Israels Erwählung
eine unlösbare Verbindung
und doch offen für alle
auf der Suche nach dem Reich Gottes
Wohl dem Volk, dessen Gott der HERR ist
dem Volk,
das ER zum Erbe erwählt hat!
Ps 33,12
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Blut ist dicker als Wasser. Ein Sprichwort, dessen Quellen nicht mehr zweifelsfrei nachzuvollziehen sind. Mancher sagt, es käme aus vorchristlichen Zeiten, in denen wichtige Verträge mit Blut unterschrieben wurden. Wer es heute sagt, versteht es dagegen eher familiär: Wer miteinander blutsverwand ist, fühle sich eher zusammengehörig als das mit „angeheirateten“ Familiengliedern oder Menschen außerhalb der Familie sei.
Wer allerdings mit offenen Augen durchs Leben geht, der weiß, dass es gerade in Familien oft stärker kriselt und lauter kracht als in Freund- oder Bekanntschaften. Da schreibt das Leben ausreichend traurigen Stoff, vor allem für Krimifreunde wie mich.
Neulich zum Beispiel: Eine Mutter- Sohn Beziehung der sehr besonderen Art. Der Vater hatte das Familien-Schiff längst verlassen, sie zieht das Kind allein groß, braucht zwei Jobs, um genug Geld zu verdienen. Zeit für das Kind bleibt da nur wenig.
Der Sohn gerät auf die schiefe Bahn. Seine Mutter leidet, versucht viel, hat aber letztlich keine Chance mehr, ihren Sohn zu erreichen.
Der tanzt ihr sehr schmerzhaft auf der Nase herum. Er gibt sich später mit Hehlern und Dealern in großem Stil ab. Nutzt seine Mutter aus, wo er nur kann.
Bei einem schweren Raub wird er Zeuge eines Auftragsmordes und handelt mit der Staatsanwaltschaft einen Deal aus: Milde Strafe gegen Zeugenaussage im Mordfall. Er kommt in ein Zeugenschutzprogramm, wird aber in seiner Unterkunft aufgespürt und beinahe umgebracht.
Der Sohn begreift irgendwann, dass er verraten wurde. Nicht von irgendwem, sondern von seiner eigenen Mutter. Sie hatte es satt, sich von ihrem Sohn das Leben demontieren zu lassen. Auch sie wollte einmal auf der Sonnenseite des Lebens stehen, ein neues Auto fahren, nach Herzenslust einkaufen.
Am Schluss: Was Mutter und Sohn einmal verband, reicht für das Jetzt nicht mehr aus. Der Sohn geht seiner Wege. Die Mutter sieht ihm hinterher, weiß, dass alles zerbrochen ist. Schlusskommentar eines Polizisten: Man kann sich seine Eltern nicht aussuchen.
Antwort des leitenden Kommissars: Und seine Kinder auch nicht.
Niemand von uns wird in der Haut von Mutter oder Sohn stecken wollen. Nicht nur weil schwere Verbrechen im Spiel sind.
Denn niemand will das so oder ähnlich erleben müssen:
Dass die Liebe zwischen Eltern und Kindern nicht mehr für das Leben reicht.
Dass man von den eigenen Wurzeln abgeschnitten wird.
Dass man einen Teil seines Selbst verliert.
Dass ein Fundament des Lebens zerbricht.
Dass alles, an das man gemeinsam glaubte, irgendwann Altpapier ist.
Dass eine Beziehung zerbricht, die doch ein ganzes Leben hätte halten sollen.
All das wäre eine große Katastrophe – für jedes Leben.
Genau so eine Katastrophe hat Paulus erlebt.
Er hat in Jesus von Nazareth den gefunden, der ihm den Glauben seiner Väter aufgeschlossen hat. Er hat verstanden, dass die Liebe Gottes den Menschen durch Jesus so nahe gekommen ist, dass sie in Freiheit aufatmen.
Jetzt weiß Paulus endlich genau, wofür er leben soll. Er wird einer der ersten Theologen der Kirche, also der Gemeinschaft der Menschen, die Jesus von Nazareth folgen.
Aber er muss erleben, wie die Wege seines Volkes und die Wege der Nazarener sich unversöhnlich trennen. Dass das, woran sie beide glauben, für das Leben im Jetzt nicht mehr reicht. Dass er selbst, Paulus, von seinen Wurzeln abgeschnitten zu werden droht. Dass er seine Familie verliert, die doch noch am Leben ist. Dass gerade die Beziehung zerbricht, die doch die stärkste hätte sein können in seinem Leben.
Wie tief seine Trauer darüber ist, kann man spüren, wenn man das 9. Kapitel des Römerbriefes liest. Man ist dabei erinnert an die Tränen, die Jesus über Jerusalem vergossen hat.
Paulus aber wäre kein Theologe, wenn er diese Lebenskatastrophe nicht ganz grundsätzlich bedenken würde. Denn mit ihr steht die brennende Frage im Raum:
Kann Gott seine Versprechen brechen?
Kann er gar seinem Volk seine Liebe entziehen?
An der Antwort auf diese Frage hängt vieles, wenn nicht gar alles. Es geht eben gerade NICHT um die alte Frage, welche Religion nun die richtige sei und ob es eine falsche gäbe.
Der Glauben kann schließlich nur das leben, was er erkennen kann. Einzig Gott sieht doch alles, sogar in das Herz von Menschen. Der Mensch selbst aber kann nur sehen, was ihm vor Augen liegt.
Gerade in der Frage der Religion KANN es darum gar kein Richtig und kein Falsch geben. Nur ein Mühen um das Jetzt.
So geht es hier um die Frage nach der Hoffnung. Denn wenn Gott seine Zusagen an Israel zurückzöge – worauf sollte sich denn Hoffnung auf Gott überhaupt aufbauen?
Welches Fundament kann man finden, wenn sich ein altes in Sand auflöst?
Belegt die Geschichte nicht vor aller Augen, dass Gott einmal gemachte Zusagen zurückzieht?
Paulus führt diese Frage in seinem Brief an die Römer zu folgendem Ergebnis, ich lese den Predigttext aus Römer 11 ab Vers 25 Luther
25 Ich will euch, Brüder und Schwestern, dieses Geheimnis nicht verhehlen, damit ihr euch nicht selbst für klug haltet: Verstockung ist einem TEIL Israels widerfahren, bis die volle Zahl der Heiden hinzugekommen ist. 26 Und so wird GANZ Israel gerettet werden, wie geschrieben steht (Jesaja 59,20; Jeremia 31,33):
»Es wird kommen aus Zion der Erlöser; der wird abwenden alle Gottlosigkeit von Jakob. 27 Und dies ist mein Bund mit ihnen, wenn ich ihre Sünden wegnehmen werde.«
28 Nach dem Evangelium sind sie zwar Feinde um euretwillen; aber nach der Erwählung sind sie Geliebte um der Väter willen. 29 Denn Gottes Gaben und Berufung können ihn nicht gereuen. 30 Denn wie IHR einst Gott ungehorsam gewesen seid, nun aber Barmherzigkeit erlangt habt wegen ihres Ungehorsams, 31 so sind auch jene JETZT ungehorsam geworden wegen der Barmherzigkeit, die euch widerfahren ist, damit auch sie jetzt Barmherzigkeit erlangen. 32 Denn Gott hat ALLE eingeschlossen in den Ungehorsam, damit er sich ALLER erbarme.
Soweit Paulus im Brief an die Römer. Für ihn steht fest: Gerade an Israel zeigt sich, dass die Menschen sich wirklich auf Gott verlassen können.
Natürlich schmerzt es ihn, dass ein Teil Israels der befreienden Botschaft Jesu keinen Glauben schenken kann. Vor allem, dass dieser Teil zu glauben scheint, dass der Mensch in der Lage wäre, durch eigenes Tun Lebensschuld zu verhindern. Obwohl jeder Tag der Geschichte das Gegenteil beweist.
Das ist für ihn gelebter Unglaube und ist auch nicht zu entschuldigen. Denn die Botschaft der Liebe Gottes ist durch Jesus für die Menschen erschlossen und für jeden unüberhörbar.
Aber das ist nur Verstockung, ein nicht Hören-Wollen des Menschen. Und es betrifft ja eben nur einen TEIL Israels. Es ist darum keinesfalls die Abwendung Gottes von seinem Volk; vielmehr ist es umgekehrt: Ein Teil des Volkes wendet sich von Gott ab, ist seinen Zusagen gegenüber „verstockt“, also schwerhörig.
Diese Verstockung kann aber gar nicht länger dauern, als bis die Völker in den Ölbaum Israel eingepfropft sind. Dieses Bild hat Paulus kurz vor unserem Text gebraucht. Ein schönes Bild. Gott als Gärtner, der veredelt:
Verstockung endet durch Einpfropfen.
Einpfropfen in das Gottesversprechen, dass durch den Propheten Jesaja allen zu Ohren gekommen ist (Jes 59,20): Gott selbst wird es sein, der den Menschen „die Last ihrer Sünden abnehmen“ wird.
Und er hat es in Jesus getan. ER HAT den Himmel aufgeschlossen, er schließt den Himmel auf. Wer diese Botschaft hören kann, ist gerettet – und diese Botschaft wird ganz Israel hören. Denn Gott hat beschlossen, jedem im seinem Volk Erbarmen zu schenken.
Meine Schwestern, meine Brüder,
dieser 10. Sonntag nach Trinitatis wird in der Evangelischen Kirche als Israelsonntag begangen.
Sein Thema ist die eine Grundkatastrophe des Lebens, die Thema BLEIBT.
Auch für uns.
Von der Abfassung unseres Textes trennen uns 19 Jahrhunderte einer schuldbeladenen Geschichte zwischen Juden und Christen. Aus der anfänglichen Feindschaft vieler Juden gegen Christen wurde sehr früh eine Feindschaft vieler Christen gegen Juden.
Einer ihrer traurigen Höhepunkte ist die Hölle von Auschwitz, von der Eli Wiesel schreiben muss:
„Niemals werde ich diesen Rauch vergessen.
Niemals werde ich die kleinen Gesichter vergessen, deren Leiber ich verwandelt sah in dem ringelnden Rauch unter einem blauen Himmel.
Niemals werde ich diese Flammen vergessen, die meinen Glauben auf immer verzehrten.
Niemals werde ich jene nächtliche Stille vergessen, die mich in alle Ewigkeit des Wunsches beraubte zu leben.
Niemals werde ich jene Momente vergessen, die meinen Gott und meine Seele mordeten und meine Träume in Staub verwandelten.
Niemals werde ich diese Dinge vergessen, selbst wenn ich verdammt bin, so lange zu leben wie Gott selbst.
Niemals.“
Auch die Gnade unserer späten Geburt kann uns diese Erschütterung unseres Lebens nicht ersparen.
Niemals, gerade heute nicht.
Auschwitz war doch nur möglich, weil Menschen sich von der Liebe Gottes abwenden. Weil sie bereit sind, ihre gemeinsamen Wurzeln auf den Scheiterhaufen zu werfen. Weil ihnen der gemeinsame Glaube weniger wert ist als das eigene Streben nach Herrschaft – an genau der Stelle, wo doch Gott die Herrschaft innehat.
Wo Menschen versuchen, die Rolle Gottes zu übernehmen.
Auschwitz ist IMMER menschenmöglich,
wenn Stimmen wie die des Paulus nicht gehört werden.
Und auch heute sind wieder Stimmen lauter als seine.
Ich höre zwar niemanden, der allen Ernstes versuchen würde, dem palästinensischen Volk das Recht auf Existenz und auf einen eigenen Staat grundsätzlich abzusprechen.
Aber ich höre immer noch laute Stimmen, die Israel diese Rechte absprechen.
Ich erlebe selbst unter uns Menschen, die besser zu wissen glauben, was das wunde Israel gegen den Terror der Hamas zu unternehmen habe und was es zu lassen habe. Ich erlebe Menschen, die den Juden vorwerfen, unter sich bleiben zu wollen, und den Christen, dass sie missionieren oder zu wenig missionieren. Ich erlebe Menschen, die unter dem Mantel der Religionskritik versuchen, Tagespolitik zu machen.
Und unser Glaube aber lässt uns wissen:
Wir haben nicht VIELLEICHT eine gemeinsame Zukunft.
Wir haben NUR eine gemeinsame Zukunft. Wenn die Liebe zwischen Christen und Juden sich nicht bewähren würde, hätte die Liebe überhaupt versagt. Damit aber hätte Gott versagt, das aber ist unmöglich, denn er wäre dann nicht Gott.
Gott wird unsere gemeinsamen Wurzeln nicht auf den Scheiterhaufen werfen, denn er ist treu. Er hat in Christus gezeigt, wie ernst er es meint: Mit Israel, mit den Völkern. Einzig Gottes Liebe ist es, die uns alle retten wird. Nur sie wird unser Zusammen-Leben gelingen lassen.
Juden und Christen gehören zusammen, die Menschen gehören zusammen, in Liebe und für immer. Alle Menschen erwarten darum im Grunde GEMEINSAM dieses Liebes-Handeln des Messias.
Das Handeln des Christus, der von dem jüdischen Neutestamentler Pinchas Lapide als Heiland der Heiden erkannt wird und von dem er schreibt:
„Er mag auch der künftige Messias Israels sein – doch das werden wir erst erfahren, sobald er kommt / oder wiederkommt.“
Menschen können nichts größeres erhoffen als den Advent Gottes.
Und je früher er auch in unser Leben tritt, desto besser für uns.
Denn mit ihm kommen die Liebe Gottes,
die Gnade unseres Herrn Jesus Christus
und die Gemeinschaft des Heiligen Geistes
in das Leben aller.
AMEN.