Kurt Marti:
Auch ich kann nicht beten.
Ich glaube,
man sieht uns allen an,
dass wir nicht beten können.
Man sieht es auch denen an,
die weiterhin beten
oder zu beten meinen.
Dennoch kann ich mir
die Sprache einer besseren Zukunft
nicht vorstellen
ohne etwas
wie Gebete.
Rogate! Betet!
Gelobt sei Gott, der mein Gebet nicht verwirft
noch seine Güte von mir wendet!
Ps 66, 20
***
Als ich am Sonnabend kurz vor sechs Uhr am Morgen aus dem Fenster sah, war der Himmel tiefblau und die Sonne schien. Der Mai machte einmal, was er machen soll. Wenn auch die Temperaturen sich wenig nach Frühling anfühlten: Der Himmel sah schon einmal gut aus.
Die vielen bunten Tulpen im Garten und das frisch grüne Gras waren offenbar gleicher Meinung. Und ich dachte so bei mir: Heute vor 76 Jahren: Ob es da wohl ähnlich gewesen ist? An diesem 8. Mai 1945, an dem der Krieg vorbei war?
Auf den Schlachtfeldern rund um Berlin war wohl Ruhe eingekehrt, die Brände erloschen langsam, der Staub der Luft legte sich über die Ruinen der Stadt. Ob der Mai auch damals einfach machte, was er immer macht: Alles grün und bunt werden lassen? An diesem Tag, von dem in den Büchern steht, dass der Krieg vorbei war?
Die Menschen waren sich uneins, was das denn zu bedeuten hätte. Die einen redeten vom „Zusammenbruch“, die anderen von der „Befreiung“. Die einen redeten von „Sieg“, die anderen von „Katastrophe“. Die einen erlebten endlich Ruhe, die anderen Plünderungen, Denunziationen, Gewalt gegen Besiegte, egal ob Mann, Frau oder Kind.
Wann war der Krieg wirklich zu Ende?
Als der Vater heimkehrte aus der Kriegsgefangenschaft? Oder als der Brief mit der Nachricht ankam, dass der Sohn nie wieder heimkehren würde? War der Krieg zu Ende, als die Flüchtlinge endlich wieder eigene vier Wände hatten oder als die Leute im Dorf irgendwann aufhörten, sie wie Fremde zu behandeln? War der Krieg zu Ende, als die Waffen schwiegen oder als die bewaffneten Sieger endlich wieder nach Hause zurückkehren konnten?
Vierzig ist eine wichtige Zahl. Gerade in der Bibel. Vierzig Tage ist Jesus in der Wüste, bevor er die Versuchungen übersteht; vierzig Jahre ist Israel in der Wüste, bevor es in das Land seiner Träume kommt. Vierzig Wochen dauert die Schwangerschaft einer Frau, bevor neues Menschenleben die Welt betritt. Vierzig bedeutet Neubeginn.
Vierzig Jahre nach diesem 8. Mai aber waren sie die Menschen immer noch nicht einig, ob von Befreiung, Zusammenbruch oder Frieden zu reden sei. Manche Wunden waren dabei, zu verheilen. Viele aber würden wohl nie heilen, so lange sich noch irgendjemand an Gaskammern, Bombenteppiche oder Vergewaltigungen erinnern konnte. Und selbst 70 Jahre nach diesem 8. Mai hatte sich daran kaum etwas geändert.
Daniel 9, 1-3:
1 Im ersten Jahr des Darius, des Sohnes des Ahasveros, aus dem Stamm der Meder, der über das Reich der Chaldäer König wurde,
2 in diesem ersten Jahr seiner Herrschaft verstand ich, Daniel, in den Büchern die Zahl der Jahre, die sich an Jerusalem erfüllen sollte. So war das Wort des HERRN an den Propheten Jeremia ergangen: Siebzig Jahre soll Jerusalem wüst liegen.
3 Und ich kehrte mich zu Gott, dem Herrn, um zu beten und zu flehen unter Fasten und in Sack und Asche.
Siebzig Jahre soll Jerusalem wüst liegen, liest Daniel bei Jeremia. Dann soll es einen Neuanfang geben, der Krieg soll in die Geschichtsbücher, das Leben eine neue Chance bekommen.
Für Daniel würde das wohl bedeuten, zurück zu dürfen in die Stadt seiner Sehnsucht, in die Stadt Gottes, nach Jerusalem. Dabei ging es ihm in der Fremde, in die es ihn verschlagen hatte, nicht schlecht. Er hatte es sogar nach der wunderbaren Bewahrung in der Löwengrube zu wirklicher Bedeutung gebracht. Aber in der Fremde sterben wollte er nicht. Er wollte zurück nach Haus, auch wenn er nicht wirklich wusste, wohin er da zurück wollte.
Im ersten Jahr des Königs Darius soll es gewesen sein. Viele haben in anderen Büchern nachhesehen, nachgerechnet und gemerkt: DIESEN Darius hat es nie gegeben. Darum lassen sich DIESE siebzig Jahre auch in keinem Kalender eintragen. Ein Kalender kann also auch nicht sagen, wann endlich alles vorbei ist. Vielleicht sind die Trümmer weggeräumt, vielleicht auch nur zugewachsen. Verschwunden sind sie nicht, schon gar nicht aus den Herzen derer, die im Krieg waren.
Hat Jeremia recht? Versteht Daniel ihn recht? Wann ist es wirklich zu Ende? Wann kann er endlich nach Hause? Es ist ihm ernst, nichts wünscht er sich so sehr, als dass es endlich vorbei wäre. Wie auch immer: Viel dafür tun kann er nicht, aber beten kann er. Unter Fasten in Sack und Asche.
16 Ach, Herr, um aller deiner Gerechtigkeit willen wende ab deinen Zorn und Grimm von deiner Stadt Jerusalem und deinem heiligen Berg. Denn wegen unserer Sünden und wegen der Missetaten unserer Väter trägt Jerusalem und dein Volk Schmach bei allen, die um uns her wohnen.
Wann es wirklich vorbei ist, kann Daniel nicht wissen. Aber er kann hoffen, dass Gott immer noch Gott ist. Dass er sich nicht verändert hat. Dass er sein Volk immer noch liebt. Dass Gott seinen Versprechungen treu bleibt. Dass der Zion immer noch sein heiliger Berg ist. Dass der Mensch auf dem Zion Gott so nahe sein kann, dass er sein Heil finden kann.
Wegen UNSERER Sünden sitzen wir hier in der Fremde fest. Wegen der Schuld UNSERER Väter sind wir die großen Verlierer der Geschichte. UNSERETwegen leiden wir.
Ob Daniel da Recht hat? War es tatsächlich die Schuld Israels, dass die Großmächte sich seiner bemächtigt hatten? War das Unrecht, das Israel jetzt erlebte, eigene „Schuld“? Worin genau hat die denn gelegen?
Das ist hier nicht zu lesen. Vielleicht schon deshalb nicht, weil sich die Menschen damals darüber nicht einig waren, genauso wenig wie wir Deutschen uns sechsundsiebzig Jahre nach kalendarischem Kriegsende wirklich einig sind.
Sicher, Richard von Weizsäcker hatte bereits vierzig Jahre nach Kriegsende auf den Punkt gebracht, was wohl die meisten Deutschen dachten und fühlten: Dass der 8. Mai 1945 Tag der Befreiung von der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft war; der Tag, an dem die Deutschen vom wohl größten Irrweg ihrer Geschichte heruntergeholt worden waren.
So denken und fühlen auch heute die meisten. Aber worin die Schuld der Einzelnen lag, wer wann versagte, wer die Saat des Bösen einbrachte, wer sie hegte und pflegte, wer sie erntete und fast über die ganze Welt verteilte – genau das bleibt bis heute Stoff für Hypotesen und Spekulationen.
Und dann gibt es ja noch die ewig Gestrigen, deren Verschwörungstheorien in ihre Gehirne hämmern, eigentlich sei alles ganz anders und die wirklichen Verbrecher auch andere gewesen. Wann ist das alles vorbei? Oder hat längst ein neuer Krieg begonnen? Ist nicht Jede und Jeder in seinem eigenen Krieg, der nie vorbei ist? Auch nicht, wenn man alt geworden ist: Siebzig Jahre, nachdem man mit dem Denken und Erinnern angefangen hat?
Siebzig Jahre nach Denken und Erinnern ist man selbst mindestens 74 Jahre alt. An das, was man erlebt hat, bevor man Vier war, erinnert man sich ja nur wegen der Erzählungen oder der vergilbten oder verblassten Fotos wegen. Gut, wenn man schon vorher begriffen hat, wie diese Welt funktioniert:
MEINE Gerechtigkeit, die Ausrichtung MEINES Lebens, das, was ICH für richtig und falsch halte, deckt sich nur sehr selten mit dem, was DEINE Gerechtigkeit, die Ausrichtung DEINES Lebens, das, das DU für richtig und falsch hältst. Dein Krieg ist nicht mein Krieg. Das, worunter der Nächste leidet, ist nicht das, worunter ich leide. Und JEDER Mangel an Mitleid bedeutet darum neues Leid. Das ist nie vorbei.
17 Und nun, unser Gott, höre das Gebet deines Knechtes und sein Flehen. Lass leuchten dein Angesicht über dein zerstörtes Heiligtum um deinetwillen, Herr!
18 Neige deine Ohren, mein Gott, und höre, tu deine Augen auf und sieh an unsere Trümmer und die Stadt, die nach deinem Namen genannt ist. Denn wir liegen vor dir mit unserm Gebet und vertrauen nicht auf unsre Gerechtigkeit, sondern auf deine große Barmherzigkeit.
Wer das Heil seines Menschseins sucht, muss sein Heil offenbar woanders suchen als bei den Menschen. Der muss von seinem hohen Ross herunter und in Sack und Asche gehen. Der muss die Sprüche sein lassen und zu reden anfangen. Muss akzeptieren, dass es an ihm selbst liegt, dass es nicht vorbei ist. Nicht vorbei sein KANN, weil der Mensch MENSCH ist und er nichts daran ändern kann, dass er NUR Mensch ist.
Kein Mensch kann das ENDE eines Weges sehen, wenn er ihn betritt. Er kann nur spüren, dass er anderswo angekommen ist, als er wollte. Er kann nicht einmal wissen, ob er da angekommen wäre, wo er eigentlich hinwollte, wenn er einen ANDEREN Weg genommen hätte (was ihm da alles hätte in die Quere kommen können…). SEINE Gerechtigkeit, SEINE Richtung, sein Richtig und sein Falsch führen nicht dahin, wo seine Ruhe, Erlösung und Heil zu finden sind. Wo es endlich zu Ende ist.
Also wendet Daniel sich an den EINZIGEN, von dem er Hilfe erwarten kann. Sieh deinen Sklaven, Gott. Höre auf sein Flehen. Lass DEINE Gerechtigkeit aufscheinen wie das Licht im Mai, das den Winter endlich beendet. Lass deinen Knecht begreifen, warum alles in Trümmern liegt. Lass ihn nach Jerusalem kommen, lass ihn deinen Berg besteigen, lass ihn HEIL für sein Leben finden.
Daniel weiß plötzlich, dass nur GOTTES Gerechtigkeit sein Leben neu ausrichten kann. Dass Gott allein es ist, der helfen kann. Dass Jerusalem der Ort ist, an den er gelangen MUSS, weil dort Ruhe, Erlösung und Heil zu finden sind. Nur dort, nirgends sonst. An dem Ort, an dem Gott wohnt.
Meine Schwestern, meine Brüder:
Vielleicht ist der Krieg, der von 1939 bis 1945 dauerte und unsere Welt mit bis dahin nie gekanntem Leid überzog, tatsächlich irgendwann einmal vorbei.
Vielleicht ist all das zwischen 6 Millionen ermordete Juden und den Strahlengräbern von Hiroshima und Nagasaki tatsächlich irgendwann einmal wie ein Denkmal. Ein Denkmal, vor denen die Menschen ehrfürchtig stehen und Abstand nehmen: Abstand von der eigenen Sicht auf Recht und Gerechtigkeit. Vielleicht sind diese siebzig Jahre tatsächlich irgendwann einmal vorbei.
Doch für jeden von uns wird es ihn trotzdem geben, den Krieg, der unsere Menschen-Heiligtümer zerstört und alles in Trümmern liegen lässt. Der unser Menschenleben leiden lässt. Zerbrochene Knochen, zerbrochene Herzen, zerbrochene Träume.
Für jeden von uns wird es ihn trotzdem geben müssen, den Tag, an dem wir erkennen, dass unsere Gerechtigkeit uns nicht die Ausrichtung gab, die uns an den Ort unserer Sehnsucht gebracht hätte. Gott möge geben, dass dieser Tag schneller kommt als man alt und lebenssatt geworden ist. Dass wir schneller als nach vierundsiebzig Lebensjahren unsere Not begriffen haben.
Denn Not lehrt beten.
Gebet holt vom hohen Ross herunter.
Lässt einen den letzten Schrei ausziehen
und in Sack und Asche gehen.
Lässt Sprüche verstummen und die Sprache wiederfinden.
Lässt einen die Macht der Sünde erkennen
und den, der diese Macht brechen kann.
Gebet lässt das Gespräch mit Gott beginnen,
dessen Antlitz leuchtet, wie es schon seit Menschengedenken geleuchtet hat.
Dessen Barmherzigkeit wie offene Arme ist,
in denen alle Not tatsächlich und immer ihr Ende findet.
Eigene Not kann einen selbst tatsächlich das Beten lehren.
Und wer in seiner Not dann endlich anfängt, ein ernstes Gespräch mit Gott zu führen,
wird erleben können, dass „ES“ doch zu Ende sein kann.
Wer mit Gott redet, wird einen neuen Blick bekommen auf die Trümmer, in denen die eigene Lebens-Stadt liegt.
Und wird das Leuchten entdecken,
das vom Zion ausgeht und sie finden lässt:
Die Liebe Gottes, die Gnade unseres Herrn Jesus Christus und die Gemeinschaft des Heiligen Geistes.
In ihnen ruht der Friede, der alles Verstehen übersteigt
und uns das Heil finden lässt.
AMEN