ALLES (Kol 1 13-20)

Der komplette Gottesdienst kann hier für vierzehn Tage nachgehört werden.

DER TOD greift das Leben an
ein Tag wie so unendlich viele
Menschen opfern Menschen
für ihr Leben
oder das, was sie dafür halten
Tag für Tag neu

Karfreitag
KEIN Tag wie irgend-ein anderer
MENSCHEN greifen das Leben an
Gott leidet aus Liebe
der Tod seines Sohnes
seine Tat für seine Menschen

So sehr
hat Gott die Welt geliebt,
dass er seinen eingeborenen Sohn
gab,
damit alle, die an ihn glauben,
nicht verloren werden,
sondern das ewige Leben haben.
(Joh 3,16)
***

Ein normaler Arbeitstag am Schreibtisch. Es ist noch nicht Mittag, aber der kleine Hunger meldet sich bereits. Eine Scheibe Käse wäre da nicht schlecht. Also gehe ich in die Küche zum Kühlschrank und öffne ihn. Aber die Stelle, an der ich den Käse wusste, ist leer.

Ich nehme die Lesebrille ab, die hilft hier nicht wirklich: Doch die Stelle im Kühlschrank ist wirklich leer. Da ich einen Tunnelblick habe (die meisten Männer sollen den haben, habe ich gelesen), trete ich zwei Schritt zurück, damit ich einen Überblick gewinne. Und ja – ich finde tatsächlich, was ich suche.

Als ich wieder am Schreibtisch sitze, versuche ich mich weiter daran, einen Text zu verstehen, doch es will mir irgendwie nicht gelingen.
Ver – suche.

Ist das nicht auch eine Suche? Wie eben am Kühlschrank? Gut, die Lesebrille abzusetzen wird hier eher nicht helfen. Aber ein paar Schritte zurückzutreten, natürlich nicht wirklich, ich sitze ja, aber im übertragenen Sinne: Müsste das nicht helfen?

Schließlich hat der Mensch nicht nur das Mikroskop, sondern auch das Fernrohr erfunden. Und auf Bergen ist er auch gern, mancher allerdings nur, wenn eine Straße oder eine Seilbahn nach oben führt.

All das nutzt der Mensch gerne, will er das, was ihm vor Augen liegt, ver-suchen zu durchdringen und einordnen. Will er „verstehen“.

Ja, ich höre die ganz Klugen jetzt schon sagen: Dass der Mensch dann wirklich versteht, ist nicht gesagt. Geschenkt. Aber ohne Mikroskop, Fernrohr und Berg ginge es noch schlechter, ganz sicher.

So verrät beispielsweise ein geschulter Blick durchs Fernrohr verbunden mit der einen oder anderen Berechnung immerhin, wo am Nachthimmel die uns am nächsten gelegene Nachbargalaxie zu finden ist.

Misst und rechnet man weiter, kann man herausbekommen, dass das Licht 1,5 Millionen Jahre braucht, um von dort bei hier auf der Erde anzukommen. Damit versteht man doch schon mal was.
Ob ICH das BEGREIFEN kann: 1,5 Millionen Jahre…

Oder der Fisch, der kürzlich in 8336 Metern Tiefe im Meer von einem Roboter fotografiert wurde. Der lebt in einer Tiefe, wo der 800fache Druck unserer Atmosphäre herrscht, das ist so viel, wie einige hundert LKW auf einen einzigen Quadratmeter Straße ausüben würden.
Ob ich das begreifen kann: Leben unter 800 Atmosphären…

Judas, Pilatus, Petrus. Schläge, Hohn, Spott. Verrat, Schmerz, Verlassenheit. Das meine ich zu verstehen. Das alles war im ersten Teil unseres Gottesdienstes. In Liedern, Texten, Gebeten. Blicke auf die Einzelheiten.

Mit der Lesebrille, manchmal auch wie der Blick ins Mikroskop. Eben all das, was man genau ansehen, richtig hören muss, geht man am Karfreitag in einen Gottesdienst.

Mir geht es am Karfreitag immer noch so, dass ich mich schwer damit tue, zu erkennen, warum der Tod Jesu am Kreuz für mich geschehen sein soll. Warum der für mich so wichtige Theologe Karl Barth sinngemäß gesagt hat, dass alles Heilshandeln Gottes am Karfreitag sein Ziel erreicht habe und Ostern dem nichts mehr hinzufügen würde.

Manchmal glaube ich, für mich herausgefunden zu haben, warum Barth das sagte. Dann aber macht sich wieder ein Gefühl der Ratlosigkeit in mir breit: Dass ein anderer Mensch für mich sterben würde, gar noch der Erlöser Jesus, Sohn Gottes, Herr meines Lebens – das ist und bleibt für mich schwere Kost, und für die meisten in unseren Gemeinden scheint das ähnlich zu sein. Darum bleiben sie am Karfreitag lieber den Gottesdiensten fern, egal ob zuhause oder im Osterurlaub.

Aber die Sache vorhin mit dem Kühlschrank erinnert mich: Hast du mal versucht, die Lesebrille abzusetzen? Bist du auch ein paar Schritte zurückgetreten, hast mit Abstand auf das Kreuz gesehen?

Könnte ich dann vielleicht sehen, was der Evangelist Johannes gesehen hat, für den die Passion Christi so sehr seine Verherrlichung des Sohnes Gottes bedeutet, dass Folter, Verrat und Tod dahinter zurücktreten? Habe ich mir ALLES gesehen, wenigstens aus der Ferne? Auch wenn ich niemals alles sehen könnte, weil nur Gott allein das kann?

Unser Bibeltext für heute macht eben diesen Versuch, auf das ALLES zu sehen. Ich lese aus dem Brief des Paulus an die Kolosser Kap. 1 ab Vers 13:

(Gott) hat uns errettet aus der Macht der Finsternis und hat uns versetzt in das Reich seines geliebten Sohnes,
14 in dem wir die Erlösung haben, nämlich die Vergebung der Sünden.
15 Er ist das Ebenbild des unsichtbaren Gottes,
der Erstgeborene vor aller Schöpfung.
16 Denn in ihm ist alles geschaffen,
was im Himmel und auf Erden ist,
das Sichtbare und das Unsichtbare,
es seien Throne oder Herrschaften
oder Mächte oder Gewalten;
es ist alles durch ihn und zu ihm geschaffen.
17 Und er ist vor allem,
und es besteht alles in ihm.
18 Und er ist das Haupt des Leibes, nämlich der Gemeinde.
Er ist der Anfang,
der Erstgeborene von den Toten,
auf dass er in allem der Erste sei.
19 Denn es hat Gott gefallen, alle Fülle in ihm wohnen zu lassen
20 und durch ihn alles zu versöhnen zu ihm hin,
es sei auf Erden oder im Himmel,
indem er Frieden machte durch sein Blut am Kreuz.

Panta – griechisch für immer, alles, ein für alle Mal. Acht mal erscheint dieses Wort in unserem Text: Vor aller Schöpfung, alles geschaffen, alles durch ihn, vor allem, alles in ihm, in allem der Erste, alle Fülle, alle zu versöhnen. Es geht Paulus offenbar genau darum: Um nichts weniger als ALLES.

Die Ausleger sind sich darin einig, dass es wahrscheinlich ist, dass Paulus ab Vers 15 – also ab dem Punkt, wo es um das „Alles“ geht, einen Hymnus zitiert. Ob er ihn selbst gedichtet hat, weiß niemand. Ein Lied der Verherrlichung, wie man es auch im Gottesdienst benutzt haben könnte.

Damit bereitet er seine Argumentation ab Kapitel 2 vor. Er hat über die Gemeinde gehört, dass es dort immer wichtiger zu werden scheint, sich um das „Klein-Klein“ als ums „Große Ganze“ zu kümmern. Sie setzen die Lesebrille nicht ab. Es scheint wichtiger, sich um die Einhaltung strenger Gemeinderegeln oder Speisevorschriften zu kümmern als um die Verkündigung der unendlichen göttlichen Liebe und Freiheit.

Darum wohl kommt Paulus dieses Lied über das „Alles“ Gottes gelegen. Jesus IST „Alles“. Mehr, als ein Mensch je fassen kann. Ebenbild des unendlichen Gottes, mehr als alle Schöpfung und alles Geschaffene, mehr als alles Sichtbare und Unsichtbare zusammen, mehr als alle Kräfte und Mächte, alle Fülle. Auch darin ist Jesus Gott gleich: er ist alles, und alles ist in ihm.

So ist es für Paulus auch folgerichtig, in der Passion Christi GOTTES HANDELN zu entdecken, dass er nämlich Frieden MACHT. Gott „hat uns errettet aus der Macht der Finsternis und hat uns versetzt in das Reich seines geliebten Sohnes… (er hat uns versetzt, ein schönes Bild!) Denn es hat Gott gefallen, alle Fülle in ihm wohnen zu lassen und durch ihn alles zu versöhnen zu ihm hin, sei es auf Erden oder im Himmel, indem er Frieden MACHTE durch sein Blut am Kreuz“ – so Anfang und Schluss unseres Textes (13.19f).

Jesus ist für Paulus ALLES, und das ist unendlich mehr, als wir vor Augen sehen oder mit dem Verstand erkennen oder mit dem Herzen begreifen könnten. Unendlich viel mehr als „Weltall – Erde – Mensch“ (ihr erinnert euch an das Jugenweihe-Buch?).

Wir Menschen ver-suchen zu sehen und zu verstehen.

Mikroskope zeigen uns in einer hauchdünnen Scheibe einer Pflanze hundertfach Leben.
Ferngläser lassen uns Menschen in Not auf einem untergehenden Schlauchboot im Mittelmehr sehen.
Immer empfindlichere Weltraum-Teleskope (die vertragen inzwischen nicht einmal mehr Licht in ihrer Nähe) bringen uns die Unendlichkeit des Raumes näher, in der unsere Erde nur einem Staubkorn gleicht.

All das lässt unseren Horizont weiter und weiter werden. Und wer auch ein Gefühl für die scheinbar grenzenlose Weite bekommen will, ist in den Alpen, an einem Strand des Atlantik oder am Fenster eines Flugzeuges über den Wolken richtig.

Ich habe im Studium gelernt, dass christliche Theologen in der Lehre von Christus – Christologie genannt – schon früh unterschieden zwischen hoher und niedriger Christologie.

Die niedrige Christologie betrachtet das Menschsein Jesu, sein irdisches Leben, seine Lehre, sein Leiden. Ein Blick wie in ein Mikroskop. Gott in Christus: Mensch wie du und ich. Teil dieser Welt.

Die hohe Christologie spricht vom Gottsein Christi. Seiner Macht über Engstirnigkeit, Seen und Meere, Krankheiten und Tod, Kaiser und Fürsten. Ein Blick wie aus dem Fenster im Flugzeug, Gott in Christus: KEIN Mensch wie du und ich. Er ist nicht mehr nur Teil dieser Welt, die Welt ist vielmehr ein Teil VON IHM.

Davon spricht Paulus: Gott in Christus ist ALLES. Die Worte, die Paulus uns hier lesen lässt, beschreiben uns die Unendlichkeit und Ewigkeit Christi – und berühren doch nur den RAND der Erkenntnis Christi. Doch mehr kann der Mensch nicht sehen und beschreiben. Selbst Paulus nicht.

Diese Sicht fasziniert mich. Sie versucht, auf dem hohen Berg oder aus dem Flugzeugfenster oder am Atlantikstrand zu stehen und zu sehen, um den Überblick zu bekommen – das ALLES wenigstens aus der Entfernung zu erkennen.

Und für die Passion bedeutet das: Christi Blut am Kreuz bedeutet den großen Frieden.

Keine Katastrophe, keine Folterkammer, kein Unglück; kein Fürst, kein Diktator, kein Mensch kann jemals größer sein als dieser Friede.
Nichts, wirklich nichts, was uns wie irgendeine Bedrohung oder wie irgendein Ende erscheint, selbst das Ende dieser Welt wird jemals das Ende Gottes bedeuten.
Man kann Jesus das Erdenleben nehmen.
Aber dem Christus kann man NICHTS nehmen.

Meine Schwestern, meine Brüder:

Vielleicht müsst ihr euch auch nach all dem Gedachten erst einmal sammeln. Das sind ganz andere Klänge, ganz andere Worte, ganz andere Gedanken als sonst am Karfreitag.

Nicht Leid und Traurigkeit. Sondern Frieden in jeder Hölle, Frieden für Anfang und Ende, Frieden für Mensch und Erde, Friede für Schöpfung und Geschöpfe. Mitten im Dauerkrieg dieses Lebens: Frieden. Denn die Welt – alles, was wir kennen, alles was wir lieben, aber auch alles, was wir fürchten: Sie vergeht.

Etwas mehr Abstand hilft manchmal, anders zu verstehen. Lässt manches sehen, was man sonst einfach nicht sehen kann. Auch zeitlicher Abstand, wie beim Weizenkorn, dass in die Erde fällt und scheinbar stirbt, um später einmal vielfach zu leben. Ein schönes Bild dafür, was ich heute erahnen kann: Gottes Liebe wächst wie Weizen, gegen allen Schein des Todes.

Wenn Karl Barth sagt, dass im Kreuz das Heil für uns ans Ziel kommt, sagt er es wohl mit dem Blick ÜBER die Dinge:
Christus ist ALLES. Seine Nähe IMMER. Seine Liebe ÜBERALL.

Selbst sein Ende auf dieser Erde war nicht sein Ende auf dieser Erde. Mein Blick lässt heute, an diesem Kreuz, niedrige und hohe Christologie zusammentreffen.

Wer am Karfreitag nicht nur den den niedrigen, sondern auch den hohen Christus zu sehen lernt, der kann es entdecken:

Die Liebe Gottes,
die Gnade unsres Herrn Jesus Christus
und die Gemeinschaft des Heiligen Geistes
bewahren unsere Leiber und Seelen,
weil sie ALLES sind.

Frieden am Kreuz:
Christus steht vor und hinter unserem Leben.
AMEN

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