Sehnsucht nach dem Jüngsten Gericht (2. Kor 5 1-11)

von dort wird er kommen
zu richten
die Lebenden und die Toten

was wird sein
Gesetz oder Gerechtigkeit
wer werde ich sein
frei oder verurteilt

wüsste ich es selbst
wenn ich versuchte
ehrlich zu sein
vor dem Richter
vor mir

nach einem Leben voller Unrecht
in einer Welt voller Unrecht
bleiben Versprechen und Trost

Wir müssen alle
offenbar werden
vor dem Richterstuhl Christi.
2 Korinther 5,10
***
Sehnsucht nach dem Jüngsten Gericht.
Dass man die hat
oder wiederfindet
oder überhaupt erst einmal entdeckt – das ist Thema am vorletzten Sonntag im Kirchenjahr.

Doch das ist alles andere als einfach.
Man hat ja schließlich so seine Erfahrungen mit „Gericht“ gemacht, auch wenn es da zunächst um IRDISCHES Gericht und Urteilen geht.

Ich kann mich noch sehr gut erinnern, dass ich als Schüler in meiner Geburtsstadt Zehdenick mit der Schulklasse zu einem Gerichtsverfahren musste.

Dazu ging es nicht ins Gerichtsgebäude. Was ja an sich nicht schlecht war, denn dieses historische Gebäude hatte eine bedrückende Architektur, die einem das Gefühl vermitteln sollte, vor der Justiz nur ein kleines Licht zu sein.

Man war nun für dieses Verfahren extra in einen größeren Saal in der Stadt umgezogen, damit auch möglichst viele Schüler dabei sein konnten. Ging es doch in der Verhandlung um drei Jugendliche, denen asoziales Verhalten in Tateinheit mit Diebstahl vorgeworfen wurde.

Und der Ton, in dem diese Verhandlung dann in den 70er Jahren geführt wurde, war für mein Empfinden kaum angenehmer, als ich den aus historischen Aufnahmen des Volksgerichtshofes unter Roland Freisler kannte. Und ich wurde auch den Eindruck nicht los, dass das Strafmaß auch hier schon vor dem Prozess feststand.

Außer dieser Ersterfahrung „vor Gericht“ erlebte ich natürlich die vielen kleineren „Gerichte“, die alle ertragen müssen: Die Beurteilungen, die einem auf Zeugnissen oder nach Praktika oder am Arbeitsplatz ausgestellt werden.

Meine Erfahrungen sind auch hier eher trübe: Die Beurteilungen auf meinen Zeugnissen fand ich selten fair und oft übergriffig. Wenn der Unterricht totlangweilig war, wieso bekam ich dann Rügen für mein Betragen und nicht der Lehrer für seine Leistung? Was sollten Sätze wie „Malte sagt immer offen seine Meinung“? Woher wollten die das denn wissen, oder war das nur eine Umschreibung für „er ist ein Querulant“?

Nach der Wende gab es dann erste Gerichtsserien im gerade entstehenden Privatfernsehen. Die Verhandlungen, die dort gezeigt wurden, waren zwar nachgestellt, wirkten aber sehr echt. Da gab es dann tatsächlich so etwas wie „Sehnsucht nach Gericht“. Zumindest legten das die hohen Einschaltquoten nahe. Doch das war eher die Sehnsucht nach kleinen und größeren Skandalen aus der sicheren Zuschauerperspektive heraus – wenn es für einen selbst peinlich oder gar brenzlig wurde, konnte man ja aus dem Zimmer gehen oder den Fernseher einfach ausschalten.

Dann kamen die beiden Male, bei denen ich selbst vor Gericht musste: Einmal als Beklagter, dann als Zeuge.

Als Beklagtem wurde mir vorgeworfen, einen Unfall verursacht zu haben, an dem ich, da war ich mir sicher, nie und nimmer schuldig war. Da tauchten vor Gericht plötzlich Zeugen auf, die ein Fehlverhalten meinerseits gesehen haben wollten, und wenn mein Rechtsanwalt seinen Job nicht verstanden hätte, hätte ich tatsächlich als Schuldiger aus dem Saal gegangen sein können.

Dann das Verfahren als Zeuge, ebenfalls bei einem Prozess zu einem Unfall. Hier musste ich erleben, dass man schon deshalb eine Teilschuld bekommen kann, wenn man mit dem Auto und 130 Stundenkilometern auf der Autobahn unterwegs ist und den Unfall nicht vorhersehen konnte.

Natürlich habe ich auch die Innensicht des Gerichts kennengelernt. Ein Freund von uns ist Familienrichter und hat stets versucht, in allen Krisen um Ehen und Kinder und Vormundschaften das Wohl der Partner, Kinder und Betreuten nie aus den Augen zu verlieren.

Aber das ist und bleibt eine Gratwanderung. Als Beispiel will ich da nur die Probleme nennen, die entstehen, wenn das Kindesrecht nach religiöser Selbstbestimmung, das es in Deutschland ja mit 14 Jahren hat, mit dem Erziehungsrecht von Eltern zusammentreffen, die mit Religion nichts am Hut haben und auch nicht haben wollen. Da ist gutes Richten oft unmöglich.

Meine Lebenserfahrung mit „Gericht“ bisher ist also:
Selbst in einem Staat, der sich müht, ein „Rechtsstaat“ zu sein, ist MIR bei den Gedanken an „Gericht“ oder „Urteil“ eher mulmig. Nicht mehr so wie in DDR-Zeiten, doch immer noch mulmig genug.
Wirkliche Sehnsucht hätte ich also eher danach, wenn mir beides bis zum meinem Lebensende erspart bliebe. Und ich glaube, den meisten von Euch geht es da ähnlich.

Wo soll da also eine „SEHNSUCHT nach GERICHT“ herkommen? Zumal nach dem „jüngsten“, also dem allerletzten Gericht. Also dem Gericht, wo nicht nur Einzelne, sondern gleich ALLE, die je lebten und leben werden, sich verantworten müssen. Zunächst scheint das kein schöner Gedanke zu sein.

Auch der Blick in die Kirchengeschichte ist da nicht besonders hilfreich. „Israel“ und „Kirche“ haben sich durch Jahrtausende hindurch immer wieder darin gefallen, ANGST vor dem Gericht Gottes zu wecken und wach zu halten.

Wie bekomme ich einen gnädigen Gott? hat sich der junge Martin Luther darum immer und immer wieder gefragt, umgetrieben von der Angst, dass sein Leben den Anforderungen des Allmächtigen nie und nimmer genügen würde können. Und die Gemälde, die in fast allen Kirchen über die Hölle und ihre Qualen zu finden sind, taten da sicher ihr Übriges.

Kein Wunder also, dass die Rede über das letzte Gericht Gottes in der Kirche von heute sehr in den Hintergrund gerückt ist. Viele Gemeinden feiern heute Gottesdienste zum politischen Gedenktag Volkstrauertag. Oder im Rahmen der Friedensdekade Friedensgottesdienste.

In meiner früheren Gemeinde Kirchhain war der Vorletzte Sonntag im Kirchenjahr seit Jahrzehnten Jugendgottesdienst der Friedensdekade; da konnte man das Thema „Jüngstes Gericht“ gut umschiffen.

Dabei gibt es auch auf der Erde Grund genug, sich nach Gericht zu sehnen. Gerade der vergangene Dienstag, der 9. November, erinnerte uns ja nicht nur an den Fall der Mauer 1989, sondern auch an schlimme Tage deutscher Geschichte – wie das Scheitern der Märzrevolution 1848, den Hitlerputsch 1923 oder die Reichs-Pogromnacht 1938.

Da wird dann doch Sehnsucht danach wach, dass irgend jemand jemand vor ein ordentliches Gericht bringt, was da an Verbrechen geschehen ist. Selbst wenn ein Beklagter inzwischen einhundert Jahre alt ist wie der Brandenburger Aufseher im KZ Sachsenhausen, der im Moment in unserer Stadt vor Gericht ist.

Und von der ganz PERSÖNLICHEN Sehnsucht nach Gericht, besser nach persönlicher Neuausrichtung haben wir heute schon zu Beginn der Lesung aus dem Buch Jeremia (8, 4) gehört: „Wo ist jemand, wenn er fällt, der nicht gern wieder aufstünde? Wo ist jemand, wenn er irregeht, der nicht gern wieder zurechtkäme?“ Ja, wem wäre diese Sehnsucht fremd?

Dass im Wort „Gericht“ auch die Worte „richten, ausrichten“ stecken, dass es auch Ziel unseres europäischen Rechtssystems ist, Menschen neu auszurichten, also sie auf den Weg des Rechts zurückzuführen: Das gerät viel zu oft in Vergessenheit.

Meine Schwestern, meine Brüder:

Genau um so eine Neuausrichtung geht es beim Nachdenken über das „jüngste Gericht“. Niemand kennt es, niemand hat es je gesehen, niemand kann beweisen, dass es das geben wird. Dass wir dennoch darüber reden, ist der Sehnsucht nach dieser persönlichen Neuausrichtung geschuldet, die in Ordnung bringt, was in Ordnung gebracht werden muss.

Es gibt doch so vieles, was aus unserer Sicht falsch läuft im Leben, auch was wir selbst falsch machen und gemacht haben. Und wo wäre denn „jemand, wenn er irregeht, der nicht gern wieder zurecht käme?“

Von dieser Sehnsucht, dass wir, ja ALLE Menschen am Ende so ausgerichtet werden, dass sie „zurecht“ kommen, redet auch Paulus im 2. Korintherbrief. Der Text, aus dem auch der Spruch für diese Woche stammt. Paulus beginnt diesen Abschnitt in Kapitel 5 so:

1 Denn wir wissen: Wenn unser irdisches Haus, diese Hütte, abgebrochen wird, so haben wir einen Bau, von Gott erbaut, ein Haus, nicht mit Händen gemacht, das ewig ist im Himmel. 2 Denn darum seufzen wir auch und sehnen uns danach, dass wir mit unserer Behausung, die vom Himmel ist, überkleidet werden, 3weil wir dann bekleidet und nicht nackt befunden werden. 4Denn solange wir in dieser Hütte sind, seufzen wir und sind beschwert, weil wir lieber nicht entkleidet, sondern überkleidet werden wollen, damit das Sterbliche verschlungen werde von dem Leben. 5Der uns aber dazu bereitet hat, das ist Gott, der uns als Unterpfand den Geist gegeben hat.

Das Leben auf dieser Erde – was immer der Mensch darüber denkt, egal, ob es in einem hohlen Baumstamm oder in einem Palast stattfindet: Es ist nur eine Hütte. Provisorisch, anfällig, nichts, das Bestand haben könnte. Alles wird dem Menschen am Ende wieder genommen werden. So nackt, wie er auf die Welt kam, muss er sie wieder verlassen.

So wird vieles im Leben als stete Belastung empfunden. In den Worten des Wochenliedes vorhin: Es mag sein – die Welt ist alt -Missetat und Missgestalt sind in ihr gemeine Plagen… (EG 378,4). Ja, die Welt ist eine Hütte voller Makel, und das ist sie schon immer und für immer.

Des Menschen Sehnsucht ist darum die nach einem zeitlosen Bauwerk, OHNE Makel, und OHNE Zahn der Zeit, der an ihm nagt. Um im Bild des Paulus zu bleiben: Wir sehnen uns, nicht nackt, sondern bekleidet zu sein, Sicherheit zu erfahren und bis auf unsere nackte Haut zu fühlen.
ZEIT hinter uns zu lassen und ZEITLOSIGKEIT zu erfahren.

Warum wir davon in diesem Leben überhaupt wissen?
Paulus sagt:
„Der uns aber dazu bereitet hat, das ist Gott, der uns als Unterpfand den Geist gegeben hat.“ Gott selbst also hält diese Sehnsucht in uns wach und lebendig, davon zeugt die Heilige Schrift als GEGENGEWICHT zu unserer Angst vor dem Scheitern unseres Lebens, also der Hölle.

Paulus darum weiter: 6So sind wir denn allezeit getrost und wissen: Solange wir im Leibe wohnen, weilen wir fern von dem Herrn; 7denn wir wandeln im Glauben und nicht im Schauen.
8Wir sind aber getrost und begehren sehr, den Leib zu verlassen und daheim zu sein bei dem Herrn.
9Darum setzen wir auch unsre Ehre darein, ob wir daheim sind oder in der Fremde, dass wir ihm wohlgefallen. 10Denn wir müssen alle offenbar werden vor dem Richterstuhl Christi, auf dass ein jeder empfange nach dem, was er getan hat im Leib, es sei gut oder böse.

Damit bringt er die große Hoffnung auf den Punkt, die Gott in uns wachhält: Dass alles, was wir in diesem Leben als Makel erfahren oder vielleicht auch nur empfinden, bei und durch Gott aufgehoben wird. Dass wir das Gefühl haben können, nach Hause, also HEIM zu Gott zu kommen, wenn wir einmal aus dieser Welt gehen.

Dass Gott uns sehen wird, wie wir sind, dass unser Leben vor ihm OFFENBAR wird, ohne Schönreden, ohne Lebenslügen, ohne Irrtümer, ohne jeden Fehler.

Es ist ja der Richterstuhl CHRISTI, vor dem es weder Staatsanwälte noch Verteidiger braucht. Weil Christus uns doch längst gezeigt hat, dass die GNADE Gottes in der Lage ist, ALLES zu Recht zu bringen, in die richtige Richtung zu führen. Christus hat uns längst gezeigt, dass es die LIEBE Gottes ist, die uns heute leben lässt und die uns auch umfangen wird, wenn wir dieses Leben, das wir kennen, verlassen müssen.

Die Konsequenz für Paulus: In diesem Leben zu lieben. Nichts anderes meint: „Darum setzen wir auch unsre Ehre darein, ob wir daheim sind oder in der Fremde, dass wir ihm wohlgefallen“ (9).

Paulus verliert hier KEIN WORT über irgend eine Hölle, in die wir bei Versagen landen würden. Er wirbt vielmehr dafür, in diesem Leben Liebe zu leben und möglichst vielen Menschen begreiflich zu machen, wir groß das ist, was Gottes Gnade für uns bedeutet. Dass sie im Jüngsten Gericht jede Lüge in Wahrheit überführt, so dass wir „offenbar“ werden, begreifen, was wirklich falsch gelaufen ist, endlich erleben, was die Wahrheit ist.

Darum Paulus zum Schluss: Weil wir nun wissen, dass der Herr zu fürchten ist, suchen wir Menschen zu gewinnen; aber vor Gott sind wir offenbar (V11)

Menschen für die Liebe Christi zu GEWINNEN und auf die Neuausrichtung durch Gottes Gnade alle Hoffnung zu setzen:
Das ist der Himmel Gottes, auf den wir hoffen dürfen.

Die Liebe Gottes gering zu achten und die Gnade Christi nicht zu erfahren:
Das dagegen KANN nur die Hölle sein, die niemand erleben will.

Die Gemeinschaft des Heiligen Geistes
lässt uns heute schon in den Himmel Gottes sehen.
Sie lässt in uns die Sehnsucht nach seinem Gericht wach werden und lehrt uns, darauf zu hoffen,
dass die Wahrheit für uns vor Gott offenbar werden wird,
weil wir vor ihm offenbar werden.
AMEN

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