Die Weihnachtsbilder zeigen nicht,
was sich außen abgespielt hat, sondern/
Verborgenes und Unsichtbares/
ausgebreitet vor unser aller Augen.
Das Wort ward Fleisch und wohnte unter uns,
und wir sahen seine Herrlichkeit.
Johannes 1,14a
***
Die Geschichte von Max ist eigentlich die Geschichte eines ganz normalen Jungen in einer fast normalen Familie. Aber eben nur fast normal: Denn in unserem Lande ist eine Familie mit vier Kindern inzwischen eben nicht mehr normal.
Die Familie lebt in einem Dorf in Brandenburg, und als die Frau mit dem vierten Kind schwanger war, gab es manche Nachbarn, die den Kopf schüttelten: Das ist ja schon asozial! Sie hätten sich lieber noch eine Kuh kaufen sollen, die haben sie nämlich wirklich nötig. Stattdessen ist sie schon wieder schwanger. Als ob sie nichts Besseres zu tun hätten. Aber die beiden Eheleute freuten sich auf ihr Kind – genauso wie auf die anderen drei. Aber nun der Reihe nach.
Max war nämlich der Älteste. Schon seine Geburt war nicht einfach, irgendwie war sie ein Synonym für das Leben schlechthin. Das Leben ist ja auch selten einfach. Im achten Monat ging es Mutter und Kind plötzlich nicht so richtig gut, sie musste im Krankenhaus bleiben und liegen – eine Risikoschwangerschaft, wo doch alles so gut angefangen hatte.
Plötzlich lag sie da im Bett. Bis eben noch hatte sie gedacht, die letzten Wochen zwar kürzer treten zu müssen, aber noch einen guten Teil der Arbeit auf dem Hof selbst schaffen zu können – so gut fühlte sie sich. Nun aber lag sie hier und hatte alle Zeit der Welt, wusste aber nicht, was sie mit ihr anstellen sollte.
Ihr Vater besuchte sie und sah, dass seine Tochter mit der Situation nicht so recht klarkam. Aber Kind. Es ist dran, was dran ist. Stell Dir vor, Dein Kind oder Du selbst kämt zu Schaden, nur weil Du jetzt ungeduldig bist. Das würde nicht nur niemandem nützen. Du würdest Dir Vorwürfe machen bis zum Ende. Liebe bedeutet zuerst die Dinge hinzunehmen, wie sie sind. Und das ist jetzt dran – nichts anderes.
Er strich ihr mit der Hand über den Bauch, und sie wusste und fühlte plötzlich, dass er Recht hatte. Seine Ruhe breitete sich in ihr aus, und so wie ich sie kenne, hat sie diese Ruhe auch behalten.
Als ihr Mann wenig später zu ihr kam, seinen Stress auf dem Hof mühsam zu verbergen suchend, nahm sie seine Hand, legte sie auf ihren Bauch und sah ihm in die Augen – und ihre Ruhe floss zu ihm herüber. Jetzt ist dran, was dran ist – der Rest kann warten. Sie machten ihren Frieden mit dem Jetzt.
Max kam sieben Wochen zu früh, und es stand manchmal auf Messers Schneide. Als sie dann nach Hause entlassen wurden, erlebten sie manch unruhige Nacht, in der sie den Arzt rufen mussten, weil sie allein nicht mehr weiter wussten.
Vieles auf dem Hof blieb liegen in der Zeit. Aber immer, wenn sie unter den vielen Provisorien, mit denen sie lebten, zu leiden anfingen, wiederholte sie die Worte ihres Vaters: Liebe bedeutet zuerst die Dinge hinzunehmen, wie sie sind. Und das ist jetzt dran – nichts anderes.
So ungefähr nach einem Jahr wurde es leichter. Sie schliefen zwar immer noch nicht wieder richtig durch, und die Windeln waren oft gerade dann voll, wenn sie gerade richtig eingeschlafen waren. Aber das war nicht anders als bei anderen Eltern, und ihr Max entwickelte sich zu einem ganz normalen Jungen.
So war es auch ganz normal, dass er skeptisch mit dem wieder größer werdenden Bauch seiner Mutter umging. Er entwickelte eine Ahnung dafür, dass er die Liebe seiner Eltern bald nicht mehr für sich allein haben würde.
Als sie an einem Sonntag am festlich gedeckten Mittagstisch saßen, sagte der Vater, dass die Mutter in der nächsten Woche ins Krankenhaus gehen würde und bald mit einem Geschwisterchen zurückkommen würde. Max legte den Kopf schief. „Essen wir das dann auf?“
Für einen Moment waren Vater und Mutter sprachlos. Dann lächelte der Vater. „Nein, Max. Dann sind wir ein Mensch mehr hier zu Hause. Du wirst sehen: Das wird richtig gut.“
Überzeugend fand Max das nicht.
Als Mutter dann mit Zwillingsmädchen und zwei Jahre danach noch mit einem Bruder nach Haus kam, wurde die Sache mit den Windeln für längere Zeit nicht wirklich besser.
Aber fast unbemerkt hatte für Max eine richtig gute Zeit begonnen: Er wollte alles können und wissen, was die Eltern auch konnten und wussten. Schon als die Zwillinge kamen. Er fühlte sich als der Mann im Haus, wenn der Vater nicht da war. Und er wollte diese Rolle auch richtig spielen.
Als er dann in der fünften Klasse war und seine Mutter auch noch halbtags arbeiten ging, um die Familienkasse aufzubessern, musste er diese Rolle plötzlich spielen. Aber auch wenn es manchmal heftigen Streit gab – er liebte seine Geschwister, es war seine Familie. Da war es nicht ganz so schlimm, dass er öfter nicht zum Fußball konnte, weil er zu Hause auf den Kleinen aufpassen musste.
Als Max 14 wurde, lud er mehrere Freunde zu seiner Geburtstagsfeier ein. Ralf war zum ersten Mal bei ihm Zuhaus, bisher sahen sie sich nur in der Schule. Oder auf dem Fußballplatz, dort war er der Spielmacher. Das wollte er auch hier sein – nur leider kollidierte das mit den kleineren Geschwistern von Max und mit den Mahnungen der Mutter.
Wie hältst Du das hier aus? fragte Ralf irgendwann. Kein eigenes Zimmer, immer dieses Rumgezicke von den Schwestern, und nicht mal an deinem Geburtstag kannst Du wirklich machen, wozu du Lust hast.
Am Abend war Max nachdenklich. Nein – optimal lief es für ihn wirklich nicht. Ralf war ein Einzelkind, hatte sein eigenes Zimmer, seinen eigenen Fernseher, sein eigenes Pferd. Was hatte er? Drei Geschwister. Und Eltern, sie sich immer mehr um den Kleinen kümmerten als um ihn. Optimal konnte man das wirklich nicht nennen.
Max beschloss, sein eigenes Leben zu leben. In den nächsten Monaten zeigte er seinen Eltern, dass sie nicht alles mit ihm machen konnten. Oft kam er spät nach Hause, sagte auch nicht, wo er denn gewesen wäre. Seine schulischen Leistungen ließen nach. Es gab Tage, da ging er gar nicht zur Schule, weil er Besseres vorhatte. Am Ende der 8. Klasse hieß es: Keine Versetzung.
Die Eltern waren mehr als einmal völlig ratlos. Was haben wir falsch gemacht? Der Vater zog strengere Seiten auf, die Mutter versuchte es mit Gespräch. Aber das Verhalten des Vaters war für Max der Beleg dafür, dass die Eltern ihn ohnehin überhatten. Und die Mutter konnte kein wirkliches Verständnis für seine schwere Situation aufbringen. Die Zeiten jedenfalls, als die Eltern für Max die Größten waren, waren ein für alle Mal vorbei.
Der Höhepunkt der Krise zwischen Max und seinen Eltern war drei Jahre später erreicht, als Max und Enrico in ein Elektronikgeschäft einbrachen, um ihr Taschengeld aufzubessern. Als seine Mutter ihn in der U-Haft besuchen wollte, verweigerte er ein Zusammentreffen. Er wollte niemanden von seinen „Erzeugern“ sehen.
Im Gerichtssaal war es dann schon heftig. Die Fragen von Staatsanwalt und Richter ließen kaum Zweifel aufkommen: Sie hielten ihn für einen Gewohnheitsdieb. Nur schwer konnte man das Gericht davon überzeugen, dass alles eher eine Laune des Momentes und eine Erst-Tat war.
Max sah dabei verstohlen zu seinen Eltern herüber. Beide sahen nach unten auf den Boden. Als Max dann mit einer Bewährungsstrafe den Saal verließ, fragte er sich, wo er nun hinsollte. Nach Hause konnte er nach all dem wohl kaum, außerdem war er fast erwachsen. Aber Mutter und Vater nahmen ihn auf dem Flur wortlos in die Arme. Allen war zum Heulen zumute.
Wieder Zuhause gab es für Max eine schöne Überraschung: Sein Vater hatte ein Bodenzimmer für ihn ausgebaut. Max begann, sich neu einzurichten. In seinem Zimmer, in seinem Leben.
Max fragte, wie es nun weitergehen solle. Der Vater zuckte eher hilflos die Schultern. Die Mutter aber sagte: „Liebe bedeutet zuerst die Dinge hinzunehmen, wie sie sind. Und das ist jetzt dran – nichts anderes. Morgen werden wir weitersehen.“
Hier will ich aufhören mit der Geschichte von Max. Ich sehe ihn noch dann und wann, und es wäre noch mehr zu erzählen. Aber das würde jetzt noch mindestens eine halbe Stunde dauern.
Warum ich euch das alles erzählt habe?
Der Kernsatz des Predigttextes für heute aus dem 1. Brief des Johannes im 3. Kapitel ist gleich der erste Vers:
Seht doch, wie groß die Liebe ist, die uns der Vater erwiesen hat: Kinder Gottes dürfen wir uns nennen, und wir sind es tatsächlich!
Es geht heute also gar nicht zuerst um das Kind in der Krippe, sondern um UNSER Kindsein. Darum, dass wir zu den Menschen gehören dürfen, die sich als Kinder Gottes fühlen und als Kinder Gottes leben. Egal welchen Alters, welcher Herkunft, welcher Bildung. Egal, ob froh oder traurig, ob krank oder gesund, ob wohlhabend oder arm.
Und vieles von dem, was das Kindsein alles mit sich bringen kann, habe ich in der Lebensgeschichte des jungen Max entdecken können. Und ich denke, ihr habt das auch.
Nun ist es aber so, dass viele Menschen froh sind, endlich erwachsen zu sein, sich von den Eltern abgenabelt zu haben und ihr eigenes Leben leben zu können. Kind sein bedeutet für sie vor allem Abhängigkeit und damit Fremdbestimmung.
Aber Hand aufs Herz: Nichts, was lebt auf dieser Erde, lebt ohne Abhängigkeit. Jede Pflanze braucht Licht und Wasser. Jedes Tier braucht Nahrung und Partner, wenn seine Art leben soll. Und jeder Mensch braucht dasselbe: Licht, Wasser, Nahrung und Partner.
Und er braucht noch mehr, denn er ist ein Mensch: Menschen brauchen Menschen. Wer das erkennt, ist nicht schlecht dran, sondern hat einen Lebensgrundsatz erkannt: Abhängigkeit ist Realität, der man sich nicht entziehen kann, weil man Mensch ist.
Menschen müssen lernen, wachsen und verstehen. Das macht ihr Leben aus, das macht es wertvoll und lebenswert. Menschen müssen diskutieren, damit sie ihre Wahrheit finden. Sie brauchen die Leistung der anderen, weil niemand alles kann, was ihm wichtig ist. Sie brauchen die Stimme der anderen, weil sie sonst die Einsamkeit erschlägt.
Max hat all das, weil er SEINE Familie hat. Und hier hat noch mehr: Herzliche Zuwendung, große Liebe. Menschen, zu denen er gehen kann, wenn alles schief geht, und wo er bleiben kann, wenn ihm das Leben vollends aus der Hand zu gleiten droht.
Er hat die Windeln gewechselt bekommen, weil er es selbst nicht kann. Er hat sich Pleiten, Bosheit und Katastrophe leisten können – und hatte doch offene Arme, die ihn mit nach Hause genommen haben. Und weil er das begriffen hat, wir d auch er ein guter Vater werden, da in ich mir sicher.
Was aber, wenn man eine so starke Familie gar nicht hat? Wenn einen gerade der Mensch, auf den man sich immer verlassen hat, verlässt? Wenn die wichtigsten Menschen einem durch den Tod genommen werden? Genau hier sind wir an dem Punkt, warum wir gerade zu Weihnachten besonders nah am eigenen Kindsein sind.
Nicht einfach, weil Jesus als Kind in der Krippe liegt. Sondern weil wir am Leben dieses Jesus aus Nazareth erkennen können, wie wichtig Gott seine Menschen sind. So wichtig, dass er selbst Mensch wurde. So wichtig, dass Gott durch Jesus die Menschen wissen lässt, wie er das Menschsein will. So wichtig, dass er selbst vor dem Foltertod am Kreuz nicht zurückschreckt, so dass die Menschen sehen: Alles, was das Menschsein ausmacht, hat Gott am eigenen Leib erfahren. Jeder, der sich Gottes Kind nennen kann, kann wirklich froh sein.
Kein Mensch kann sich der lebenslangen Abhängigkeit entziehen. Aber Menschen können ihre Abhängigkeiten bis zu einem gewissen Grade selbst wählen. Und sie werden sich von dem abhängig machen, an den sie fest glauben.
Wir sind hier zu Weihnachten in der Kirche, weil wir an Gott glauben wollen. Und wir finden Gott als Kind in der Krippe, als Mensch unter Menschen und als Freund, der nicht einmal vor dem Kreuz zurückschreckt.
Gerade zu Weihnachten können wir mit eigenen Augen sehen, dass Gott weiß, was Liebe bedeutet. Mindestens so gut wie der Großvater von Max.
Und wenn wir an Gott glauben, bedeutet das, die Abhängigkeit von Gott als Glück zu begreifen, weil wir Kinder Gottes sein dürfen, der zur Weihnacht wahrer Mensch geworden ist.
Der Friede Gottes, der größer ist als all unsere Vernunft, bewahre unsere Herzen und Sinne in Christus Jesus. Amen.
So eine wundervolle Predigt! Sie hat mich sehr berührt.
Danke