Nach der Heilung des Taubstummen, von der wir in der Evangelienlesung hörten (Mk 7, 31ff), geht es auch im Predigttext um eine Heilungsgeschichte. Ich lese aus der Apostelgeschichte Kapitel 3.
Petrus aber und Johannes gingen hinauf in den Tempel um die neunte Stunde, zur Gebetszeit. Und es wurde ein Mann herbeigetragen, lahm von Mutterleibe; den setzte man täglich vor die Tür des Tempels, die da heißt die Schöne, damit er um Almosen bettelte bei denen, die in den Tempel gingen.
Als er nun Petrus und Johannes sah, wie sie in den Tempel hineingehen wollten, bat er um ein Almosen. Petrus aber blickte ihn an mit Johannes und sprach: Sieh uns an! Und er sah sie an und wartete darauf, dass er etwas von ihnen empfinge.
Petrus aber sprach: Silber und Gold habe ich nicht; was ich aber habe, das gebe ich dir: Im Namen Jesu Christi von Nazareth steh auf und geh umher!
Und er ergriff ihn bei der rechten Hand und richtete ihn auf. Sogleich wurden seine Füße und Knöchel fest, er sprang auf, konnte gehen und stehen und ging mit ihnen in den Tempel, lief und sprang umher und lobte Gott.
Und es sah ihn alles Volk umhergehen und Gott loben. Sie erkannten ihn auch, dass er es war, der vor der Schönen Tür des Tempels gesessen und um Almosen gebettelt hatte; und Verwunderung und Entsetzen erfüllte sie über das, was ihm widerfahren war.
Eine schöne Geschichte, genau richtig für einen Sommer-Sonntag. Anschaulich erzählt, bunt, lebendig und spannend; Einzelheiten, die einem nahe gehen, garniert mit einem Happyend wie im Sonntagsmärchen, das meine Tochter so gern im KIKA sieht, obwohl sie bald zwanzig ist.
Aber wir sind hier ja nicht im Kinderkanal kurz nach 12, sondern in der Kirche kurz vor 11. Und hier sollte es schließlich um ernste Sachen gehen. Um Fragen, die unser Leben anrühren und ändern. Um Sätze, die uns in unserem Glauben weiterbringen. Und da hat es so eine Heilungsgeschichte nicht leicht.
Schon als ich noch zum Kindergottesdienst ging, steckte ich diese Geschichte betreffend in dieser Klemme: Ich mochte sie, weil sie so schön erzählt ist und so gut ausgeht. Andererseits hatte ich Einwände, vor allem was die handelnden Personen betraf.
Das Jesus Kranke heilen konnte, bereitete mir keine großen Schwierigkeiten. Dem Sohn Gottes, zu dem ich gern aufsah, sollte so etwas schließlich zuzutrauen sein.
Aber Johannes und Petrus? Waren das nicht nur Jünger? Ganz normale Menschen wie du und ich, mit ähnlichem Beruf wie mein Vater, der gerade nebenan in der Kirche auf der Kanzel stand und predigte? Und dann ausgerechnet Petrus, wankelmütig wie der Wetterhahn auf der Kirchturmspitze? Gerade ihm traute ich so etwas nicht zu.
Wenn ich den Text heute lese, stellt sich bei mir noch anderweitig Unbehagen ein. Die wirkungsgeschichtlichen Folgen zum Beispiel, wie man im Theologendeutsch zu sagen pflegt.
Da sind die Heiligsprechungen in der katholischen Kirche. Bis heute ist es Praxis, dass, falls der betreffende Mensch kein Märtyrer war, zusätzlich zur Wichtigkeit der Person ein Wunder dokumentiert werden muss.
Meist ist das ein Heilungswunder, welches von Medizinern geprüft und für naturwissenschaftlich unerklärlich befunden wird. Dass aber Heiligkeit etwas mit „nachweislichen“ Wundern zu tun haben soll, kann ich weder glauben noch verstehen.
Dann sind da Heilungsgottesdienste, die hie und da in Kirchen stattfinden. Dort herrscht oft die Auffassung, dass ein Nicht- Gelingen der Heilung zuerst und vor allem dem mangelnden Glauben des Kranken zuzuschreiben sei. Welchen Schaden das bei den Betroffenen anrichten kann, davon vermag ich ein trauriges Lied zu singen.
Schon aus diesen Gründen kann ich verstehen, dass mancher seine liebe Not hat, gerade mit dieser Heilungsgeschichte. Es ist einfacher, Märchen oder Sagen eine Chance zu geben, für das Leben wirklich bedeutsam zu werden.
„Hans im Glück“ beispielsweise. Dieses Märchen steckt voller Bilder und Symbole. Es singt Loblieder auf die Entschleunigung vom Reiter eines schnellen Pferdes bis zum Wanderer. Es bekennt, was im Leben wirklich wichtig ist. Denn es beschreibt, wie einer vom Goldklumpenbesitzer zu dem wird, der endlich wieder in seiner Mutter Dorf Heimat findet.
Das alles beeindruckt die, die darüber nachdenken. Ich habe sogar eine Vortragsreihe für Manager zu diesem Märchen gefunden. Dabei ist es gar nicht interessant, ob es Hans mit seinem Klumpen wirklich gab. Wichtig wird, dass die Einzelheiten dieses Märchens einem die Augen öffnen können für das eigene Jetzt und hier. Dadurch wird es wichtig.
Solche Einzelheiten aber finden sich in unserem Heilungsbericht auch, wenn wir genauer hinsehen. Spätestens hier sollte er auch eine Chance bekommen, Bedeutung für uns zu haben.
Petrus und Johannes steigen am Nachmittag zum Jerusalemer Tempel hinauf. Die Treppe wurde, so las ich, ausgegraben; eine Treppe, wie niemand sie an seinem Gemeindehaus heute habe möchte, eine mit eigenem Schreit- Rhythmus.
Eine lange Stufe, zwei kurze, eine lange, zwei kurze. Man muss sie langsam gehen, will man ohne zu fallen im Tempel ankommen. Ziel des Baumeisters: Entschleunigung auf dem Weg zum Gebet.
Die beiden wollen zur zweiten der drei Gebetszeiten. Die kleine christliche Gemeinde Jerusalems hält sich selbstverständlich an die jüdischen Bräuche; sie kommt wohl täglich, wahrscheinlich in der Halle Salomos, zusammen.
Dann begegnen sie ihm, den von Geburt an Gelähmten. Jeden Tag wird er hier abgesetzt, offenbar weil seine Familie nicht für seinen Lebensunterhalt aufkommen kann.
Direkt vor der so genannten „schönen Tür“, ein auch dem römischen Geschichtsschreiber Josephus bekanntes besonders eindrückliches bronzenes Tor.
Das ist ein guter Ort, um zu betteln: Der Kontrast zwischen der Schönheit des Baus und der Gebrechlichkeit des Kranken ist hilfreich, die frommen Vorbeigehenden an ihre Pflicht zum Almosengeben zu erinnern.
Der Kranke sieht die beiden Männer kommen. Er sieht sie, ohne sie anzusehen. Mit gesenktem Kopf nimmt er sie war, sieht zwei Paar Männerbeine, wahrscheinlich kein besonderer Anblick. Er spricht sie an, wie er unzählige vor ihnen auch schon angesprochen hat. Bitte ein Almosen! Und hofft auf ein paar wortlos eingeworfene Münzen.
Diese Hoffnung aber erfüllt sich nicht. Stattdessen hört er den einen der beiden, der ihn auffordert, ihn anzusehen. Er spürt: Er sollte dieser Aufforderung nachkommen und blickt nach oben, überrascht, gespannt, was die beiden ihm jetzt wohl zukommen lassen werden. Vielleicht gleich mehrere Kupfermünzen?
Lukas schreibt kein Wort davon, dass der Kranke die beiden erkennt, dass er wüsste, mit wem er es hier zu tun bekommt. Darum kann es in dem, was nun folgt, auch nicht um den Glauben des Kranken gehen. Wohl aber um den Glauben des Petrus, der zu ihm sagt: Silber und Gold habe ich nicht; was ich aber habe, das gebe ich dir: Im Namen Jesu Christi von Nazareth steh auf und geh umher!
Die Statik des Beginns, die den Gelähmten bisher umgab, weicht plötzlich einer Dynamik. Plötzlich kommt Bewegung auf. Das „sieh uns an“ lässt Distanz der Nähe weichen. Petrus nimmt ihn bei der Hand und hilft ihm auf, diese Berührung bringt den Kranken auch körperlich in Bewegung.
Er erlebt etwas völlig Neues, etwas, dass er nicht kennt: Füße und Knöchel geben seinem Körper Halt. Er kann es plötzlich, er tut es auch: Aufspringen, umhergehen, stehen, herumlaufen, springen. Gotteslob nicht nur durch Worte, sondern durch Bewegung. Hier läuft der durch den Tempel, der noch niemals in seinem Leben laufen konnte.
Was macht diese wunderbare Wendung seines Lebens möglich? Es ist der feste Glaube des Petrus an die Möglichkeiten seines Gottes: Der muss sich an keine Regel halten. An kein Menschengesetz, an kein Naturgesetz.
Es ist wie bei den „Brüdern Karamassow“ von Dostojewski. Zu einem alten Mönch kommt eine Mutter, um sich für die Heilung ihrer Tochter zu bedanken. Sie sei zwar noch nicht ganz gesund, habe aber kein Fieber mehr und könne ihre Beine schon ein wenig bewegen- der Mönch habe sie also auf den Weg der Besserung gebracht.
Und der Mönch wird gefragt: Wie haben sie das gemacht? Er aber antwortet: „Wenn etwas geschehen ist, so durch keine andere Kraft als durch Gottes Willen. Alles kommt von Gott.“
So auch hier. Petrus sagt: Im Namen Jesu Christi von Nazareth! Und es geschieht, was seit Jesaja von der Zeit des Heils erwartet wird:
„Dann werden die Lahmen springen wie ein Hirsch…“ (Jes 35,6), die Tauben werden hören, die Blinden sehen (Jes 29, 18). Im Namen Jesu Christi von Nazareth- nicht des Petrus. Jesus greift ein. Gott hilft weiter.
Dass der Geheilte dies erkennt, können wir beim Weiterlesen sehen. Er betritt den Innenraum des Tempels, der für ihn bis zu diesem Tag unerreichbar war. Er hätte ja auch nach Huas gehen können. Aber er lobt im Tempel Gott, der ihn diese undenkbare Wende seines Geschicks hat erleben lassen.
Unbegreiflich, was da geschieht. Nicht nur für uns moderne Menschen heute. Das bestätigen schon die Zeugen damals. Sie alle kannten den Kranken, wussten um die Ausweglosigkeit seines Schicksals. Nun aber trauen sie ihren Augen kaum.
Die Reaktionen der Zuschauer: Auch nicht anders als die Reaktionen heute. Was? Eine Spontanheilung!? Hat sich da nicht der Arzt in der Diagnose vertan? Sicher war der Krebs gar kein Krebs.
Das Wunder lässt sie sich ver- wundern. Das Entsetzliche lässt sie sich ent -setzen. Die Weltsicht wird „erschüttert“. Etwas geschieht an der Lehrmeinung vorbei: Unmöglich!
Meine Schwestern, meine Brüder,
eine Heilung, die zum Heil wird: Ein von Geburt an Gelähmter kann wieder gehen, laufen und springen. Einer, der immer um alles hat bitten müssen, der gebettelt hat, um Nahrung, um Geld, um Hilfe: Der lobt plötzlich, dankt, singt und tanzt. Einer, der immer nur draußen vor der Tür war, ist plötzlich mittendrin. Eine Heilung, die zum Heil wird. Un-glaublich.
Wie ist es mit uns? Wer glaubt wie Petrus, dass Gott etwas Un-glaubliches tut? Etwas ganz und gar Un-mögliches? Gegen alle menschliche Er-kenntnis?
Vielen ist es doch lieber, dass Gott Zuschauer menschlicher Mühe um Leben bleibt. Dass menschliche Erklärung nicht nur wissenschaftlich schlüssig ist, sondern dass auch geschieht, was erklärt werden kann.
Dass Gott sich einmischt, etwas anderes geschehen lässt als Lehrbücher beschreiben, macht Leben unverfügbar. Es ist vielen nicht geheuer, dass eine unendliche Macht eines unendlichen Gottes auch ihre Lebensplanungen durchkreuzen könnte.
Sie leben lieber in der Position eines Menschen, der zu Gott um ein Wunder betet, ohne es für möglich zu halten. Herr, lass mich doch einen Sechser im Lotto gewinnen! Und der dann irgendwann plötzlich eine Stimme vom Himmel herab hört: Dann gib mir wenigstens eine Chance und gib deinen Lottoschein ab!
Das aber ist das Schöne, das Wertvolle am Glauben: Man begegnet Gott, der lebt, spricht und handelt. Mein Gott überrascht mein Leben. Damals, gestern, jetzt.
Wer glaubt, gibt (um im Bild zu bleiben) seinen Lebens- Lottoschein ab, weil er davon ausgeht, dass sein Gott immer für eine Überraschung gut ist. Bei einem selbst, bei dem Nachbarn.
Damit ich neidlos sehe und begreife: Da sind sie, die wunderbaren Momente des Lebens. Das Un-glaubliche, Un-mögliche, gegen alle Er-kenntnis. Heute und immer wieder heute. Leben. Nicht Regel. Man verdirbt sich doch die unvoreingenommene Sicht auf das Leben, wenn man die Ausnahme von der Regel nicht zulassen, wenn man sie gar nicht sehen will. Die Ausnahme ist nicht einfach Überraschung. Sie erst macht das Leben unverwechselbar, schön, unfassbar.
Gott lässt Menschen ihr „blaues Wunder“ erleben. Er lässt Hans im Glück auf Knien seinem Schöpfer danken. Unglaublich: Weil der den Goldklumpen aufgegeben hat, hat er sein Lebensglück gefunden. (So das Ende in der Urfassung des Märchens, die in den modernen Märchenbüchern lieber weggelassen wird, damit sich niemand heute ent-setzt.)
Gott lässt uns mit Petrus erleben, dass Un-glaubliches geschieht. Dass sein Friede, der größer ist, als all unser Denken es zu fassen vermag, unsere Leiber und unsere Seelen umhüllt, um sie zu behüten und bewahren. Jetzt. Amen.