Unser Gottesdienst vom 18. Sonntag nach Trinitatis zum Anhören ist für vier Wochen hier zu finden.
Gott über alles lieben
und den Nächsten wie sich selbst
ein Lebenswerk
klare Aufgabe mit Hindernissen
Zweifel
Zweifel an Gott
Zweifel am Wohlwollen des Nächsten
Selbstzweifel
hindern lebenslang
doch es gibt die Alternative
die Liebe Gottes
Dies Gebot haben wir von ihm,
dass, wer Gott liebt,
dass der auch seinen Bruder liebe.
1 Johannes 4,21
***
Ach, wie fange ich nur an mit dieser Predigt?
Ich sitze zwischen den Stühlen, und da ist es recht unbequem.
Da ist zuerst ein lautes Ja!, ein Ja aus tiefem Herzen,
doch dann ein quälendes Aber, weil mein Verstand „Einspruch!“ anmeldet.
Ich erzähl euch einfach davon, vielleicht versteht ihr mich ja.
Da ist zuerst ein Lied aus meiner Zeit in der Jungen Gemeinde, das ich heute noch gern singe. Das habe ich euch mitgebracht, lasst uns das einfach mal zusammen singen:
Refrain
Es reicht nicht, dass wir Amen sagen,
und meinen, Gott wird‘s tun.
Wer Amen will, muss etwas wagen,
so billig kommt man nicht davon.
1 Wir bitten Gott um Frieden in der Welt
und meinen doch nur uns und unser Geld.
Ja und Amen, das heißt: Geh und tu!
2. Wir sagen Gott den Hunger und die Not
und meinen doch nur uns und unser Brot.
Ja und Amen, das heißt: Geh und tu!
3. Wir zeigen Gott den Hass der bösen Welt
und haben ihn bei uns nicht abgestellt.
Ja und Amen, das heißt: Geh und tu!
Ja und Amen, das heißt: Geh und tu!
Für mich hieß das damals:
Christsein heißt Position zu beziehen und zu kämpfen.
In die Junge Gemeinde gehen, dem Staatsbürgerkundelehrer nicht hinter dem Rücken, sondern offen widersprechen,
nicht mit allen anderen aus der Klasse auf die Demo am 1. Mai gehen, zur Wahl mindestens in die Wahlkabine oder gleich ganz zu Hause bleiben.
Freiheit fordern, Unfreiheit anprangern; Bevormundung, Übergriffigkeit und Ungerechtigkeit beim Namen nennen und bekämpfen.
Sozialismus: Vielleicht ja.
Real existierender Sozialismus: Ganz sicher nein.
Und dieses Fritz-Müller-Lied von 1969 hat meine Opposition in Textform gegossen und in einen Ohrwurm verwandelt, das mir immer dann in den Sinn und über die Zunge kam, wenn mir meine Mitschüler, meine Eltern, meine Kirche zu weichgespült und fadenscheinig vorkamen.
Und es fällt mir heute noch ein, wenn mir meine Mitmenschen, meine Kirche oder die Politik zu weichgespült und fadenscheinig daherkommen.
Und genau dieses Lied ist mir eingefallen, als ich unseren Bibeltext für heute aus dem Jakobusbrief las. Warum? Ich lese einfach mal drei Verse aus der Mitte von Kapitel 2, die mir aus dem Herzen sprechen (Gute Nachricht Bibel):
15 Nehmt einmal an, bei euch gibt es einen Bruder oder eine Schwester, die nichts anzuziehen haben und hungern müssen.
16 Was nützt es ihnen, wenn dann jemand von euch zu ihnen sagt: »Ich wünsche euch das Beste; ich hoffe, dass ihr euch warm anziehen und satt essen könnt!« –, aber er gibt ihnen nicht, was sie zum Leben brauchen?
17 Genauso ist es auch mit dem Glauben: Wenn er allein bleibt und aus ihm keine Taten hervorgehen, ist er tot.
Ja, denke ich: Genau so ist es, das ist wahr. Wer fromm daherkommt, aber nicht hilft, obwohl er kann, versagt.
Jesus selbst hat das doch nicht anders gesehen, wenn er alle Gebote im Liebesgebot zusammenfasst; wir haben das ja wieder vorhin gehört.
Und auch Paulus ist dabei, wenn er Gal 5,6 schreibt: „Denn in Christus Jesus gilt weder Beschneidung noch Unbeschnittensein etwas, sondern der Glaube, der durch die Liebe TÄTIG ist“.
Doch dann lese ich andere Verse hier bei Jakobus, bei denen ich „Einspruch!“ rufen möchte.
14 Meine Brüder und Schwestern, was hat es für einen Wert, wenn jemand behauptet: »Ich vertraue auf Gott, ich habe Glauben!«, aber er hat keine guten Taten vorzuweisen? …
Einspruch! Denn da bleibt mir mein: „Ja und Amen, das heißt: Geh und tu!“ quer im Hals stecken.
Denn wann genau hat man „gute Taten vorzuweisen“?
Im Islam scheint das ganz klar geregelt: 5 mal am Tag beten, einmal im Leben nach Mekka, zweieinhalb Prozent Almosensteuer.
Im Christentum aber gibt es eine solche allgemein akzeptierte Liste nicht. Dafür aber ungefähr so viele Meinungen wie es Leute in den Gemeinden gibt zu dem, was ganz unbedingt und völlig unverzichtbar zum Glauben gehören würde.
Was bekomme ich nicht alles zu hören, was christlich sei und was nicht, und was man als Christ alles als gute Taten verkaufen kann:
„Ich lese meine Zeitung und meine Bücher nur noch auf dem Kindle. Meine Predigten übrigens auch. Schöpfung erhalten, kein Baum muss dafür sterben, verstehst du?“
„Ich kaufe keine Marmelade mehr: Ich bin umgestiegen auf selbstgemachte. Das Obst kommt nur noch aus dem Garten oder aus der Region. Schluss mit weiten Lieferwegen. Im Weltladen gibt’s dazu den passenden Gelierzucker. Aus Brasilien. Fair gehandelt, bauernfreundlich. So macht man das.“
„Wurst kommt mir schon lange kaum noch auf den Tisch, und wenn, dann nur Bio. Hast du gesehen, wie die Tiere sonst gehalten werden? Da muss man Zeichen setzen! Und Fleisch gibt’s bei uns nur noch einmal im Monat, höchstens. Ist auch viel gesünder so, sagt die Ilse.
Kommt alles aus der Region, steht beim Fleischer auf dem Wochenmarkt. Die Thüringer Rostbratwurst, die ich mir manchmal heimlich bei ihm hole, ist ja auch von uns, wie der Name schon sagt. Aber sag der Ilse nichts.“
„Meinen alten Diesel habe ich verkauft. Der geht wahrscheinlich nach Afrika. Ich fahre dafür energieschonend elektrisch. Das macht Spaß, selbst mit 240 Sachen auf der Autobahn.
Die Petition für 130 auf den deutschen Autobahnen hab ich trotzdem unterschrieben. Ist ja nicht falsch.
Wird ja eh nicht kommen.“
„Und natürlich bin ich dafür, dass alle Menschen einen ordentlichen Lohn für ihre Arbeit bekommen sollen. Aber wer wenig oder nichts tun will, soll natürlich auch wenig oder nichts bekommen. Wäre ja noch schöner, wenn die Gemeinschaft zahlt, wenn Einzelne sich drücken. Gegen rechte Parolen bin ich natürlich immun. Ich bin schon lange nicht mehr bei Facebook oder X.“
Ich, also jetzt wirklich ich:
Ich höre das alles und bin ratlos.
Welche guten Taten muss ich nun vorweisen? Kann ich denn wirklich sagen: Das muss ein Christ machen, das darf er nicht?
Da gibt es Christen die sagen, wir müssen eine Brandmauer gegen die AfD hochziehen und denen nicht den kleinsten Finger reichen. Also: Keine Wahlkampfveranstaltung der AfD in unserem Paulikloster!
UND es gibt Christen, die sagen: Diese Brandmauer führt zu nichts Gutem. Politik muss versuchen, gute Ideen in die Tat umzusetzen. Und gute Ideen werden nicht einfach schon dadurch ranzig, dass die AfD sie auch gut findet.
Und bei vielen anderen Fragen ist es doch nicht einfacher: Bei der Wiedereinführung der Wehrpflicht, bei unseren verschärften Grenzkontrollen, bei der Diskussion über Bürgergeld und Grundsicherung, bei der Flüchtlingsrettung auf dem Mittelmeer, der Abschiebung von rechtskräftig verurteilten Straftätern in ihre Herkunftsländer…
Welche Taten sind nun gut, welche schlecht?
Und was haben die mit dem Glauben zu tun? Ich kenne nicht wenige Menschen, die mit Kirche und Glauben nichts zu tun haben wollen, die aber trotzdem Dinge tun, die durchaus gut und richtig sind.
Auch die biblischen Beispiele, die Jakobus dann anbietet, bringen mich nicht weiter.
V 21: „Wurde nicht unser Ahnvater Abraham aufgrund seines Tuns von Gott als gerecht anerkannt – nämlich weil er seinen Sohn Isaak als Opfer auf den Altar legte?“
Oder V 25 „War es nicht ebenso bei der Hure Rahab? Auch sie wurde doch aufgrund ihrer Taten als gerecht anerkannt – weil sie die Kundschafter bei sich aufnahm und auf einem geheimen Fluchtweg aus der Stadt entkommen ließ.“
Soso. Abraham, der bereit zu sein scheint, seinen Sohn zu schlachten; Rahab, die den Menschen in ihrer Stadt in den Rücken fällt; sind das „gute Taten“, mit denen man etwas vorzuweisen hätte?
Einspruch! meint mein Kopf.
Und das eben noch gute Gefühl des „Ja und Amen, das heißt: Geh und tu!“ verwandelt sich flau:
Ist mein Glaube wirklich nur echt, wenn er etwas tut, und wenn ja, was genau soll das denn sein, dass es als Erweis guter Taten herhalten kann? Hatte Luther vielleicht auch dieses flaue Gefühl, als der den Jakobusbrief „stoherne Epistel“ nannte und ihn bei seiner Bibelübersetzung fast ans Ende der Bibel schob?
Oder hatte Johannes Calvin recht? Er sah im Jakobusbrief einen „Sprudel vielfältiger Lehrunterweisung“ und betonte seinen „Nutzen für alle Situationen des christlichen Lebens“.
Zwischen diesen Entweder-Oder-Stühlen sitze ich nun.
Unbequem.
Meine Schwestern, meine Brüder:
Vielleicht aber gibt es das gar nicht, dieses „Entweder-Oder“?
Denn auch Jakobus würde der Position Jesu im Liebesgebot oder der des Paulus, der Christenglauben durch Liebe tätig sieht, nicht widersprechen.
Und es sind eben gar keine großen theologischen Klimmzüge NÖTIG, um zu belegen, dass es selbstverständlich ist, handeln zu müssen. Dass ALLE handeln müssen, die sich in der Nachfolge Jesu Christi sehen oder sehen wollen. Aber dieses Handeln der Christenheit ist gerade keine Selbstverständlichkeit.
Genau heute vor 80 Jahren, kein halbes Jahr nach der Kapitulation Hitlerdeutschlands, hat die gerade neu gegründete Evangelische Kirche in Deutschland durch eine öffentliche Erklärung in Stuttgart ihre Mitschulschuld an Gewalt, Mord und Elend bekannt, die die deutsche Naziherrschaft über die Welt gebracht hatte.
Doch dieses Bekenntnis hat damals nicht nur Erleichterung, sondern auch heftige Kritik ausgelöst. Für die einen ging das Bekenntnis nicht weit genug, für die anderen war es Verrat am eigenen Volk.
Auch die Historiker sind bis heute in ihrem Urteil gespalten: Für die einen kam dieses Bekenntnis zu früh, weil das Kirchenvolk für diesen Schritt so kurz nach Kriegsende noch gar nicht bereit gewesen sei.
Für die anderen war es unverzichtbar, allein das schon deshalb, weil die hungernden Deutschen sonst kaum von den ehemaligen Feinden mit Hilfsgütern hätten versorgt werden können.
UNumstritten aber ist inzwischen, dass das Stuttgarter Schuldbekenntnis ein richtiger Schritt für die evangelischen Christen in Deutschland war, wenn auch diesem Schritt noch viele andere folgen mussten.
Es war also notwendig, diesen Schritt aus einer müden, niedergeschlagenen Situation heraus zu gehen, auch wenn er mehr als schwer fiel.
So ist es mit unserem Jakobustext nicht anders als mit meinem Lied: Beide rütteln den Glauben wach, wenn er müde zu werden droht. Erinnern daran, dass das Christsein Konsequenzen haben muss, wenn es lebendig sein will.
Denn zu tun gibt es für uns mehr als genug, wann auch immer und wo auch immer – wenn wir denn weiter daran glauben wollen, dass das Reich Gottes Gerechtigkeit ist: Gerechtigkeit nicht erst am Ende aller Zeit, sondern auch heute, jetzt.
Freiheit fordern, Unfreiheit anprangern, Bevormundung, Übergriffigkeit und Ungerechtigkeit beim Namen nennen und bekämpfen:
Es ist das Gebot dieser Stunde, dass auch wir hier neue Schritte gehen.
Zum Beispiel sollten wir in allem politischen Streit um Bürgergeld oder Grundsicherung nicht vergessen, dass auch WIR noch weit davon entfernt sind, unsere kirchlichen Mitarbeitenden gerecht und fair zu bezahlen: Und hier neue Schritte tun.
Oder: Bei aller Entrüstung über die Trumps, Putins oder Netanjahus dieser Welt sollten wir nicht vergessen, dass sich alle drei sich in ihrem Tun auch auf ihre Religion berufen: Und auch hier neue Schritte tun.
Und egal, ob diese Schritte später einmal für richtig und gut oder falsch und schlecht erachtet werden: Sie müssen gegangen werden, wenn wir Jesus Christus treu und unseren Glauben lebendig halten wollen.
Ich glaube: Wo immer und wie immer wir Menschen in Liebe und Barmherzigkeit begegnen, wo Kranke geheilt werden, Hungrige zu essen bekommen und menschliche Bosheit in ihre Grenzen verwiesen wird, da werden sie zu finden sein:
Die Liebe Gottes, die Gnade unseres Herrn Jesus Christus und die Gemeinschaft des Heiligen Geistes.
Und wo sie zu finden sind, geht ein Kamel durch ein Nadelöhr.
Da bricht das Reich Gottes an.
Mitten unter uns. AMEN
EG 675:
1dt. Lass uns den Weg der Gerechtigkeit gehn,
dein Reich komme, Herr, dein Reich komme.
Dein Reich in Klarheit und Frieden,
Leben in Wahrheit und Recht.
Dein Reich komme, Herr, dein Reich komme.
2dt. Lass uns den Weg der Gerechtigkeit gehn.
Dein Reich komme, Herr, dein Reich komme.
Dein Reich des Lichts und der Liebe
lebt und geschieht unter uns.
Dein Reich komme, Herr, dein Reich komme.
3dt. Lass uns den Weg der Gerechtigkeit gehn.
Dein Reich komme, Herr, dein Reich komme.
Wege durch Leid und Entbehrung
führen zu dir in dein Reich.
Dein Reich komme, Herr, dein Reich komme.
4dt. Lass uns den Weg der Gerechtigkeit gehn.
Dein Reich komme, Herr, dein Reich komme.
Sehn wir in uns einen Anfang,
endlos vollende dein Reich.
Dein Reich komme, Herr, dein Reich komme.