Die Ausstrahlung (Lk 6 27-38)

Unser Gottesdienst vom Drittletzten Sonntag dieses Kirchenjahres
zum Nachhören ist für vier Wochen hier zu finden.

Die Hoffnung
Der Tag kommt
an dem jeder Mensch, der
je lebte und lebt
Gott sehen wird,
so wie er ist
Liebe, Heil und Gerechtigkeit für alle

Die Gefahr
Dass Hoffnung untergeht im Leid
dass Menschen unter Menschen verlassen sind
ein Leben ohne Gott
ohne Antwort für das Leben

GOTT aber lässt
Menschen in seinem Geist zusammen wohnen
jetzt schon leben im Glanz seines Reiches

Selig sind, die Frieden stiften,
denn sie werden Gottes Kinder heißen (Mt 5,9)
***

Heute ist der 9. November. Ein geschichtsträchtiger Tag.

9. November 1989:
Fall der Mauer, der Vorhang aus Eisen und Beton zwischen Ost und West zerreißt.

9. November 1938:
Reichskristallnacht. Synagogen brennen, Läden geplündert und zerstört, Menschen geschlagen, verhaftet, umgebracht – jüdische Menschen werden zum Freiwild.

9. November 1923:
Der Bürgerbräu-Putsch. Schlägertrupps der NSDAP unter Adolf Hitler und Erich Ludendorff unternehmen in München einen gewaltsamen Umsturzversuch. Sie wollen einen „Marsch nach Berlin“ und dort die Macht übernehmen. Dieser Putsch endet am 9. November mit der Gefangennahme Hitlers. Er wird wegen Hochverrats Festungshaft bekommen.

9. November 1918:
Ausrufung der deutschen Republik. Der Kaiser dankt ab, Philipp Scheidemann ruft die demokratische, Karl Liebknecht die sozialistische deutsche Republik aus.

9. November 1898:
Wanda Koopmann geborene Jost wird geboren. Ohne meine Großmutter wäre ich wohl weder auf der Welt noch Pfarrer geworden; jetzt in sogar genau in der reformierten Gemeinde, zu der sie auch einmal gehörte und in der Teile ihrer Familie heute noch leben.

An diesem geschichtsträchtigen 9. November 2025 kommt unser Bibeltext aus Jesu Feldrede. Im Lukasevangelium hält Jesus seine zentrale Predigt nicht auf einem Berg, wie es Matthäus berichtet. Die Feldrede ist auch deutlich kürzer als die Bergpredigt, darum ist sie wohl auch nicht ganz so berühmt.

Aber unbekannt ist sie ganz und gar nicht, auch unser Bibeltext
aus Lukas 6 ab Vers 27 nicht. Hört selbst, Jesus spricht:

27 Aber ich sage euch, die ihr zuhört:
Liebt eure Feinde; tut wohl denen, die euch hassen;
28 segnet, die euch verfluchen;
bittet für die, die euch beleidigen.
29 Und wer dich auf die eine Backe schlägt,
dem biete die andere auch dar;
und wer dir den Mantel nimmt,
dem verweigere auch den Rock nicht.
30 Wer dich bittet, dem gib;
und wer dir das Deine nimmt, von dem fordere es nicht zurück.
31 Und wie ihr wollt, dass euch die Leute tun sollen,
so tut ihnen auch!
32 Und wenn ihr liebt, die euch lieben,
welchen Dank habt ihr davon?
Denn auch die Sünder lieben, die ihnen Liebe erweisen.
33 Und wenn ihr euren Wohltätern wohltut,
welchen Dank habt ihr davon? Das tun die Sünder auch.
34 Und wenn ihr denen leiht,
von denen ihr etwas zu bekommen hofft,
welchen Dank habt ihr davon?
Auch Sünder leihen Sündern,
damit sie das Gleiche zurückbekommen.
35 Vielmehr liebt eure Feinde und tut Gutes und leiht,
ohne etwas dafür zu erhoffen.
So wird euer Lohn groß sein,
und ihr werdet Kinder des Höchsten sein;
denn er ist gütig gegen die Undankbaren und Bösen.
36 Seid barmherzig, wie auch euer Vater barmherzig ist.
37 Und richtet nicht, so werdet ihr auch nicht gerichtet.
Verdammt nicht, so werdet ihr nicht verdammt.
Vergebt, so wird euch vergeben.
38 Gebt, so wird euch gegeben.
Ein volles, gedrücktes, gerütteltes und überfließendes Maß
wird man in euren Schoß geben;
denn eben mit dem Maß, mit dem ihr messt,
wird man euch zumessen.

Dieser Bibeltext weckt zunächst sehr schlechte Erinnerungen in mir. „Und wer dich auf die eine Backe schlägt, dem biete die andere auch dar…“ – in der 7. Klasse war ein netter Mitschüler der Meinung, vor der halben Klasse ausprobieren zu müssen, ob ich denn auch wirklich bibeltreu leben würde.

Ich habe die Zähne zusammengebissen, aber gut bekommen ist mir das nicht. Und ich habe mir gewünscht, besser als Mädchen auf die Welt gekommen zu sein. Unter denen gab es solche Prügel nicht.

Natürlich ist Vers 29 Teil A nicht der ganze Text. Aber er spiegelt doch den GEIST des ganzen Textes wider. Es ist der gleiche Geist, der auch aus „Schwerter zu Pflugscharen“ (Lesung Mi 4) zu uns spricht: Keine Gewalt, Feindesliebe, Barmherzigkeit und Freigiebigkeit statt Berechnung, Neid, Gewalt und Geiz.

Ja, wenn Jesus das so zu mir gesagt hätte, hätte ich ihm Satz für Satz zugestimmt. Diese Welt wäre so viel besser, wenn ich ihm in allem folgen würde.

Aber in der 7. Klasse ist mir das nicht gut bekommen. Und wie wäre das sonst im Leben? Schauen wir doch nur einmal auf die fünf Ereignisse des 9. November:

1989 – der Fall der Mauer.
Die Demonstrationen, Friedensgebete und Proteste, die zur Öffnung der innerdeutschen Grenze führten, waren zwar grundsätzlich gewaltfrei. Es floss kein Blut, niemand kam zu Tode.

Aber „friedlich“ im Sinne von „Frieden stiften“ waren sie nicht, wollten sie auch nicht sein. Die Menschen wollen Änderungen ihrer Situation erzwingen, indem sie sichtbar und spürbar Druck gegen den Staat und seine Machtinstrumente aufbauten.

Sie hielten eben nicht die andere Wange hin, sondern bauten darauf, dass die Gegenseite zurückwich, wenn sich nur genug Menschen den Protesten anschlossen. Masse gegen Waffen. Und diese Rechnung ging auf.

Die andere Backe hinhalten, den Rock auch weggeben, das stete Unrecht des real existierenden Sozialismus bis hin zu den gefälschten Wahlen zu vergeben: Was hätte das gebracht?

1938 – die so genannte Reichskristallnacht.
Haben da nicht viel zu viele Menschen die andere Backe hingehalten, den letzten Rock weggegeben, das Unrecht ertragen? Hätten die Menschen nicht aufstehen müssen gegen diese Gewalt, und wie wäre das anders möglich gewesen als mit Gegengewalt?

1923 – Der Bürgerbräu-Putsch.
Hätte die bayerische Regierung sich nicht mit Waffengewalt gegen die bewaffneten Schläger zur Wehr setzen und diesem Aufstand ein Ende bereiten sollen?

1918 – doppelte Ausrufung der deutschen Republik
Hier wurde nicht zwei Mal eine Republik, sondern es wurden zwei grundverschiedene Republiken ausgerufen. Beide wollten nach der deutschen Kapitulation im 1. Weltkrieg und der Abdankung des Kaisers nur ein Ende der Monarchie.

Aber während Scheidemann einen Bürgerkrieg verhindern und eine parlamentarische Demokratie wollte, wollte Liebknecht die Revolution und eine sozialistische Räterepublik nach russischem Vorbild. Wer von beiden hätte die andere Backe hinhalten sollen? Und wenn es beide getan hätten: Was wäre dabei herausgekommen?

Was man an diesen konkreten Beispielen erkennen kann:
Keine Gewalt, Feindesliebe, Barmherzigkeit und Freigiebigkeit statt Berechnung, Neid, Gewalt und Geiz – in der realen Politik hätte das nicht weitergeholfen.

Und das wäre heute nicht anders. In der Ukraine nicht, in Palästina nicht, im Sudan nicht. Genauso wenig wie bei der Reaktion eines Staates auf Raub, Gewalt oder Mord:

Der Staat hat das Recht und sogar die Pflicht, das Schwert zu führen. Dem wird auch in beiden Teilen unserer Heiligen Schrift nirgends grundsätzlich widersprochen.

Doch wozu dann Jesu Predigt hier auf dem Feld oder da auf dem Berg? Wozu dann „Schwerter zu Pflugscharen“ bei Micha 4 oder Jesaja 2?

Ich glaube, zwei Kleinigkeiten in unserem Bibeltext werden wichtig, wenn man das verstehen will.

Zuerst Jesu Anrede: „Die ihr mir zuhört“-
Jesus redet hier zu den Menschen, die zu ihm gekommen sind, weil sie ihn hören WOLLEN. Es ist Sehnsucht, die die Menschen zu ihm treibt. Hoffnung darauf, dass es anders werden kann als es jetzt ist.

Jesus weiß das, und schon darum bekommen die Menschen keine Strafpredigt zu hören über all das, was sie hätten anders oder besser machen müssen. Kein „Otternbrut“ oder „Natterngezücht“ – Jesus will Menschen GEWINNEN, ihnen Sehnsucht ins Herz nach etwas geben, für das es sich zu leben, an das es zu glauben lohnt. Alle peinliche Dauerbefragung über „was wäre gewesen, wenn“ ist umsonst und nicht heilsam.

Und zweitens:
Die zweifache Frage „Welchen Dank habt ihr davon?“ in unserem Lutherdeutsch kann man auch so übersetzen: „Worin besteht eure Ausstrahlung?“ DIESE Frage ist die Frage nach der MOTIVATION derer, die Jesus zuhören.

Wenn ihr wollt, dass das Leben anders wird als es jetzt ist: Was müsstet ihr anders machen, so dass die anderen es wahrnehmen, es sehen?
Oder anders: Wollt ihr – nur – zuhören oder wollt ihr zur Jüngerschaft gehören? Wollt ihr „Kinder dieser Welt“ bleiben oder „Kinder des Höchsten“ werden?

„Kinder des Höchsten“ durchbrechen den Kreislauf der Welt von Gewalt, Unbarmherzigkeit, Lieblosigkeit und Berechnung, weil sie in dieser Welt SO nicht mehr leben wollen.
„Kinder des Höchsten“ erkennen die Möglichkeiten der Unendlichkeit des Höchsten in ihrer Endlichkeit.
Sie erkennen nicht nur, DASS es anders geht,
sondern auch WIE es anders geht.

Und sie erkennen auch, dass sich Leben nicht nur auf der endlichen Erde, sondern immer in der Unendlichkeit Gottes abspielt.
Vor, während und nach diesem Leben.
Das volle, gedrückte, gerüttelte und überfließende Maß im Schoß ist den Kindern des Höchsten sicher.
Vor, während und nach diesem Leben.

Meine Schwestern, meine Brüder,

nun ist das gerade WÄHREND diesem Leben nicht einfach zu sehen, dieses volle, gedrückte, gerüttelte und überfließende Maß im Schoß der Kinder des Höchsten. Weder bei der bezogenen Prügel in Klasse 7 noch irgendwann früher oder später noch woanders auf der Welt.

Da fällt mir ein, dass ja der 9. November 1898 noch fehlt: Der Geburtstag der Mutter meines Vaters. Ein Satz von ihr hat sich mir schon als Kind eingeprägt. Als ich mich mit meinem kleinen Bruder herumstritt, sagte sie: „Es ist nicht wichtig, wer recht hat. Wichtig ist, wer Frieden macht.“

Ihr Satz trifft mich bis heute, auch wenn Wanda schon lange tot ist. Denn wenn ich über sie nachdenke, weiß ich, dass dieser Satz Leitsatz ihres Lebens war. Sie wusste zwar nie genau, WIE sie Frieden mache konnte. Aber VERSUCHT hat sie es immer.

So gab sie jedem, der etwas haben wollte, was ihr gehörte, bis zum Ende ihres Lebens, ohne je zu wissen, ob sich das für sie auszahlen würde. Ja, das war ihr sogar völlig egal.

So gaben sie und ihr Mann Wilhelm in ihrer Jugend ihrer Familie in Hohenbruch ab, was ihre frisch gegründete Landwirtschaft in Neuholland an Überschuss her gab, und gingen bei schweren Regenfällen des nächsten Jahres mit Überschwemmung ihrer Äcker in Konkurs, so dass die beiden völlig von vorn anfangen mussten.

Ich könnte jetzt noch vieles erzählen, was ich als Kind oder Jugendlicher mit ihr erlebte, dass sie bibelfester als ihr Pfarrer war, was sie sagte, was sie tat oder wann sie einfach nichts tat und eisern schwieg – für MICH läuft alles auf eines heraus:

Sie WOLLTE es, ein Kind des Höchsten sein. Sie wusste, DASS es anders geht, dieses Leben, und sie wusste auch WIE.
Wanda hatte sie, sie hatte „Ausstrahlung“,
sie strahlt auf mich bis heute:

Die Liebe Gottes,
die Gnade unseres Herrn Jesus Christus
und die Gemeinschaft des heiligen Geistes

machen Menschen zu Kindern des Höchsten.
Ausstrahlung inklusive.
AMEN

EG 426: 3
3. Kann das Wort von den letzten Tagen
aus einer längst vergangnen Zeit
uns durch alle Finsternis tragen
in die Gottesstadt, leuchtend und weit?
Wenn wir heute mutig wagen,
auf Jesu Weg zu gehn,
werden wir in unsern Tagen
den kommenden Frieden sehn.
Auf, kommt herbei!
Lasst uns wandeln im Lichte des Herrn.

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