Lydia (Apg 16 9-15)

Unser Gottesdienst Sexagesimae zum Nachhören ist für vier Wochen hier zu finden.

Worte und Wörter
werden Gerede
können Last werden
Freude nehmen
das Leben schwer machen
gar die Hölle zum Glühen bringen

Das Wort Gottes aber ist
Oase in der Wüste
Quelle lebendigen Wassers
in der Dürre menschlicher Unzulänglichkeit

Das Wort Gottes zu hören
ändert alles
schafft Leben

Heute,
wenn ihr seine Stimme hören werdet,
so verstockt eure Herzen nicht.
WSp aus Hebräer 3,15
***

Erinnert ihr euch an Svitlana?
Svitlana war die im Johannesevangelium namenlose Frau aus Samarien, die Jesus am Brunnen traf. Die in der Erzählung des Johannes der erste Mensch überhaupt war, der in Jesus den Christus erkannte.

Eine Namenlose, die zur ersten Missionarin in Samarien wurde. Die in der Ostkirche darum den Status einer Heiligen bekam. Photina, zu deutsch „die Erleuchtete“ oder eben ukrainisch „Svitlana“. (Genauer könnt ihr das in den Texten zum 3. Sonntag nach Epiphanias nachlesen, der war erst vor einem knappen Monat).

Die Hauptperson in unserem Bibeltext heute ist wieder eine Frau, wieder eine erste „Christin“, wenn man das so sagen will, diesmal aber nicht in Samarien, sondern in Europa. Das ist nachzulesen in der Apostelgeschichte des Lukas (16,9-15, ich lese in der Übersetzung der Elberfelder Bibel):

9 Und es erschien dem Paulus in der Nacht ein Gesicht:
Ein mazedonischer Mann stand da und bat ihn und sprach: Komm herüber nach Mazedonien und hilf uns!
1
0 Als er aber das Gesicht gesehen hatte, suchten wir sogleich nach Mazedonien abzureisen, da wir schlossen, dass Gott uns gerufen habe, ihnen das Evangelium zu verkündigen.
11 Wir fuhren nun von Troas ab und kamen geradewegs nach Samothrake und des folgenden Tages nach Neapolis 12 und von da nach Philippia, das die erste Stadt jenes Teiles von Mazedonien ist, eine Kolonie. In dieser Stadt aber verweilten wir einige Tage.
13 Und am Tag des Sabbats gingen wir hinaus vor das Tor an einen Fluss, wo wir eine Gebetsstätte vermuteten; und wir setzten uns nieder und redeten zu den Frauen, die zusammengekommen waren. 14 Und eine Frau mit Namen Lydia, eine Purpurkrämerin aus der Stadt Thyatira, die Gott anbetete, hörte zu; deren Herz öffnete der Herr, dass sie achtgab auf das, was von Paulus geredet wurde.
15 Als sie aber getauft worden war und ihr Haus, bat sie und sagte: Wenn ihr urteilt, dass ich dem Herrn treu sei, so kehrt in mein Haus ein und bleibt! Und sie nötigte uns.

Anders als bei Johannes scheint bei Lukas diese Frau nicht nur einen Namen, sondern sogar einen angesehen Beruf zu haben zu haben: Lydia, die mit Purpur handelt.

Doch das ist nur auf den ersten Blick der Fall. Genaugenommen auf den ersten UNSERER Blicke. Wir moderne Mitteleuropäer haben eben den Blick moderner Mitteleuropäer. Und der ist bezüglich des Namens und dem Beruf trügerisch.

Zum Namen:
Für uns ist „Lydia“ einer der zeitlosesten und stets beliebten weiblichen Vornamen. Auf einer Internetsite lässt sich dazu lesen: „Lydia ist ein unauffällig modischer Klassiker und gehört immer zu den 1000 beliebtesten Mädchennamen im Jahr“.

Doch genau genommen bedeutet „Lydia“ „die aus Lydien Stammende“ oder kurz „die Lydierin“. So wie man heute Polin, Schwedin oder Deutsche sagen würde. Ihr Name ist also eher eine Herkunftsbezeichnung.

Diese Lydia  wurde wohl irgendwann im 1. Jahrhundert in der lydischen Kleinstadt Thyatira geboren. Diese Stadt war von ihrer Textilherstellung geprägt. Welchen Ruf-Namen ihre Eltern ihr gaben, wissen wir nicht. Als sie später nach Philippi ausgewandert war, nannte man sie Lydia.

Dass man sie bei ihrem Herkunftsnamen rief, dieses Schicksal teilte Lydia damals mit Sklaven, Prostituierten und anderen Menschen, die nach Auffassung der Gesellschaft damals kein Recht auf einen eigenen Namen hatten. Oder den man sich zumindest nicht merken musste.

Nun zum Beruf: Für uns ist jemand, der mit Purpur handelt, der mit einem Luxusgut handelt. Denn echter „Purpur“ war eine sehr teure Angelegenheit, weil er nur durch seltene Seeschnecken gewonnen werden konnte. „Purpur“ – die Luxusfarbe der Könige.

In Kleinasien aber wurde Schafwolle mit Hilfe von billigeren Pflanzenfarben eingefärbt. Daraus entstanden „Purpur“ – Stoffe  in vielen Farbschattierungen von braun bis lilarot. Die waren denn auch deutlich billiger als echte Purpurstoffe. Lydia hat also sehr wahrscheinlich mit diesen billigeren Stoffen gehandelt, die sie vielleicht auch selbst fertigen ließ (darum wohl übersetzt die Elberfelder lieber „Krämerin“).

Das würde eine naheliegende Erklärung dafür sein, dass sie einem Hause vorstand – obwohl sie eine Frau war. Dann wohnten in ihrem Haus vielleicht neben Kindern noch mehr Menschen, die dann irgendwie mit der Stoffherstellung zu tun hatten und deren Vormund Lydia war.

Denn nur so durfte Lydia später nicht nur ihre eigene Taufe, sondern auch die ihrer Hausgemeinschaft vollziehen lassen. Sie war also eine für die damalige Zeit sehr seltene wirtschaftlich selbstständige und zumindest in gewissem Maße erfolgreiche Frau.

Wie kam es zu dieser Taufe? Für Paulus und Silas gab es zuvor in der Mission einige Misserfolge in Kleinasien. Davon wird in den Versen zuvor erzählt. Dann hat Paulus nachts eine Vision, vielleicht im Traum: Er erkennt einen Mann, woran auch immer, als Bewohner der Provinz Mazedonien. Und der spricht: Komm herüber nach Mazedonien und hilf uns!

Wobei? Womit? Das bleibt offen. Aber Paulus und seine Begleiter hören das als Ruf Gottes, die Botschaft von Jesus Christus auch auf der europäischen Seite der Ägäis zu verkündigen. Sie fühlen sich gebraucht – ohne zu wissen, wo genau es hingeht oder was sie erwartet.

Diese sogenannte „zweite Missionsreise“ des Paulus führte sie auf schnellstem Weg ins heutige Griechenland. Für diese Strecke von knapp dreihundert Kilometern, größtenteils über die Ägäis, benötigten sie für damalige Zeiten nur rekordverdächtige zwei Tage.

Ausgangspunkt ist Troas, das antike Troja in der heutigen Türkei, das heute nicht mehr existiert. Von dort fuhren sie wohl mit einem Schiff nach Neapolis. Das bedeutet „Neue Stadt“ und ist nicht mit dem heutigen Neapel zu verwechseln: Neapolis ist eine griechische Stadt an der Ägäis und heißt heute Kavalla (Kaballa).

Von dort ging es ins nah benachbarte Philippi. Hier erwartete die Gruppe ein ungewohntes Umfeld. Philippi war eine „Römische Kolonie“ und wurde damals auch „Klein Rom“ genannt: Hier galt römisches Bürgerrecht, viele ehemalige Soldaten waren hier angesiedelt, jüdische Kultur gab es kaum, eine eigene Synagoge besaß die jüdische Gemeinschaft sehr wahrscheinlich nicht.

Das würde erklären, warum Paulus und seine Begleiter am Sabbat nicht in eine Synagoge, sondern an einen vermuteten Versammlungsort unter freiem Himmel an einen Fluss gingen. Dass sich Juden an einem solchen Ort trafen, an dem Wasser für rituelle Reinigungen zur Erfüllung der Reinheitsgebote vorhanden war, lag nahe.

Und tatsächlich trafen sie dort auf eine Gruppe von Frauen. Unter ihnen Lydia: Sie war keine Jüdin, aber eine Frau, „die Gott anbetete“, wie Lukas schreibt. Sie war vielleicht eine Proselytin, was wörtlich „Hinzugekommene“ bedeutet. Jedenfalls hatte sie für sich den Gott Israels entdeckt und sich der jüdischen Gemeinschaft vor Ort angeschossen.

Hatte der Geist Gottes es Paulus und seinen Begleitern verwehrt, in Kleinasien Zuhörer zu finden, war es hier anders: Gott öffnete das Herz der Lydia. Sie begriff, dass das, was Paulus über ein Leben mit Christus zu sagen hatte, auch ihr Leben wenden konnte und ließ sich „und ihr Haus“, wie Lukas schreibt, taufen.

Das meint freilich nicht, dass irgendein Bauwerk mit Wasser begossen wurde, sondern auch die getauft wurden, die zu Lydias Hausgemeinschaft gehörten. Dabei ist eine solche antike Großfamilie nicht nur Lebens- und Erwerbsgemeinschaft,  sondern auch religiöse Gemeinschaft. Die Haltung des Hausherrn bzw. der Hausherrin gaben dabei den Ausschlag, welchem Glauben man im Haus angehörte.

Offenbar kommt es dann zwischen Lydia  einerseits und Paulus, Silas und den anderen andererseits zu einem Konflikt, der in Vers 15 eher angedeutet als wirklich beschrieben wird: „Als sie aber getauft worden war und ihr Haus, bat sie und sagte: Wenn ihr urteilt, dass ich dem Herrn treu sei, so kehrt in mein Haus ein und bleibt! Und sie nötigte uns.“

Das wird häufig als Höflichkeitsszene verstanden: Paulus ziere sich, die Gastfreundschaft anzunehmen, und lasse sich erst von der Gastgeberin dazu drängen.

Dann aber wird aus diesem doch theologischen Satz Lydias lediglich eine Höflichkeitsfloskel: „Wenn ihr urteilt, dass ich dem Herrn treu sei“ – aber was hätte das mit Höflichkeit zu tun? Vielmehr weist dieser Satz eher auf den Geschlechterkonflikt hin, den Lukas nicht ausführt, aber der in der Gesellschaft damals nahezu zwangsläufig war:

Frauen galten für viele Männer damals als Menschen zweiter Klasse. Zumindest hatten in der Gesellschaft noch viel deutlicher als heute Männer das Sagen. Lukas und auch Paulus machen in dieser Geisteshaltung keine Ausnahme: Sie fühlten sich als Männer unter Männern für Männer – Kinder (Männer) ihrer Zeit.

So werden in der Apostelgeschichte zumindest im griechischen Urtext die zahlreichen Reden fast immer mit der Formel „ihr Männer, Brüder“ eröffnet. Und dass Paulus den Frauen in den Gemeinden eher eine Nebenrolle zudenkt, lässt sich seinen Briefen überall spüren.

Doch Lydia scheint sich nicht in die zweite Reihe abschieben lassen zu wollen. Mit ihrer Taufe hat sie, wenn sie Paulus richtig verstanden hat, das Recht auf Gleichbehandlung zumindest in der Gemeinde, auch als Frau. Alles andere würde ja dem Gottesbild dieser Gemeinschaft widersprechen!

Darum will sie offenbar ihr Haus der neuen Gemeinschaft zur Verfügung stellen. Einerseits wohl als Versammlungsort, wie man es aus den weiteren Berichten über die Gemeindegründung in Philippi in der Apostelgeschichte entnehmen kann.

Andererseits sieht Lydia Paulus und seine Begleiter in Gefahr: Hier in Philippi stehen Juden unter General- Verdacht unrömischen Verhaltens.

Als Paulus und Silas gleich im Anschluss an unseren Predigttext vor die Gerichtsbarkeit der Stadt gezerrt werden, lautet der Vorwurf: „Diese Menschen, die Juden sind, verwirren ganz und gar unsere Stadt und verkündigen Gebräuche, die anzunehmen oder auszuüben uns nicht erlaubt ist, da wir Römer sind. Und die Volksmenge erhob sich zusammen gegen sie“ (V 20-22)
Also: Gegen den Widerstand der Gesellschaft, aber auch gegen den Widerstand des Paulus wird das Haus der Lydia Schutzraum, Unterkunft und Versammlungsort.

Das war offenbar nicht „unter den Teppich zu kehren, denn Lukas kommt nicht darum herum, uns diese Erkenntnis aufzuschreiben: Die Geschichte der Kirche auf europäischem Boden beginnt mit der Inspiration einer Frau.

Meine Schwestern, meine Brüder:

Mission: Etwas, zu dem man sich berufen, etwas, zu dem man sich ausgeschickt fühlt. Christliche Mission bedeutet daher, das man das, wovon einem das Herz voll ist, nicht für sich behält. Dass man anderen Menschen davon erzählt, also auch ihr Herz damit berühren will.

Druck und jede andere Form von Gewalt haben dabei in christlicher Mission nie wirklich Platz gehabt, auch wenn manch einer das damit versucht hat. Doch sie erreichen nie die Herzen anderer Menschen. Genau dort aber spielt sich Glaube ab, hier ist der Ort Gottes in den Menschen.

Mission: Also  ein Thema, das uns auch heute umtreibt. Wenn es immer weniger Menschen in Deutschland gibt, die einer Kirche die Treue halten. Wenn unser Kirchenkreis in seiner Existenz bedroht ist. Wenn unsere Gemeinde vor Ort kleiner und kleiner wird.
Gerade darum ist für mich ist diese Erzählung des Lukas eine Hoffnungsgeschichte. Eine Geschichte davon, dass Gott es ist, der seine Kirche baut – überraschend anders als der Mensch es plant.

Mit Humor:
Ich glaube, Gott hat mehr davon als wir. Denn hätte er ehrlich eine Frau statt geflunkert einen Mann im Traum des Paulus erscheinen lassen – ob Paulus davon erzählt hätte, geschwiege denn aufgebrochen wäre?

Mit Überraschungen:
Da, wo sich Menschen aus sich heraus mühten, blieb der Erfolg verwehrt. Da aber, wo sie sich intuitiv, auf ein Gefühl hin aufmachten, entstanden neue, wunderbare Wege.

Mit Einsichten:
Gottes Kirche entsteht da, wo Gott selbst es will. Wo Mensch zuhört, wo Mensch das Herz öffnet, wo Mensch sich in Bewegung setzen lässt. Ohne Ansehen von Geschlecht, Vermögen oder Können.

Natürlich bin ich traurig über jeden Misserfolg, den wir Christen heute einstecken müssen. Ich bin enttäuscht, dass sich viele meiner Mitmenschen entgehen lassen, diesen großartigen Glauben zu entdecken und zu leben, der Freude, Liebe und Freiheit ins Erdenleben bringt. Ich persönlich könnte mir niemals vorstellen, auf diese großen Geschenke in meinem Leben zu verzichten.

Doch ich bin mir auch sicher:

Wie es zu Zeiten des Lukas war,
so ist es heute und so wird es bleiben.

Die Liebe Gottes,
die Gnade unseres Herrn Jesus Christus
und die Gemeinschaft des Heiligen Geistes

sind es,
die Kirche bauen und erhalten.
Bis in die Ewigkeit.
AMEN

EG 395:
1. Vertraut den neuen Wegen,
auf die der Herr uns weist,
weil Leben heißt: sich regen,
weil Leben wandern heißt.
Seit leuchtend Gottes Bogen
am hohen Himmel stand,
sind Menschen ausgezogen
in das gelobte Land.
2. Vertraut den neuen Wegen
und wandert in die Zeit!
Gott will, dass ihr ein Segen
für seine Erde seid.
Der uns in frühen Zeiten
das Leben eingehaucht,
der wird uns dahin leiten,
wo er uns will und braucht.
3. Vertraut den neuen Wegen,
auf die uns Gott gesandt!
Er selbst kommt uns entgegen.
Die Zukunft ist sein Land.
Wer aufbricht, der kann hoffen
in Zeit und Ewigkeit.
Die Tore stehen offen.
Das Land ist hell und weit.

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