Wie die meisten von Ihnen wissen, erproben wir ja gerade eine neue Predigttextreihe. Für heute bedeutet das zweierlei: Erstens, dass der Weihnachtsfestkreis heute noch nicht zu Ende geht. Die neue Ordnung sieht vor, dass der in jedem Jahr 40 Tage nach Weihnachten, also bis zum 2. Februar dauern soll – dem alten Fest Maria Lichtmess.
Zum anderen, dass wir darum heute Texte lesen, die uns eine Steilvorlage mitten hinein in die politischen Diskussionen unserer Tage liefern. Denn es geht um Grenzen zwischen Menschen, zwischen Ländern und Religionen. Es geht um die Frage ihrer Bedeutung für das Leben ebenso wie um die Frage, welches Verhältnis christlicher Glaube zu diesen Grenzen hat.
Ich lese den Predigttext aus dem Evangelium nach Matthäus Kapitel 8, ab Vers 5 in der Neuen Genfer Übersetzung.
5 Als Jesus nach (Kafarnaum) Kapernaum kam, trat der Hauptmann einer dort stationierten Einheit an ihn heran und bat ihn um Hilfe. 6 „Herr“, sagte er, „mein Diener liegt gelähmt und mit furchtbaren Schmerzen bei mir zu Hause.“ 7 Jesus erwiderte: „Ich will kommen und ihn heilen.“ – 8 „Herr“, sagte daraufhin der Hauptmann, „ich bin es nicht wert, dass du mein Haus betrittst; doch sprich nur ein Wort, und mein Diener wird gesund. 9 Ich unterstehe ja selbst dem Befehl eines anderen und habe meinerseits Soldaten unter mir. Wenn ich zu einem von ihnen sage: Geh!, dann geht er, und wenn ich zu einem sage: Komm!, dann kommt er; und wenn ich zu meinem Diener sage: Tu das und das!, dann tut er es.“
10 Diese Antwort erstaunte Jesus, und er sagte zu denen, die ihm folgten: „Ich versichere euch: In ganz Israel habe ich bei keinem solch einen Glauben gefunden. 11 Ja, ich sage euch: Viele werden von Osten und Westen kommen und sich mit Abraham, Isaak und Jakob im Himmelreich zu Tisch setzen. 12Aber die Bürger des Reiches werden in die Finsternis hinausgeworfen, dorthin, wo es nichts gibt als lautes Jammern und angstvolles Zittern und Beben.“
13 Hierauf wandte sich Jesus zu dem Hauptmann und sagte: „Du kannst nach Hause gehen. Was du geglaubt hast, soll geschehen.“ Und zur gleichen Zeit wurde der Diener gesund.
GRENZEN. Ähnlich wie die Zeit ein Hilfsmittel der Menschen zur Organisation des Lebens. Sie werden gezogen, verschoben, eingerissen, neu gezogen. Damals, heute, morgen.
Jesus lebt in einer Zeit, in der sein Geburts- Land politisch zur Bedeutungslosigkeit verdammt ist. Denn Israel lebt unter der Besatzung der Römer. DIE haben die Macht, Freiheiten zu nehmen und zu lassen. Das war so ähnlich wie beispielsweise die Zeit in Deutschland zwischen 1945 und 1990. Hier bestimmten die vier Siegermächte des zweiten Weltkrieges, welche Freiheiten die Menschen hatten und welche nicht.
Der Soldat, der zu Jesus kommt, ist ein Zenturio. Das bedeutet Befehlshaber über 100; heute wäre er ungefähr Hauptmann. Er befehligt die Soldaten der Besatzungstruppe in der kleinen Stadt Kapernaum. Er ist hier der Ortskommandant, eine Respektsperson. Einer, der nicht nur von seinen Soldaten, sondern auch von den Leuten in der Stadt Respekt erwarten kann und erwartet.
Dieser Mann nun kommt zu Jesus und bittet ihn, sich um seinen Diener zu kümmern. Indem er das tut, muss er in doppelter Weise Grenzen überschreiten. Nicht nur, dass er als Offizier der Besatzungsmacht einen Zivilisten aus dem besetzten Gebiet bittet. Er muss auch eine religiöse Grenze überwinden, wenn er sich als Nichtjude an den jüdischen Wanderprediger Jesus wendet.
Dass diese doppelte Grenze durch den Hauptmann schon mit der Bitte an Jesus überschritten IST, spürt Jesus sofort. Darum zögert er nicht. „Ich will kommen und ihn gesund machen.“
EINE DRITTE GRENZÜBERSCHREITUNG. Die aber ist dem Soldaten nicht recht. Er will nicht, dass Jesus sein Haus betritt. Er weiß, dass Jesus sich damit in Schwierigkeiten bringt. Es würde Jesus nach jüdischem Verständnis unrein machen, wenn er das Haus eines Nichtjuden beträte.
Darum erklärt er und argumentiert. Es geht ihm nicht um sich selbst, sondern einzig darum, dass seinem Knecht geholfen wird und Jesus das nicht zum Schaden wird. Er hofft, dass das auch anders geht. „Ich bin es nicht wert, dass du mein Haus betrittst“. Jesus brauche – wie er selbst – doch ganz sicher einfach nur ein Wort zu sprechen, dann würde der Knecht gesund werden.
Dieser Satz des römischen Soldaten hat mit kleinen Abwandlungen seit alters einen festen Platz in der katholischen Abendmahlsliturgie: „Herr, ich bin nicht würdig, dass du eingehst unter mein Dach, aber sprich nur ein Wort, so wird meine Seele gesund.“
Aber weder beim Abendmahl noch hier bei Matthäus geht es um Würde oder Wert in MORALISCHEM Sinn. Die Würde des Menschen ist unantastbar – dieser Satz des Grundgesetzes gilt auch und gerade in unseren Kirchen.
Es geht um viel mehr als Moral. Es geht um das Verhältnis von Gott und Mensch. Seiner Würde ist der Soldat sich durchaus bewusst. Er ist ein Hauptmann, seine Bedeutung ist sogar gesetzlich geschützt.
Aber er weiß auch um seine Grenzen. Mit der Geschichte gesprochen: Er weiß, dass er angesichts der Krankheit seines Knechtes als Soldat nichts ausrichten kann. Er weiß, dass ein Mensch vieles vermag. Aber eines vermag er nicht: Niemand kann aus sich selbst heraus sein Leben zum Heil wenden.
Andere Menschen, alle Ebenbilder Gottes, müssen helfen. Mit den besonderen Fähigkeiten und Gaben, die sie von Gott geschenkt bekommen haben.
Das aber bedeutet schließlich nichts anderes als: Gott SELBST muss eingreifen. Und darum setzt der Soldat seine ganze Hoffnung auf Jesus. „Sprich nur ein Wort, so wird mein Diener gesund.“
Für das Heil im Leben ist es wichtig, zu Gott zu gehen und alles von ihm zu erwarten. Der Hauptmann von Kapernaum tut genau das. Damit erfüllt er die wichtigste Grundhaltung eines Glaubens an Gott, die zu JEDER der großen Religionen gehört. Und genau deshalb bezeichnet ihn Jesus als ein Vorbild im Glauben.
Weder der Soldat Naaman, den sein Glaube vom Aussatz heilt (2. Kön 5), noch der Soldat aus Kapernaum, dessen Glaube es möglich macht, dass sein Knecht gesund ist, waren Juden.
Das bedeutet aber: Noch NIE war Glaube an Grenzen gebunden, weder an staatliche noch an religiöse. Auch wenn Menschen das oft behaupten. So kann Jesus den Juden seiner Umgebung jenen ausländischen Soldaten als Vorbild im Glauben vor Augen stellen.
Und den „Bürgern des Reiches“, also denen, die glauben, dass ihnen der Platz im Himmel rechtsverbrieft zusteht, sagt er damit: Wer den Glauben als einen Besitz und nicht als Geschenk betrachtet, der ist in der Gefahr, alles zu verlieren. Weil er nämlich verlernt, alles von Gott zu erwarten. Auch, dass er in einem fremden Menschen einem Ebenbild Gottes und somit Gott selbst begegnet.
Meine Schwestern, meine Brüder:
Der Verweis auf die katholische Abendmahlsliturgie geschah nicht ohne Grund. „Herr, ich bin nicht würdig, dass du eingehst unter mein Dach, aber sprich nur ein Wort, so wird meine Seele gesund.“: Das sagt nicht nur der deutsche Katholik, sondern auch der in Polen, Italien, Argentinien oder Neuseeland. Für die katholische Kirche gibt es nämlich kein Ausland. Nirgends auf der Welt.
Da haben wir es etwas schwerer, die wir zur Evangelischen Kirche Deutschlands gehören. Das Gebiet unserer Kirchen endet da, wo Deutschland endet.
Aber nur etwas schwerer. Denn unser theologisches Selbstverständnis ist genauso wenig national begrenzt wie das der katholischen Kirche. Die Weltgemeinschaft reformierten Kirchen zählt derzeit 80 Millionen, zum lutherischen Weltbund gehören 70,5 Millionen Christen weltweit. Über 150 Millionen Protestanten über die ganze Welt verteilt.
Und wir Protestanten gehören zum Ökumenischen Rat der Kirchen, in dem 349 Kirchen aus mehr als 120 Ländern zusammenarbeiten – neben der katholischen Kirche.
Insgesamt sind es derzeit 2,15 Milliarden Menschen, die sich Christen nennen. Und für alle ist die Heilige Schrift die Bibel; sie ist Grundlage und Maßstab ihres Glaubens.
Das bedeutet: Christsein kennt kein Ausland auf dieser Welt. Nirgends. Und allen Christen sind die Geschichten um Naaman oder den Hauptmann von Kapernaum heilig. Und die beiden Soldaten stehen nicht allein in der Schrift, wenn es um unsere große Hoffnung geht:
Es werden kommen von Osten und von Westen, von Norden und von Süden, die zu Tisch sitzen werden im Reich Gottes. (Lukas 13,29, Wochenspruch). Denn es gibt keinen Menschen, der es nicht wäre: Ein Ebenbild unseres Gottes.
Zur gegenwärtigen Diskussion um das Abendland und das Christsein:
Es mag ein Abendland geben, wenn man sich an den Grenzen orientiert, die Menschen als Hilfsmittel über diesen Globus gelegt haben. Ein CHRISTLICHES Abendland aber gibt es nicht.
Es gibt sicher viele Religionen auf dieser Welt. Aber das christliche Menschenbild macht in einem KEINEN Unterschied: Jeder einzelne Mensch auf dieser Welt, jeder der ist, der war oder sein wird, ist ein Teil unseres Gottes, von ihm gewollt, geschaffen und begabt.
Wir erwarten aus JEDER Begegnung mit einem Menschen eine Begegnung mit der unendlichen Vielfalt unseres Gottes. Und wie der Soldat aus Kapernaum erwarten wir ALLEIN aus Gottes Wirken das Heil für uns.
Das bedeutet gerade NICHT, dass wir unsere Augen verschießen vor all dem, was Menschen einander schuldig bleiben, was sie einander antun, einander vorenthalten. Es bedeutet nicht, dass wir staatliches Recht gering achten und die ordnenden Eingriffe staatlicher Gewalt ablehnen würden – im Gegenteil.
Aber wir glauben fest daran, dass das HEIL unseres Lebens nur eine Quelle kennt: Die Liebe, die Gott selbst ist/ und die er uns durch seinen Sohn Jesus Christus nahe gebracht hat.
Diese Liebe reinigte Naaman vom Aussatz. Diese Liebe heilte den Knecht des Hauptmanns. Diese Liebe wird es dahin bringen, dass schließlich und endlich Menschen von überall auf dieser Welt Gäste an seinem Tisch sein werden.
Christen glauben, dass vor Gott ängstliches Festhalten am eigenen Besitz, Fremdenfeindlichkeit, Rassismus oder Angst vor anderen Religionen keinen Bestand haben werden, WEIL WIR MENSCHEN FÜREINANDER DA SEIN MÜSSEN.
Und: Christen versuchen, dem Handeln Gottes nicht im Wege zu stehen und erwarten alles von IHM:
Die Liebe Gottes, die unendlich ist;
die Gnade unseres Herrn Jesus Christus, die jedem gilt;
und die Gemeinschaft des Heiligen Geistes, der keine Grenzen kennt.
Das ist Heil für alle Welt.
Amen.