Nicht nur wenige, sondern alle.
Nicht nur hier, sondern überall.
Nicht nur etwas, sondern alles.
Gottes Liebe – Heil für alle.
Die Weihnachtsbilder zeigen nicht
was sich außen abgespielt hat
sondern Verborgenes und Unsichtbares
ausgebreitet vor unser aller Augen.
Und es werden kommen
von Osten und von Westen,
von Norden und von Süden,
die zu Tisch sitzen werden im Reich Gottes.
Lk 13,29
***
September im vergangenen Jahr. Ich habe mein Motorrad voll beladen, mir meine Motorradsachen angezogen und mache mich auf den Weg und fahre Richtung Westen. Über 750 km habe ich im ersten Abschnitt vor mir, und keinen von denen will ich auf der Autobahn fahren. Das macht mir nämlich erstens keinen Spaß und wäre dazu Gift für die Reifen. Und auf die bin ich angewiesen, sind doch noch weitere 4000 km auf meinem Touren-Plan.
Meine Hände werden kalt, ein Blick auf das Thermometer verrät: 7 Grad, das ist auch nicht gerade viel. Die erste Pause nutze ich denn auch, um die dicken Handschuhe aus dem Tankrucksack zu kramen. Winterhandschuhe im September – aber in denen ist es tatsächlich deutlich angenehmer. Sieht ja keiner.
Hinter Helmstedt dann wird die Strecke abwechslungsreicher und anspruchsvoller. Und: Die Sonne scheint, es wird spürbar wärmer. Die Winterhandschuhe wandern wieder in den Tankrucksack. Gut so, der Herbstanfang liegt ja noch ein paar Wochen voraus.
Gegen drei Uhr am Nachmittag dann eine Kaffeepause. Vor einer Bäckerei in einer kleinen Stadt stelle ich die Maschine ab, ich kaufe mir einen Kaffee und setze mich auf einen bequemen Stuhl in der Sonne auf dem breiten Bürgersteig. Es ist Zeit, nach einem Hotel für die Nacht zu suchen, ich muss ja erst morgen am Etappenziel sein. Ich befrage meine Hotel-Apps auf dem Smartphone und finde eines: Westlich von Hannover, nah an meiner Strecke, der Preis ist in Ordnung. Ich buche und fahre die restlichen 70 km.
Gegen 17 Uhr komme ich an, ich bin jetzt gute zehn Stunden unterwegs. Ein größeres Haus, vielleicht 150 Jahre alt, Parkplätze direkt vor der Tür. Wie praktisch. Ich krame die Übernachtungstasche aus dem Seitenkoffer, schließe alles ab und gehe durch die elektrisch öffnende Tür zur Rezeption.
Eine freundlich lächelnde Frau, sicher über siebzig, nimmt mich in Empfang und sagt: Ich dachte mir schon, dass sie mit dem Motorrad unterwegs sind. Motorradfahrer buchen oft so kurzfristig. Sie gibt mir meinen Zimmerschlüssel, ich wohne im ersten Stock, das Zimmer ist nett eingerichtet und nicht zu klein. Ich pelle mich aus meinen Motorradsachen, mache mich frisch und gehe runter ins Foyer. Da will ich noch etwas lesen und lasse mich in einem bequemen, weichen Ledersessel nieder.
Mein Blick fällt auf eine Tür neben der Rezeption. PRIVAT steht darauf. Ob da wohl eine Wohnung ist? Da öffnet sich die Tür, die Frau kommt heraus, sieht mich und meinen Kindle auf dem Sessel, lächelt wieder freundlich und sagt: Wie wäre es mit richtigen Büchern? Nichts dagegen, sage ich, aber auf dem Motorrad ist wenig Platz.
Und sie meint: Sie sollen sie ja nicht mitnehmen. Aber hier in meiner Bibliothek – sie weist auf die Tür mit der Aufschrift PRIVAT – können sie sich gern bedienen. Bitte danach nur alles an den alten Platz zurückstellen, bevor sie wieder fahren.
Ich bedanke mich, finde in einem der großen Bücherregale hinter der Tür einen Bildband über ein Schloss hier in der Nähe und lese mich auf dem Lesersessel fest…
Diese Begebenheit ist mir wieder eingefallen, als ich den Predigttext für heute las. Römer 1, 13-17:
Ich will euch aber nicht verschweigen, …dass ich mir oft vorgenommen habe, zu euch zu kommen – wurde aber bisher gehindert -, damit ich auch unter euch Frucht schaffe wie unter andern Heiden.
Griechen und Nichtgriechen, Weisen und Nichtweisen bin ich es schuldig; darum, soviel an mir liegt, bin ich willens, auch euch in Rom das Evangelium zu predigen.
Denn ich schäme mich des Evangeliums nicht; denn es ist eine Kraft Gottes, die selig macht alle, die glauben, die Juden zuerst und ebenso die Griechen.
Denn darin wird offenbart die Gerechtigkeit, die vor Gott gilt, welche kommt aus Glauben in Glauben; wie geschrieben steht (Habakuk 2,4): “Der Gerechte wird aus Glauben leben.”
Was dieser Paulustext mit meiner Hotelbibliothek zu tun hat? Ich gebe zu: Zunächst scheinbar nichts. Für mich aber schon, und das hat mit der Aufschrift „PRIVAT“ auf der Tür zu tun.
Privatsache sei mein Glaube, und die hätte ich darum für mich zu behalten, sagte mir mein Geschichtslehrer bereits in Klasse 7. Er hatte einen Zeitstrahl auf die Tafel gezeichnet, an das Jahr Null hatte er „Geburt des Jesus Christus“ mit Fragezeichen geschrieben. Dann den Text „Begründer des Christentums, vertröstet die Gläubigen auf das Jenseits“.
Ich aber hatte mit dem Jenseits nichts am Hut, wohl aber mit dem Diesseits, auch das Fragezeichen war ganz sicher falsch, und das teilte ich meinem Lehrer auch ungefragt mit, laut und vernehmbar. Dann seine Antwort: Dein Glaube ist Privatsache, also behalte ihn für dich. Die Verfassung unserer Republik schützt die Freiheit der Religionen. Aber das gibt dir nicht das Recht, sie überzustrapazieren.
Ich war wütend, aber auch nachdenklich. Ich war mir plötzlich meiner Sache nicht sicher: Hatte er am Ende Recht? Ich wusste: Seine Frau, die auch an unserer Schule Lehrerin war, gehörte zu „meiner“ Kirche. Dachte sie am Ende genauso? Musste sie so denken, um Lehrer sein und mit ihm verheiratet sein zu können?
Glaube als Privatangelegenheit: Dieses Thema begleitet mein Christsein seither immer wieder. Am extremsten ausgeprägt erlebe ich diese Haltung in bestimmten laizistischen Kreisen. Man nehme nur den österreichischen Verein „Religion ist Privatsache“, der die „Diskriminierung von konfessionsfreien Personen“ bekämpft und Religion in die „Privatsphäre“ verschieben will.
Dieser Verein lebt von juristischen Klagen – gegen Kreuze und christliche Erziehung in öffentlich geförderten Kindergärten, gegen die steuerliche Absetzbarkeit von Kirchensteuern (Österr.: „Kirchenbeitrag“) oder gegen die Sanierung des „Papstkreuzes“ im Wiener Donaupark.
Und auch hierzulande gibt es genügen Menschen, die öffentlich und laut fordern, Kirchen ihre „Privilegien“ zu streichen und die Trennung zwischen Staat und Kirche endlich „konsequent durchzusetzen“.
Damit ist zumeist als Erstes gemeint, kirchlichen Einrichtungen – also Kindergärten, Schulen, Krankenhäusern, gemeinnützigen Vereinen – jegliche staatliche Unterstützung aus Steuermitteln zu entziehen oder das „so wahr mir Gott helfe“ bei Amtseiden zu verbieten. Wenn Religionen endlich nur in der „Privatsphäre“ spielen würden, würde unsere Welt auf dem Weg zur Gerechtigkeit einen großen Schritt weiterkommen.
Haben diese Menschen vielleicht Recht?
Aber die freundliche Frau, die sich mir später als Besitzerin des Hotels zu erkennen gibt, das sie in dritter Generation führt – also die Hotelbesitzerin ÖFFNET mir ihre Tür, auf der „Privat“ steht. Hinter dieser Tür ist ihre Bibliothek, die ihre private ist. Sie sagt mir: Treten sie ein, nutzen sie, was ihnen gefällt, aber stellen sie es bitte wieder an seinen – meinen privaten! – Platz zurück.
Und ich spüre, wie gern sie das tut und mit wie viel Hingabe sie diesen Raum eingerichtet hat und pflegt. Warum es ihr wichtig ist, dass Bücher wieder an den ihr angestammten Platz zurückgestellt werden: Den Platz, den sie, die Besitzerin, ihnen, den Büchern, zugedacht hat. Wo SIE sie wiederfindet.
Und ich nehme ihr Angebot an, finde etwas, was mich in diesem Augenblick interessiert, beginne zu lesen – und bin traurig, dass ich zu schnell müde werde und ins Bett muss, um am nächsten Morgen erholt weiterfahren zu können.
Ich finde, Paulus argumentiert hier sehr ähnlich. Seine „Bibliothek“ ist das „Evangelium“, also all das, was er über Gott und sein Wirken für seine Menschen begriffen und zusammengetragen hat. Das ist die „Schrift“, also der erste Teil unserer Bibel, in der auch der zitierte Prophet Habakuk zu finden ist. UND das ist all das, was er selbst über das Leben und Wirken Jesu Christi erfahren hat und weiß.
NATÜRLICH ist diese Bibliothek „privat“. Denn er selbst hat sie zusammengetragen. Er hat am eigenen Leib erlebt, wie zur „Schrift“ das Handeln Gottes in Jesus hinzukam. Als er sein persönliches Bekehrungserlebnis vor Damaskus hatte, was ihn vom Christenverfolger aus Überzeugung zum Knecht, besser: Zum Sklaven Christi aus Überzeugung machte.
Und natürlich traf diese Bekehrung nur ihn privat, also ganz persönlich. Natürlich war sein Glaube seine Privatsache, denn kein Mensch vermag einem anderen vorzuschreiben, woran er denn glauben solle. Glaube ist immer eine private Entscheidung.
Aber diesen Glauben in die „PrivatSPHÄRE“ zu verbannen, also in den intimsten Bereich des Menschseins, aus dem die Öffentlichkeit ausgeschlossen ist: Genau das ist für Paulus unmöglich. Also öffnet er seine Tür mit der Aufschrift PRIVAT. Alle, die diesen Raum betreten, sollen wissen, was die „Kraft Gottes“ (V16) ausmacht, die ihn selbst „selig“ machte. Die sein Leben so radikal verändert hat, aus der er jetzt Sinn und Ziel seines Lebens schöpfen kann.
„Griechen und Nichtgriechen, Weisen und Nichtweisen bin ich es schuldig“ (V 14): Sein Glaube macht ihn sogar zum SCHULDNER. Er ist es der Kraft Gottes schuldig, möglichst vielen Menschen von ihr zu erzählen. DARUM will er nicht einfach nur ein Quartier zum Übernachten in Rom, nicht einfach nur irgendjemand auf der Durchreise sein. Darum schreibt er diesen Brief, darum MUSS er über die Kraft Gottes REDEN. Sein Privates nach außen kehren für alle, die ein offenes Ohr dafür haben. Er will, dass sie sich festlesen: Dass so auch Andere von Gottes Geist befreit dieses neue Leben finden.
Nein: Für diese Befreiung kann und will er sich nicht schämen (V 16). Im Gegenteil. An seiner Freude darüber will er alle Welt teilhaben lassen. Weil er unerschütterlich glaubt: Denn darin wird offenbart die Gerechtigkeit, die vor Gott gilt, welche kommt aus Glauben in Glauben; wie geschrieben steht (Habakuk 2,4): “Der Gerechte wird aus Glauben leben.” (V 17)
Gerechtigkeit: Sie hat für Paulus vor allem damit zu tun, gerichtet, also AUSGERICHTET zu sein auf Gott. IHM zu glauben. Jesus Christus als dem zu begegnen, in dem Gott Mensch wurde. Dann nämlich ist dieses neue Leben möglich – dann lebt der auf Gottes Wort ausgerichtete Mensch ganz neu.
Wie Naaman, der schließlich dem Wort des Propheten Elisa glaubte (atl. Lesung 2. Kön 5) und geheilt wurde. Oder Paulus, der seine Lebensrichtung radikal änderte. Oder der römische Hauptmann, dessen Begegnung mit Jesus die Rettung für seinen schwerkranken Knecht wurde (Tages-Ev. aus Mt 8).
Meine Schwestern, meine Brüder:
Diese Kraft Gottes ist nichts für das Schlafzimmer, nichts für den Raum unserer „Privatsphäre“, in dem Fremde nichts zu suchen haben. Wenn diese Kraft jemanden ergreift, wird sie zur „Privatsache“. Und man selbst wird zur „Privatperson“, also eine Person, die nicht stellvertretend für irgendjemanden oder irgend eine Institution, sondern für sich selbst handelt und spricht. Schließlich bedeutetet das lateinische privatum „das Eigene“.
Für sich selbst handeln und sprechen aber kann man nicht im Schlafzimmer. Da will man schlafen, Kraft tanken, sich erholen oder gesund werden. Für sich selbst handeln und sprechen KANN man nur öffentlich, also vor anderen Menschen und für andere Menschen. Und das so, dass das Gegenüber sieht und spürt, was ich zu sagen habe, wie ich handle. Nur so kann man sein Gegenüber für eine Sache gewinnen, es „einnehmen“.
Es gibt ja viele Privatsachen. Ob ich im Spätsommer Winterhandschuhe anziehe, ist nun eine von DEN Privatsachen, die wohl niemanden wirklich interessieren. Dass ich aber Anteil haben durfte an der Privatbibliothek im Hotel, das war schon eine ganz andere Sache.
Doch für mich durch nichts zu übertreffen ist „die Gerechtigkeit, die vor Gott gilt“: Meine Ausrichtung auf Gott, die mein Dasein auf dieser Welt vom Kopf auf die Füße stellt. Alles in Ordnung bringt, mich neu leben lässt.
Das ist mein eigener, mein privater Glaube:
Die Liebe Gottes, die Gnade unseres Herrn Jesus Christus und die Gemeinschaft des Heiligen Geistes sind Kraft Gottes, die alles leben lässt.
„Daran ich keinen Zweifel trag, dein Wort kann nicht betrügen “ (EG 342,5+6): Das MUSS gesagt werden. AMEN