reformier-Stress, das macht atem- und ratlos, denn ein Konzept ist nicht erkennbar.

Liegt das Heil des Leibes in Groß-Strukturen von Kirchenkreisen, neuen Formaten der Gemeindearbeit vom Babysingen bis zum Seniorensport, Mitarbeitern mit immer mehr Sonderaufgaben anstatt Mitarbeitern im Dorf?

Was trägt, was hilft? Wie können Selbstbesinnung und Selbstkorrektur, wie kann ecclesia semper reformanda gelingen?

Jesus selbst legt uns unseren Predigttext in besonderer Weise ans Herz. In unserer reformierten Gottesdienstliturgie hören wir sie oft, die sogenannte „Summe des Gesetzes“ (Mt 22, 36ff).

Wer das größte der Gebote Gottes kennen will, wer wissen will, wozu Gemeinde Gottes überhaupt lebt, ob sie nun „Kirche“ heißt oder nicht; wer in diese Gemeinde Gottes gehören, wer in ihr aufgehoben sein will, der könnte es wissen, weil Christus es gesagt hat:

Liebe ist alles, ohne Liebe ist alles nichts.
Liebe Gott, den Einzigartigen, liebe den Menschen neben dir, liebe dich selbst: In diesem Gebot lebt der Leib.
Vergiss nicht, das deinen Kindern beizubringen, bis sie es verstehen.
Sag es jedem, der durch deine Haustür tritt.
Und sorge dafür, dass du es selbst nicht vergessen wirst.

Wie, wo und wann auch immer:
Niemals ohne seine Liebe, in keinem Moment deines Lebens.
Höre, Israel: Der Herr ist einer. NUR EINER ist Herr.

Die Liebe Gottes, die Gnade unseres Herrn Jesus Christus
und die Gemeinschaft des Heiligen Geistes
können nicht sterben.

SIE sind Maßstab der Gemeinde, SIE heilen den Leib.
NUR sie lassen ecclesia semper reformanda gelingen.
AMEN

* Band IV, der Lehre von der Versöhnung Kapitel 62

EG 365: 1-3
1. Von Gott will ich nicht lassen,
denn er lässt nicht von mir,
führt mich durch alle Straßen,
da ich sonst irrte sehr.
Er reicht mir seine Hand;
den Abend und den Morgen
tut er mich wohl versorgen,
wo ich auch sei im Land.
2. Wenn sich der Menschen Hulde
und Wohltat all verkehrt,
so find’t sich Gott gar balde,
sein Macht und Gnad bewährt.
Er hilft aus aller Not,
errett’ von Sünd und Schanden,
von Ketten und von Banden
und wenn’s auch wär der Tod.
3. Auf ihn will ich vertrauen
in meiner schweren Zeit;
es kann mich nicht gereuen,
er wendet alles Leid.
Ihm sei es heimgestellt;
mein Leib, mein Seel, mein Leben
sei Gott dem Herrn ergeben;
er schaff’s, wie’s ihm gefällt.

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